Der Deutschlandfunk meldet mit Bezug auf die Süddeutsche Zeitung: “Der designierte SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück will die Gerechtigkeit zum Thema des Bundestagswahlkampfes machen. Er sagte der ´Süddeutschen Zeitung´, die Sozialdemokraten täten gut daran, ihre Werte in den Vordergrund zu stellen – Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität. Sein Kurs sei auf gesellschaftlichen Zusammenhalt gerichtet. Man dürfe keine Spaltung in Parallelgesellschaften zulassen.”
In einer Zusammenfassung des Interviews ist auf Süddeutsche online darüber hinaus zu lesen:
“Der Kanzlerin mitsamt ihrer Partei fehlte ein Wertekompass, sie ließen zu, dass die deutsche Gesellschaft in Parallelgesellschaften zerfalle. Am unteren Ende fänden sich schlecht bezahlte Menschen, die sich ausgeschlossen fühlten und das Vertrauen in die Demokratie verlören. Am oberen Ende leisteten sich einige einen ´schnödem Individualismus´, konstatierte Steinbrück.”
Auffallend ist zunächst, das Steinbrück von “Gerechtigkeit” redet, nicht aber von sozialer Gerechtigkeit. Darüber hinaus fällt auf, dass Steinbrück, wenn er von Werten spricht – Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität – und diese wie selbstverständlich zu denen der SPD erklärt, offensichtlich bis heute nicht weiter ist, als in seiner Rede auf dem Bundesparteitag der SPD vor einem Jahr – er hinterfragt bzw. kritisiert immer noch nicht, dass die SPD mit der Agenda 2010, Hartz IV, Rentenkürzungen, Teilprivatisierungen der Sozialversicherungssysteme, hemmungsloser Deregulierung der Arbeits- und Finanzmärkte und auch dem Afghanistan-Krieg die Werte Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität mit Füßen getreten hat. Am 6. Dezember 2011 stellte sich Steinbrück auf dem SPD-Bundesparteitag voll hinter diese an seine eigenen Maßstäben gemessene “wertlose” Politik der SPD:
“Es hat über alle Jahrzehnte der deutschen Nachkriegsgeschichte bestimmt nicht an Herausforderungen gefehlt, und die SPD hat ihren Beitrag dazu geleistet, diese Herausforderungen zu meistern. Wo stünde die Bundesrepublik Deutschland heute, ohne die teilweise auch bitteren Reformen und Maßnahmen in der Regierungszeit von Gehrhard Schröder und ohne die Beiträge sozialdemokratischer Minister und Ministerinnen in der großen Koalition. Die schwarz-gelbe Bundesregierung profitiert davon, aber wir dürfen, wie ich finde, mit mehr Selbstbewusstsein über das reden und das darstellen, was uns gelungen ist in diesen letzten zehn Jahren.”
Vor diesem Hintergrund ist Steinbrück auch vollständig unglaubwürdig, wenn er im Gespräch mit der Süddeutschen der amtierenden Kanzlerin vorwirft, sie habe keinen Wertekompass:
“Der Kanzlerin mitsamt ihrer Partei fehlte ein Wertekompass, sie ließen zu, dass die deutsche Gesellschaft in Parallelgesellschaften zerfalle. Am unteren Ende fänden sich schlecht bezahlte Menschen, die sich ausgeschlossen fühlten und das Vertrauen in die Demokratie verlören.”
Dass die deutsche Gesellschaft in Parallelgesellschaften zerfallen ist, ist aber exakt und zweifellos Folge der von Steinbrück als “gelungen” bezeichneten Politik.
Deswegen wird Steinbrück, will er sich in der kurzen Zeit, die ihm bleibt, für das von ihm selbst gewählte Thema “Gerechtigkeit” glaubwürdig einsetzen, nicht darum herum kommen, seine eigene Politik grundsätzlich in Frage zu stellen. Auch in dieser Frage gilt: Wer über Gerechtigkeit – wie jedes andere Thema auch – streiten will, muss zunächst einmal definieren, was Gerechtigkeit ist. Man darf gespannt sein, ob Steinbrück in seiner Rede morgen hierzu klare Worte findet und keine, die dieses zurecht in den Mittelpunkt gerückte Anliegen weiter verwässern. So ist das Wort Gerechtigkeit aus Steinbrücks Mund zunächst einmal eine weitere reine Worthülse, von denen die Politik und die SPD nun wahrlich keine weiteren mehr brauchen.
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