Die Welt verändern – von Volker Lösch

Volker Lösch (Foto: www.schauspiel-stuttgart.de)

Am 19. Januar hat der Theaterregisseur Volker Lösch den Lessing-Preis des Freistaates Sachsen 2013 erhalten. Wirtschaft und Gesellschaft dokumentiert das Original-Manuskript seiner Rede, die er anlässlich der Verleihung des Preises während der Lessing-Tage in Kamenz gehalten hat.

 

 

die welt verändern

politik 1

rostock im sommer 1992. nach jahrelangen politischen agitationen gegen flüchtlinge und das asylrecht schreiten ostdeutsche bürger zur tat. an den pogromartigen und massivsten ausschreitungen der deutschen nachkriegsgeschichte sind rechtsextreme gewalttäter ebenso wie mehrere tausend applaudierende nachbarn des sogenannten “sonnenblumenhauses” beteiligt, in dem sich die zentrale aufnahmestelle für asylbewerber sowie wohnungen für ehemalige vietnamesische vertragsarbeiter befinden. die polizei zieht sich zeitweise komplett zurück und überlässt die in dem brennenden haus eingeschlossenen, mehr als 120 männer, frauen und kinder dem mordlustigen mob. wie durch ein wunder wird in diesen tagen niemand getötet .

theater 1

derselbe sommer, 1992. meine frau und ich ziehen nach weimar, wir sind als die ersten schauspieler aus dem westen nach der wende ans deutsche nationaltheater engagiert worden. aufgeregt und voller erwartungen auf ein anderes, ein politisches theater freuen wir uns auf die ex-ddr: die spannenden eindrücke der gastspiele von ddr-theatern 1989 bei “theater der welt” in hamburg haben uns mehr als neugierig gemacht .

nach der sommerpause und den rostocker ereignissen versuche ich, eine ensemble-versammlung einzuberufen, ich möchte diskutieren, mich mit anderen beratschlagen. vom offenkundigen desinteresse meiner kollegen lasse ich mich nicht irrititeren und schlage dem intendanten eine im sommer vorbereitete szenische lesung vor, um ein diskussionsforum in weimar zu gründen, aus dem dann aktionen zum thema hervorgehen sollen. er lehnt mit einem satz ab, den ich heute noch erinnere : “das ist sache der politik, nicht der theater”.

im verlauf der folgenden monate verstehen wir : die wende war für viele ein so radikaler lebenseinschnitt, dass für kunst und politik keine zeit bleibt. ratlosigkeit und gespensterruhe allenorten, da kann brennen was will. wir haben uns also genau den falschen ort ausgesucht .

politik 2

20 jahre später,  sommer 2012. 10 neonazi-morde sind aufgedeckt worden, politik und aufsichtsbehörden zum alltag übergegangen. es gibt immer wieder kleine aufregungen, sobald ein neues detail über das unfassbare versagen der sicherheitsbehörden ans licht kommt, alles in allem bleibt es aber ruhig, ganz im gegenteil zu den siebzigern, als die RAF-morde die republik aufwühlten. es gibt lediglich einen expertendiskurs, der allgegenwärtige rassismus ist kein thema. es gibt keine neue sensibilität, keine neuen anweisungen der behörden, gegen nazi-gewalt vehementer vorzugehen, keine neuen prioritäten in der politik, keine neue hilfe, keine mediale aufmerksamkeit für diejenigen, die sich dem braunen terror entgegenstellen. man hat das gefühl, dass die morde der NSU nichts mit den alltäglichen gewalttätigkeiten gegen ausländer in deutschland zu tun haben. man regt sich über behördenschlampereien auf, aber nicht über rassismus.

theater 2

in demselben sommer, 2012. im ruhrgebiet herrscht die höchste jugendarbeitslosigkeit deutschlands. darüber regt sich auch kaum jemand auf. wir, ein team von seit vielen jahren gemeinsam aktiven theaterleuten, arbeiten am schauspiel essen an einer bühnenadaption der fernsehserie “rote erde”. es sind dies der chorleiter bernd freytag, mit dem ich seit 10 jahren zusammenarbeite, die dramaturgin beate seidel, seit 12 jahren im team, die ausstatterin carola reuther, im 14.gemeinsamen arbeitsjahr und die neu hinzugekommene ausstatterin sarah rossberg. wir verhandeln in essen, wie so oft, die lebensumstände von menschen, denen es nicht leicht gemacht wird in unserer gesellschaft, versuchen ihre geschichten in den jeweiligen repräsentativen stoff einzuarbeiten, sie selber als spieler und sprecher ihres materials auf die bühne zu bekommen. in diesem fall haben wir 12 arbeitslose junge männer eingeladen, die uns über das heutige ruhrgebiet und ihre prekäre arbeitssituation berichten. ihre erzählungen sind ernüchternd : trotz ausbildung und großem willen haben sie kaum einen platz in unserem system. die öffentliche befragung unseres lohnnarbeitsbegriffes, “nur wer arbeitet darf auch teilhaben”, müsste seit mindestens 20 jahren erfolgen. stattdessen erfahren wir in unseren projekten : für die, die draußen sind, gibts immer weniger interesse. und jetzt sind sogar viele der ganz jungen nicht mehr gefragt. das ruhrgebiet wird bereits als armenhaus der republik bezeichnet, wer kann, geht weg.

politik 3

vor zwanzig jahren bis heute. in der folge der ereignisse von rostock, hat sich ein nahezu ausländerfreies ostdeutschland konstituiert. und es hat sich bis heute so erhalten. die in rostock ausgesprochenen offenen drohungen wirken fort bis ins jetzt. lichtenhagen war die eröffnung von zwei jahrzehnten rechtsextremer gewalt. jeder migrant, der sich über deutschland informiert, erfährt im internet oder über bekannte, dass es besser ist, nicht nach ostdeutschland zu kommen, ausgenommen nach berlin. das ist der größte erfolg der neonazis : unter den migranten gilt die ex-ddr als no-go-area. auf den straßen der dörfer, aber auch der beiden sächsischen metropolen sieht man nur etwa ein prozent nicht-weiße mitbürgerinnen und mitbürger. und dennoch gibt es tausende bürgerinnen und bürger, die sich gegen diese entwicklung stellen, den rechtsextremismus bekämpfen. manche bekommen dafür ihr auto demoliert, andere werden beschimpft und bedroht, manchmal auch tätlich angegriffen. aber sie machen weiter. sie müssen weitermachen. es ist ihnen ein existentielles bedürfnis .

theater 3

heute vor zwanzig jahren. ich halte es nicht mehr aus. ich muss es selber in die hand nehmen. die arbeiten, an denen ich als schauspieler fünf lange jahre beteiligt war und bin, kreisen in immergleichen kunstdiskursen um sich selbst. ich verspüre dieses naive, klare, zugleich pathetische und oft nur hinter vorgehaltener hand formulierte anliegen – denn wir theaterleute wollen ja intellektuell, abgeklärt und gleichzeitig innovativ sein : ich will die welt verändern. der veränderungswille ist der wohl größte arbeitsantrieb im theater, und der gerechtigkeitssinn der größte motivator. wer das unrecht nicht erträgt, der kann nicht anders als sich einmischen, der muss sich zu gesellschaftlichen fragen positionieren. ich beende also mein schauspielerdasein und gründe in zürich ein freie theatergruppe, beantrage gelder und plane mein erstes projekt.

70 inszenierungen später. in den letzten 20 jahren haben wir in unterschiedlichen team-zusammensetzungen mehrfach mit hartz IV empfängern gearbeitet, deutsch-türkischen frauen eine hauptrolle gegeben, mit strafgefangenen “berlin- alexanderplatz” inszeniert, mit jugendlichen verschiedenen alters und unterschiedlicher herkunft theaterabende erfunden, ältere arbeitslose in klassische stoffe integriert, bürgerchöre in diversen städten gegründet, afghanistan-veteranen und banker, arme und reiche interviewt, bürgerinnen und bürger unterschiedlichster sozialer herkunft in viele projekte, immer gemeinsam mit schauspiel-profis, eingebunden.

an diesen arbeiten waren häufig – außer den vorher genannten – cary gayler als ausstatterin und stefan schnabel als dramaturg beteiligt, ferner wurden in einzelne projekte eingebunden : heike müller-merten, christoph lepschy, jörg bochow, gesine schmidt und maja zade als dramaturginnen und dramaturgen. neben vielen anderen intendanten waren holk freytag in wuppertal und dresden und hasko weber in stuttgart die prägenden. mit diesen beiden haben wir soviele produktionen herausgebracht, dass man sie als geistige paten bezeichnen kann. schauspieler und schauspielerinnen wie sebastian nakajew, sebastian kowski oder katharina ortmayr stehen für die vielen kollegen und kolleginnen, die neben ihres unverzichtbaren künstlerischen und sozialen engagements auch diese in jeglicher hinsicht anstrengende arbeitsform ausgehalten haben.

und immer mal wieder werden wir gefragt : ob man denn heutzutage im theater noch an aufklärung glaube; eine frage, die mit einem gewissen unterton gestellt wird, so als ob man als erwachsener noch windeln braucht. und je länger ich arbeite und je älter ich werde, desto leichter fällt mir die antwort : ja natürlich, was denn sonst ! wir wollen mit unseren arbeiten, ich will mit meinen arbeiten die welt verändern ! das war vor 20 jahren so, und das ist heute noch so.

politik 4

immer noch vor 20 jahren. auch die politik will die welt verändern und zieht eine fatale konsequenz aus den ereinissen von rostock : sie verschärft das asylrecht bis hin zu seiner abschaffung. sie bestätigt die fremdenfeinde. das wesen unseres bis heute kaum veränderten asylrechts ist eine schande für ein so reiches, aufgeklärtes und mit sovielen möglichkeiten ausgestattetes land. politiker, sicherheitsbehörden, wir bürger unternehmen mehrheitlich nichts dagegen. wir nehmen diesen zustand hin. es hat sich in zwanzig jahren nichts substantielles verändert.

wo sind die unabhängigen kommissionen, wo ist eine bürgergesellschaft, die den rechtsextremismus seit den 90er jahren aufarbeitet ? wo sind die prominenten politiker, die zusammenhänge herstellen und benennen ? wo sind deutliche ansätze spürbar, dass sich dieses klima des alltäglichen hasses zum positiven verändert ? wir bräuchten dringend eine der breiten öffentlichkeit vermittelte aufarbeitung des historisch-soziologischen kontextes des rassismus in deutschland – seit den 90ern bis heute. denn seit 1990 wurden mindestens 150 menschen gesamtdeutschlandweit todesopfer von rechter gewalt, eine unglaubliche zahl.

theater 4

in den letzten zwanzig jahren. in vielen theatern werden abende produziert, die sich zu rechtsextremismus, rassismus und fremdenfeindlichkeit deutlich positionieren. 2007 haben wir am staatsschauspiel dresden “woyzeck” herausgebracht. in unserer vielleicht aufwendigsten recherchearbeit überhaupt wurden über 500 dresdner theaterzuschauer befragt, um den extremismus, der laut soziologen in der mitte der gesellschaft wurzelt, anhand unseres theaterpublikums zu untersuchen. die teilweise haarsträubenden texte wurden in die inszenierung eingearbeitet, so dass sie an ihre autoren, vermittelt durch unsere arbeit, direkt zurückgegeben wurden. tausende haben “woyzeck” in dresden besucht. aber erreicht haben wir damit offensichtlich nichts. wir haben es nicht geschafft, mit dieser aufwendigen und künstlerisch erfolgreichen arbeit das klima in dresden entscheidend zu verändern. und an unseren eigenen ansprüchen gemessen : wenn theater die welt verändern soll, dann müssen sich erfolge auch in gesellschaftlichen veränderungen manifestieren !

aber wenn wir die welt um uns herum betrachten, dann sehen wir : unsere arbeiten waren politisch wirkungslos. unser fluch ist, dass diese wirkungslosigkeit nur in einer größeren wirksamkeit aufgehoben werden kann : der gesellschaftlichen. politische wirkung erzielen wir, indem wir gesellschaftlichen kräften, die veränderungen bewirken können, zur wirksamkeit verhelfen, und das in unterhaltsamer, theatralischer weise. wenn es uns aber nicht gelingt, mit theater das bewusstsein so zu verändern, dass langfrisitig auch konsequenzen für gemeinschaften daraus erwachsen, dann hatte der berühmte regisseur erwin piscator wohl recht : “revolutionäres theater kann nur für ein revolutionäres publikum gemacht werden”.

die vielen versuche, die inzestuöse beziehung zwischen routiniertem bildungsbürgertum, welches vorgibt, bereits alles zu wissen, und oft selbstgefälligen theaterleuten, die außer an sich selber an wenig glauben,  mit der einbindung von sozialen gruppen, mit laien, mit nicht-theaterleuten zu durchbrechen, hat nur punktuell und im persönlichen wirkung erzielt.

politik 5

woanders klappt das besser. vor 20 jahren wurde der bau von stuttgart21 beschlossen. die gedanken über die wirkungslosigkeit von theater schmerzen umso mehr, da ich seit fast 3 jahren im widerstand gegen “stuttgart21″ ganz unmittelbar das gegenteil erfahre : die  proteste gegen das unsinnige bahnprojekt haben inzwischen so viel wirkung entfaltet, dass sämtliche korruptionsbemühungen und betrugsabsichten, fehlentwicklungen und kostenlügen sofort auffliegen. vor ein paar jahren hätte man dieses projekt noch ohne nennenswerten widerstand im hintergrund weiterbetrieben. seit den protesten wird etwas vergleichbares mit einem großprojekt nie mehr möglich sein. tatsache ist, dass S21 heute kurz vor seinem ende steht. und der grund dafür sind vor allem die vielen bürgerinnen und bürger, die politisch konstant aktiv sind. viele demonstrieren zum ersten mal in ihrem leben, der protest ist parteienübergreifend. er hat stuttgart radikal verändert. er hat bisher eine landesregierung zu fall gebracht, einen neuen oberbürgermeister installiert und eine bundesweite debatte über demokratie angestoßen. mehr wirkung kann man in dieser kurzen zeitspanne nicht erzielen. straßenpolitik ist natürlich kein theater, aber beide bereiche haben den anspruch, öffentlich wahrgenommen zu werden, auswirkungen zu haben.

wir müssen mit unseren theaterarbeiten wenigstens ein bruchteil dessen hinbekommen, was da geschafft wurde : andere als die immergleichen ansprechen, politikverdrossenheit abbauen, lust auf politik machen, debatten über den jeweiligen abend hinaus anschieben, verantwortung für unsere demokratie ganz unmittelbar übernehmen und mut zur eigeninitiative machen  ! ein im weitesten sinne politisches umfeld installieren. heute, in diesem moment findet in stuttgart gerade ein konvent zur gründung eines bürger/innen-parlaments statt. würde man einem theater so etwas überhaupt zutrauen ?

theater 5

20 jahre streit. ist das theater der richtige ort für politik ? viele sagen nein. ich entgegne : ja natürlich, welcher ort soll es denn sonst sein ? die stadttheater werden immer noch ausreichend subventioniert, sie sind oft städtebauliches zentrum, sie haben eine perfekte infrastruktur. und schauspieler, dramaturgen, bühnentechniker, regisseure können mit ihrem handwerk inhalte so professionell und unterhaltsam rüberbringen wie niemand sonst ! die theater können mehr für ihre städte sein: geistiger und kultureller, vor allem aber politischer dreh-und angelpunkt des jeweiligen gemeinwesens. und ganz im zentrum steht immer die aufführungspraxis : die dem anspruch genügen muss, alle fragen, alle themen, alle wirklichkeiten der jeweiligen stadt reflektieren zu wollen – in unterschiedlichsten arbeiten von unterschiedlichsten künstlern. politisches theater eben.

der deutsche theateralltag sieht allerdings anders aus : es scheint, als ob die theaterkunst derzeit nicht politischer, sondern sakraler wird. es wird nach wie vor behauptet, dass in den zu inszenierenden texten bereits “alles da sei”, dass sich die botschaft des materials schon von selbst offenbare. diese sicht auf theater, dieses “es steht ja alles da”-diktum, welches die lektüre und textarbeit ohne deutung, ohne gespräche, ohne haltung einfordert, schottet ab und macht politisch sprachlos : dann bleibt nämlich nur noch das reden über religiöse erfahrungen, überwältigende emotionen, tolle ensembles und der schönen stimmung auf den proben übrig. man glaubt im deutschen theater größtenteils immer noch an die ausschließliche evidenz der texte, an eine kunst, die sich aus sich selbst heraus erklärt. diese dem theater innewohnende tendez zur restauration, der wertkonservatismus auf deutschen bühnen hat natürlich auch mit einer verunsicherten gesellschaft zu tun, deren zukunft so ungewiss ist wie nie zuvor. aber die konsequenz daraus darf nicht sein, dass wir uns abkapseln, und die eigene indifferenz abbilden. theater muss mutiger, muss kühner, muss dreister, muss risikofreudiger, muss innovativer sein als das träge drumherum. es muss den anspruch haben, geistige mauern einzureißen und veränderung zu bewirken, sonst ist es totes theater. das war vor 20 jahren so, und das ist es heute umso mehr.

politik 6

ostdeutschland, 2033. heute in 20 jahren. die npd ist aus allen kreis-und landtagen verschwunden, die partei hat sich aufgelöst. man sieht keine nazis mehr im straßenbild. eine form von bürgernahem, direktdemokratischem sozialismus ist von der mehrheit der wählerinnen und wählern als politisches system installiert worden. in einigen landkreisen wurde erfolgreich mit dem modell des bürgergelds experimentiert, flächendeckende armut ist reduziert worden, große einkommensunterschiede sind nahezu aufgehoben. die chance wurde genutzt, das unendlich reiche potential der 2012 nicht genutzten kreativen energien der arbeitslosen und mutlosen zu aktivieren. ostdeutschland ist wegen seinen attraktiven arbeitsangeboten und seinem mut zu politischen reformen zu einem beliebten lebensort geworden, frustrierte westler ziehen in den osten.

der ausländeranteil ist deutlich angestiegen, es herrscht größtenteils ein offenes klima mit wenig rassismus, unter anderem auch deshalb, da man es geschafft hat, arbeit gleichmäßiger zu verteilen, und somit wieder mehr menschen von selbst verdientem geld leben können. die allgemeine lebenszufriedenheit ist gestiegen.

die stadttheater sind in den meisten kommunen eng in den lokalen politischen diskurs eingebunden. neben den aufführungen bieten sie platz für neu gegründete bürgerparlamente, alle direktdemokratischen initiativen gehen von dort aus. ostdeutsche theater werden inzwischen höher subventioniert als westdeutsche. er werden keine gemischtwarenläden-spielpläne mehr aufgestellt, ambitionierte kunstübungen als inszenierungen sind verpönt. politker haben auf die nominierung von theaterleitern keinen einfluss, interessenten werden öffentlich vorgestellt und gewählt. die theaterstrukturen haben sich enthierarchisiert. man arbeitet mehr in projektzusammenhängen, weniger im routinierten dauereinsatz. politisch desinteressierte üben andere berufe als den theaterberuf aus. der lessingpreis 2033 geht an alle ostdeutschen theater, die begründung der jury lautet : “sie haben aktiv die führungsrolle im politischen diskurs übernommen, von ihnen gingen viele den rahmen des herkömmlichen sprengende inszenierungen aus, sie betreiben eine radikale einbindung aller sozialer gruppen.” der hohle slogan des bühnenvereins : “theater muss sein” ergibt zum ersten mal einen sinn. die stadttheater sind 2033 das geworden, was sie vorher immer nur vorgegeben haben : geistige, politische und künstlerische zentren der jeweiligen städte. wirkliche urbane treffpunkte ! theater sind zum ersten mal unersätzlich geworden. das hätten wir 2012 nie gedacht : es hat sich also doch gelohnt, weiterzumachen !

theater 6

weimar 2033, im selben jahr. in deutschlands immer noch einzigem altersheim für künstler sitzen weber, freytag und der andere freytag, seidel, schnabel und lösch zusammen und wetten, wer als nächstes dazustößt. wird es die gayler, oder die noch etwas jüngere reuther sein ? beim abendlichen jever fabulieren sie über ihre erfolge, die sich angesichts der allgemeinen politisierung der theaterszene rückblickend allerdings bescheiden ausnehmen.

“wisst ihr noch, wie wir damals in stuttgart den algerischen jungdealer erfolgreich an die staatliche schauspielschule vermittelt haben ? könnt ihr euch daran erinnern, wie viele durch unsere arbeiten neue kraft bekommen, dass einige gar ihr leben umgekrempelt haben ? und die reichensteuerdebatte im hamburger senat, angestoßen durch unsere inszenierung ! die vielen fruchtbaren tumulte und aufreger, die wir durch inhaltliche provokationen verursacht haben ! zufriedenes rülpsen. nach weiteren 25 bier erzählt lösch seine lieblingsanekdote, vom entscheidenden moment in seiner regiekarriere .

dresden 2004, endproben in meiner “weber”-inszenierung von gerhart hauptmann, 2.hauptprobe, pause. in 10 minuten geht es weiter. ich sitze mit holk freytag, meinem intendanten, im oberen foyer. obwohl er die textfassung gelesen hat, ist er entsetzt. “diese arbeit wird extreme konsequenzen haben. öffentliche und juristische”. sagt er. ich merke, er ist hin und hergerissen. ihm gefällt das, was er gesehen hat, sein intendantengewissen aber flüstert ihm ein : “das kannst du nicht verantworten, das musst du verhindern”. ich sage : “ich habe 10 wochen mit menschen aus dresden gearbeitet, ihnen versprochen, dass ihre persönliche sicht der dinge auf diese bühne gelangt. wenn ich davon auch nur einen satz zurücknehme, mache ich mich und unser gesamtes unternehmen unglaubwürdig. außerdem gehts hier um die wahrheit, und deshalb muss es rauskommen”. er erwidert : “das wird einen fürchterlichen skandal geben”. ich entgegne : “es wird nichts passieren. lassen sie es uns machen ! wir meistern alles, solange wir gemeinsam dahinter stehen”. pause. er steht auf, und murmelt im weggehen so etwas wie “na dann machen sies halt”. was den skandal betrifft, hat er recht behalten. der rest ist theatergeschichte.

liebe frau von schorlemer, lieber herr dantz, liebe mitpreisträgerinnen, liebe juroren, liebe laudatoren, liebe freundinnen und freunde, liebe anwesende !

ohne die genannten und auch nicht genannten kolleginnen und kollegen, also auch ohne die, die ich vergessen habe zu erwähnen, bis hin zu den jeweiligen hospitantinnen und hospitanten, die oft eine herausragende arbeit leisten, wären unsere ganz besonderen theaterarbeiten nicht möglich gewesen.

ohne euch gäbe es sie schlicht nicht, und ohne euch gäbe es auch keinen lessingpreis für volker lösch.

insofern ist diese auszeichnung eine anerkennung für unsere gemeinsame arbeit : meine hochachtung und mein herzlicher dank euch allen !

ich bedanke mich sehr für den lessingpreises,

er ist uns ansporn – und gleichzeitig verpflichtung.

und ich drohe hiermit feierlich :

wir machen weiter!

Die Laudatio des Intendanten des Schauspiel Stuttgart, Hasko Weber, zur Verleihung des Lessing-Preises 2013 an Volker Lösch

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