Eurokrise: Wenn Steinbrück jetzt noch einen, den entscheidenden Schritt wagt, ist er tatsächlich fähig zum Kanzler

Kann er es doch? Nun gut, jeder, der einmal im Politikbetrieb drin war, weiß, dass ein Politiker zumeist nur so gut ist, wie sein Referent. Aber wir nehmen einfach einmal an, dass Steinbrück den folgenden Text, auf den wir uns beziehen, selbst verfasst hat. Und selbst wenn nicht – abgesegnet wird er ihn wohl haben, nach all den Fetttrögen in die er zuvor gefallen ist.

Die Welt hat zum Wochenende zwei Texte zur Eurokrise veröffentlicht, einen vom jetzigen Bundesfinanzminister, Wolfgang Schäuble, und einen vom ehemaligen Bundesfinanzminister und jetzigen SPD-Kanzlerkandidaten, Peer Steinbrück. Die Texte könnten – und das ist nun wirklich einmal erfreulich – unterschiedlicher nicht sein. Nur in einem Punkt sind sie identisch. Wenn Steinbrück in diesem Punkt, auf den wir weiter unten eingehen werden, noch einen, den entscheidenden Schritt voran macht, würde er in der Tat in einem zentralen, im wichtigsten, alles umspannenden Politikfeld eine wirkliche Alternative zur Bundesregierung bilden. Dieser Schritt setzt aber, gemessen an den bisherigen Positionen Steinbrücks, so viel Lernbereitschaft voraus, dass wir uns nicht zu früh freuen bzw. den heutigen Tag nicht vor dem Wahlabend loben sollten.

Doch zunächst zu dem Tenor des Textes von Steinbrück, zu dem wir ihn als nun wirklich schonungsloser Begleiter seiner Politik und Person ganz aufrichtig beglückwünschen wollen: Steinbrück stellt überzeugend und, mit Ausnahme weniger Formulierungen, ohne Steinbrücksches Wortgehabe, die soziale Not in Europa in den Mittelpunkt seines Beitrags. Hierzu stellt er zunächst eine wesentliche Tatsache heraus, die der Bundesregierung völlig abgeht. Steinbrück:

“Die Situation in den Krisenländern Spanien, Griechenland, Italien oder Portugal ist keineswegs besser geworden, sondern sie wird seit drei Jahren immer schlechter.”

Wir haben auf diesen Sachverhalt immer wieder kritisch hingewiesen und dies unter anderem mit diesen Graphiken veranschaulicht:

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in der Eurozone, den USA und Japan seit 2007 (=100) (Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.)

Entwicklung der Arbeitslosenquoten seit 2007 (=100) (Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.)

Steinbrück weiter:

“Wir haben es mittlerweile in ganz Europa mit einer jungen Generation zu tun, die sich als verloren betrachtet und derzeit keine Hoffnung mehr in Europa setzt.

Viele der jungen Griechen, Spanier, Portugiesen oder Italiener sind hervorragend ausgebildet. Aber sie verlieren die Hoffnung auf eine gute Zukunft und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen ihrer Länder. Europa erscheint ihnen nicht als Perspektive, sondern als Ursache ihrer Probleme.

Das ist fatal, und die nackten Zahlen sind erschreckend. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt heute im Durchschnitt der Europäischen Union bei 23 Prozent. Das sind gut acht Millionen arbeitslose junge Menschen. Vor Ausbruch der Krise 2007 lag die Quote in keinem einzigen Land über 25 Prozent.

Heute ist sie in sieben Ländern höher als 25 Prozent, in vier Ländern höher als 30 Prozent und in zwei Ländern höher als 50 Prozent – in Griechenland und Spanien. In einer Studie geht die Unternehmensberatung Ernst & Young davon aus, dass im Jahr 2013 20 Millionen Menschen in Europa arbeitslos sein werden, vier Millionen mehr als 2010. Was diese Zahlen für die demokratische Substanz Europas, seine Strahl- und Anziehungskraft heißen, ist leicht ausrechenbar.

Es wird – und dies ist der Kern des zu lösenden Dilemmas – immer klarer, dass die alleinige Konzentration auf Fehlentwicklung bei Haushaltskennzahlen die Krise nicht beenden wird. Dieses Ungleichgewicht im Krisenmanagement muss behoben werden, weil der Schaden für die europäische Demokratie und den sozialen Frieden in Europa bereits heute immens ist.”

So klar die Gefahren von sozialen Verwerfungen für die Demokratie anzusprechen und mit Zahlen nachzuzeichnen und die “deutsche Überheblichkeit” (Steinbrück) in diesem Kontext anzuprangern, ist leider keineswegs selbstverständlich. Schäuble, auf den wir weiter unten noch eingehen werden, spart diesen Komplex vollständig aus. Und auch die SPD hat in der Vergangenheit nicht an sozialer Kälte und mangelndem Problembewusstsein gespart. Man denke nur zurück an die Äußerungen der SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Wenn dieses Problembewusstsein, das Steinbrück hier zeigt, nun auch noch mit ökonomischen Sachverstand fundiert würde, was leider auch in diesem Beitrag in der entscheidenden Frage nicht der Fall ist, dann hätte der Wähler in der Tat eine Alternative bei der anstehenden Bundestagswahl. Denn würde Steinbrück die entscheidende ökonomische Frage glaubwürdig thematisieren, hätte dies auch und gerade für die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik drastische Konsequenzen – Konsequenzen, die einem Sozialdemokraten gut zu Gesicht stünden.

Immerhin streift Steinbrück diese entscheidende ökonomische Ursache für die Eurokrise – und immerhin begreift er diese auch endlich als “Krise des Euro”, auch das ein Fortschritt; handelte es sich für Steinbrück bei der Eurokrise doch bis zuletzt explizit “nicht um eine Eurokrise, sondern um eine Refinanzierungskrise einzelner Staaten“! Steinbrück benennt tatsächlich “das Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit in Europa” als zentrales Problem. Und er schreibt von einer “Behebung” dieser Ursache, die “auf der Agenda 2013″ stehen müsse. Wie er allerdings auf dieses Problem eingeht, zeigt, dass er immer noch nicht verstanden hat oder nicht verstehen will:

Die Währungsunion, so Steinbrück, wäre “mit ihrem Instrumentarium bis 2009 nicht in der Lage (gewesen), realökonomische Fehlentwicklungen – das Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit in Europa – zu erkennen und zu beheben.”

Das ist grober Unfug. Wie sehr auseinanderlaufende nationale Preissteigerungsraten auf Basis auseinanderlaufender Lohnstückkosten als deren maßgeblicher Bestimmungsfaktor eine Währungsunion untergraben und schließlich zerstören müssen, war schon beim Vorgänger des Euro, dem Europäischen Währungssystem (EWS), überdeutlich, spätestens, als es in die Krise geriet. Im EWS waren die beteiligten Währungen in einer engen Bandbreite miteinander verbunden. Da die auseinandergelaufenen nationalen Preissteigerungsraten (Wettbewerbsfähigkeit) diese Bandbreite aber bei weitem überschritten, sind Italien und England schließlich ausgeschieden und haben entsprechend der akkumulierten Preisdifferenzen abgewertet und darüber ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder hergestellt (ich meine mich zu erinnern, dass die Abwertungen mit rund 25 Prozent ziemlich exakt der zuvor akkumulierten, durch das Auseinanderlaufen der Preissteigerungsraten und den diesen zugrundeliegenden Lohnstückkosten entsprachen). Die Bandbreiten für die verbliebenen Währungen wurden auf +/- 15 Prozent von zuvor +/- 2,25 Prozent erweitert. Der gleiche Problemzusammenhang wurde berühmt durch die Asienkrise, wo dieser durch die Dollaranbindung virulent wurde, später dann in Argentinien. Ergebnis dieses Wirkungszusammenhangs waren immer hohe Leistungsbilanzdefizite und ein entsprechender Anstieg der Gesamtverschuldung der betroffenen Volkswirtschaften. Währungsspekulationen gegen diese waren die Folge.

Dass man sich bei der Europäischen Währungsunion auf ein gemeinsames Inflationsziel verständigt und dieses vertraglich vereinbart hat, lässt überhaupt keinen Zweifel darüber zu, dass man sich über das Problem klar war und, anders als Steinbrück meint, auch das Instrumentarium gekannt hat, dieses Inflationsziel einzuhalten. Dass er das als studierter Volkswirt und ehemaliger Finanzminister nicht weiß, ist allerdings ein fachliches Armutszeugnis. Das “Instrumentarium” kann nur sein, dass die nominalen gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten Jahr für Jahr um nahezu zwei Prozent steigen, um das vertraglich vereinbarte Inflationsziel von nahe unter zwei Prozent einzuhalten. Frankreich hat dies als einzige große Volkswirtschaft in der Eurozone über den gesamten Zeitraum des Bestehens der Währungsunion getan – Deutschland aber hat dieses massiv unterlaufen und so an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. Per Vertragsbruch. Dafür zeichnet wesentich die Agenda 2010 verantwortlich, weil sie über einen langen Zeitraum die Lohnentwicklung unter die Produktivitätsentwicklung gedrückt hat.

Wenn Steinbrück diesen Schritt nicht nachvollzieht – oder ihn widerlegt, was ihm schwerlich gelingen kann, ohne die ökonomische Logik einer Währungsunion außer Kraft zu setzen – ist alles für die Katz. Mit dieser Einsicht steht und fällt die politische Alternative zur Politik der Bundesregierung – und, man kommt nicht umhin, dies zu benennen, der dieser vorausgegangenen Politik der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder wie auch der schwarz-roten Bundesregierung unter Angela Merkel und Steinbrück als Finanzminister. Das zu tun, soviel Realitätssinn muss man beibehalten, hieße für Steinbrück, aber nicht nur für ihn, über einen großen, vielleicht zu großen Schatten springen.

Dass er davon noch sehr weit entfernt ist, zeigt sein Schlussplädoyer im Beitrag:

“Es braucht vielmehr ein Deutschland, das sich mit seiner ökonomischen Stärke und in europäischer Verantwortung für den Erhalt eines solidarischen Kontinents einsetzt. Das ist nicht zuletzt in einem nationalen Interesse, weil es dieser exportgetriebenen deutschen Wirtschaft samt ihren Arbeitsplätzen immer nur so gut geht, wie es unseren Nachbarn gut geht.”

Steinbrück hält unverdrossen und unmissverständlich an der “exportgetriebenen deutschen Wirtschaft” fest. Ein “solidarischer Kontinent” aus Eigennutz und aus “nationalem Interesse” wird aber so nicht funktionieren; das ist ein Widerspruch in sich. Funktionieren wird es nur, wenn jedes Land sich an die einfache Regel hält, die da heißt, den verteilungsneutralen Spielraum bei der Lohnentwicklung auszuschöpfen und so das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank einzuhalten. Auch Deutschland. Darüber hinaus gibt es immer noch genügend andere Probleme zu lösen. Ohne dieses aber wird eine Währungsunion zur Makulatur.

Steinbrück macht in seinem Beitrag den “einseitigen Kurs der Austerität” und dessen soziale und ökonomische Folgen für Griechenland wirklich geradezu einfühlsam konkret und sichtbar:

“Der einseitige Kurs der Austerität hat Griechenland in eine gesellschaftliche Depression gestürzt. Und das ist gefährlich. Die Selbstmordrate in Griechenland hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt. Hochschwangere Frauen eilen von einem Krankenhaus zum anderen beim Versuch, jemanden zu finden, der ihnen ohne Krankenversicherung, die sie sich nicht mehr leisten können, dabei hilft, ihre Kinder zur Welt zu bringen.

Wer sonst ins Krankenhaus kommt, muss Bettwäsche selbst mitbringen, und seit Neuestem behandeln Ärzte nur noch gegen Bargeld. Es fehlt an medizinischem Gerät wie in einem Entwicklungsland, und die EU-Kommission warnt angesichts der angespannten hygienischen Lage in den Krankenhäusern vor der Gefahr von Infektionskrankheiten.”

Er muss diese völlig zurecht in den Mittelpunkt seiner sozialen Betrachtung der Eurokrise gerückten Zwänge aber auch im Kontext der insbesondere mit der Agenda 2010 praktizierten Politik sehen. Die über die von Steinbrück kritisierte Austerität, die drastischen Ausgabenkürzungen und Massenentlassungen, finden ja im Namen der Wettbewerbsfähigkeit statt. Der Wettbewerbsdruck aber geht zu einem wesentlichen Teil von Deutschland aus, weil es eben eine Austerität über Jahre verfolgt hat, die nun andere Länder im Schnelldurchlauf nachzuvollziehen suchen. Selbst die konservative OECD hat jüngst darauf verwiesen, was Deutschlands Aufgabe wäre:

“Der Ausgleichsprozess setzt Veränderungen bei der Binnennachfrage und den realen Wechselkursen voraus, sowohl in Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten, als auch in Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen…Beispielsweise wäre in Deutschland ein 23%iger Anstieg der relativen Lohnstückkosten im Vergleich zu den übrigen Ländern des Euroraums erforderlich, um das Niveau der relativen Wettbewerbsfähigkeit von 1998 wieder herzustellen.”

Wenn Steinbrück es ernst meint, muss er sich dieses Problems annehmen. Die Eurokrise lässt sich ohne eine Überwindung der deutschen Krise, die die Sozialdemokraten maßgeblich verursacht haben, nicht überwinden. Steinbrück könnte diese tiefe Scharte auswetzen. Kann er´s? Wir werden sehen. Über Steinbrück´s steile These, dass diese Krise “gerade uns Deutsche” Geld koste und seinen diesbezüglichen Zahlenspielereien wie auch seiner Annahme über einen erneuten Schuldenschnitt für Griechenland gehen wir in diesem Fall einmal großzügig hinweg, weil diese Punkte gegenüber dem herausgestellten Problemkreis vernachlässigbar sind.

Nun noch kurz zu Schäuble…

…Schäuble kommt, anders als Steinbrück, über institutionelles Gelaber überhaupt nicht hinaus. Mit keinem Wort nimmt er sich der sozialen Verwerfungen an, die sein Politikkonzept über die Menschen gebracht hat. Das Wort sozial taucht kein einziges Mal in seinem Beitrag überhaupt auf! Das trägt schon soziopathische Züge.

Anders als Steinbrück meint Schäuble außerdem mit der “Entwicklung wichtiger ökonomischer Kennzahlen” belegen zu können, “dass wir auf dem richtigen Weg sind.” Geeignete Kennzahlen nennt er aber nicht. Schäuble guckt tatsächlich weiterhin stur auf Budgetzahlen und entblödet sich dabei auch noch mit “durchschnittlichen Budgetdefiziten” für die Eurozone zu “argumentieren”:

“Auch im internationalen Vergleich steht die Euro-Zone heute besser da: Ihr durchschnittliches Budgetdefizit verringerte sich zwischen 2009 und 2012 um rund die Hälfte von 6,3 auf 3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – und dies im starken Kontrast zu den Vereinigten Staaten und zu Japan, wo mehr als doppelt so viele Schulden aufgenommen werden mussten als in den Euro-Ländern. All dies zeigt: Es geht wieder aufwärts in Europa. Unsere Reformen greifen. Unsere Defizite sinken.”

Dass Deutschland massiv über seine Exporte davon profitiert, dass beispielsweise die Vereinigten Staaten ihre Verantwortung für ihre Volkswirtschaft und die Weltwirtschaft wahrnehmen und damit mehr Nachfrage auch auf Deutschland richten, kommt diesem juristischen Einfaltspinsel nicht in den Sinn.

Auch Schäuble thematisiert tatsächlich die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte, allerdings mit einem noch größeren Unverständnis als Steinbrück:

“Die Fakten in der Euro-Zone sprechen für sich: Die Haushaltsdefizite sinken. Die Wettbewerbsfähigkeit steigt. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte gehen zurück. Verbesserungen bei der Wettbewerbsfähigkeit erleben wir vor allem in Griechenland und in Irland. Dort sind die Lohnstückkosten seit 2009 um jeweils mehr als zehn Prozent gesunken. In Spanien und Portugal gingen sie um sechs Prozent zurück.

Bei den nationalen Leistungsbilanzen halbierte sich in den vergangenen vier Jahren beinahe der Abstand zwischen Deutschland mit dem höchsten Überschuss und Griechenland mit dem größten Defizit.”

In seiner Aussage zur Leistungsbilanzentwicklung Deutschlands und Griechenlands zeigt sich die ganze zynische Verlogenheit oder die nur noch grotesk zu nennende Unwissenheit des Bundesfinanzministers. Zum einen ist der Abstand der Leistungsbilanzsalden zwischen Deutschland und Griechenland weit davon entfernt, sich halbiert zu haben. Er hat sich vergrößert! Noch entscheidender aber ist, dass zwar das griechische Leistungsbilanzdefizit deutlich zurückgegangen ist, vor allem deswegen, weil aufgrund der jetzt auch von Steinbrück zurecht monierten Austeritätspolitik die Importe eingebrochen sind, dass sich aber der deutsche Leistungsbilanzüberschuss gegenüber 2009 sogar weiter vergrößert hat.

Leistungsbilanzsalden Deutschland, Griechenland, 2009 bis 2012 (Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.)

Mehr Worte muss man über den Beitrag Schäubles nun wirklich nicht verlieren bzw. verschwenden.

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