Die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin
“Auch heute gibt es in unserem Land viele Mutige und Hilfsbereite”, meint die Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache.
Wer würde ihr da widersprechen wollen. Nur im Deutschen Bundestag und im Kanzleramt scheinen sie nicht zu sitzen, die Mutigen und Hilfsbereiten! Denn die Politik, aber nicht nur sie, ist seit Jahren geübt darin, gesellschaftliche Verantwortung auf den bzw. die Einzelnen abzuwälzen. So geübt ist sie darin, dass sie ihren Zynismus und ihre katastrophalen Ergebnisse gar nicht mehr zu bemerken scheint. Vielleicht meint die Politik aber auch, die Bevölkerung über die Jahre so erfolgreich darauf trainiert zu haben, für alles und jeden selbst verantwortlich zu sein – und das vielleicht nicht einmal zu Unrecht -, dass sie nun ganz unverhohlen ihr Werk fortsetzen kann.
Die Kanzlerin zieht in ihrer Neujahrsansprache das Beispiel eines Schülers heran, der die Schule abbrechen wollte, durch eine wunderschöne Aktion seines Fußballteams jedoch davon überzeugt wird, die Schullaufbahn fortzusetzen.
Die Kanzlerin schlussfolgert daraus:
“Das ist nur eine von vielen Geschichten, die überhaupt nicht spektakulär, aber dennoch bezeichnend für unseren Zusammenhalt sind.”
Bezeichnend sind diese Geschichten in der Tat. Nur ganz anders, als es die Kanzlerin versteht. Warum wohl muss Merkel, um “unseren Zusammenhalt” zu thematisieren, auf die Geschichten Einzelner zurückgreifen? Ganz einfach: Weil die Politik dem erstrebenswerten, für den sozialen Frieden wie für das Glück des Einzelnen existenziellen, gesellschaftlichen Zusammenhalt nun schon seit Jahren den Boden unten den Füßen wegzieht und den bzw. die Einzelnen mit sich und ihrem Schicksal allein lässt. Wie sollte sie zum Beispiel Hartz IV als Beitrag für “unseren Zusammenhalt” heranziehen, den explodierten Niedriglohnsektor oder die Teilprivatisierung der Rente und die Absenkung des Rentenniveaus, wie auch die Ablehnung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns? Diese politische Negativliste ließe sich noch lange fortführen. Schon diese Beispiele aber zeigen auf, dass die Politik, die doch einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen hätte, “unseren Zusammenhalt” seit Jahren zerstört und diesen Skandal mit Worten wie “Eigenverantwortung” zu kaschieren sucht.
Man lese nur die ganze diesbetreffende Passage aus der Neujahrsansprache der Kanzlerin:
“Das ist nur eine von vielen Geschichten, die überhaupt nicht spektakulär, aber dennoch bezeichnend für unseren Zusammenhalt sind.
Es sind Freunde und Nachbarn, die Initiative ergreifen oder einen Missstand beheben. Es sind die Familien, die sich Tag für Tag liebevoll um ihre Kinder und um ihre Angehörigen kümmern. Es sind Gewerkschafter und Unternehmer, die gemeinsam für die Sicherheit der Arbeitsplätze arbeiten.
Sie und viele mehr machen unsere Gesellschaft menschlich und erfolgreich. So wurde es möglich, dass wir in diesem Jahr die niedrigste Arbeitslosigkeit und die höchste Beschäftigung seit der Wiedervereinigung hatten.
Das bedeutet für viele hunderttausend Familien, eine sichere Zukunft zu haben und Anerkennung zu erfahren.”
Die Gesellschaft zurückgeworfen auf Freunde und Nachbarschaftshilfe
Es ist eine, um es ganz deutlich zu schreiben, irrwitzige, völlig durchgedrehte Ansprache. Es ist der schiere Individualismus, hier das Angewiesensein auf die Hilfsbereitschaft des Einzelnen, den die Kanzlerin an dieser Stelle predigt und heilig spricht, und mit dem sie uns auch noch “Gottes Segen” erteilt. Die Gesellschaft zurückgeworfen auf Freunde und Nachbarschaftshilfe. Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich sind Freundschaften und Nachbarschaftshilfe wichtige, wünschenswerte und löbliche Voraussetzungen für ein harmonisches, friedliches und glückliches Miteinander. Nur können diese in unseren komplexen Gesellschaften die Funktion, die die Kanzlerin ihnen zuschreibt, nicht erfüllen und den Sozialstaat ersetzen, der ja genau deswegen geschaffen wurde. Der grundgesetzlich für ewig festgeschriebene Sozialstaat aber taucht in der Rede der Kanzlerin gar nicht auf! Der Staat ist für die Kanzlerin lediglich Ordnungsmacht:
“In der sozialen Marktwirtschaft ist der Staat der Hüter der Ordnung, darauf müssen die Menschen vertrauen können.”
Vielleicht lobt sie auch deswegen nur “unsere Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten und zivilen Helfer, die unter großen persönlichen Opfern ihren Dienst für uns tun”, nicht aber die Kranken- und Altenpflegerinnen und -pfleger, Soziallarbeiter, Lehrerinnen und Lehrer und andere in sozialen Einrichtungen tätigen Menschen.
Radikaler geht es nun wirklich nicht mehr. Merkel spricht daher auch nicht von sozialem Zusammenhalt, sondern “unserem Zusammenhalt”. Und “soziale Sicherheit” ist für sie ohne “die Bereitschaft zur Leistung” nicht zu haben. Sonst müssen halt die Freunde und Nachbarn einspringen!
“Wir brauchen für unseren Wohlstand und unseren Zusammenhalt die richtige Balance. Wir brauchen die Bereitschaft zur Leistung und soziale Sicherheit für alle.”
Die Kanzlerin hat weniger als ein erschreckendes Gesellschaftsbild – sie hat gar keines! Die Not des Einzelnen wird dabei bei ihr zu Tugend:
“…tatsächlich wird das wirtschaftliche Umfeld nächstes Jahr nicht einfacher, sondern schwieriger. Das sollte uns jedoch nicht mutlos werden lassen, sondern – im Gegenteil – Ansporn sein.”
Der “Mut” des Einzelnen steht bei ihr am Anfang und ist der Garant für “Glück”. In diesem und nur “in diesem Sinne” verlangt die Kanzlerin:
“Lassen Sie uns in diesem Sinne auch 2013 gemeinsam diejenigen tragen, die es schwer haben, die einsam oder krank sind oder die Trost brauchen.”
Kein Wort von gesellschaftlicher Chancengleichheit bzw. Ungleichheit, Armut, Not. Nichts. Alles Einzelschicksale. Stattdessen:
“Am Anfang sind es oft nur wenige, die voraus gehen, einen Stein ins Rollen bringen und Veränderung möglich machen.”
Kolping würd´ sich wohl im Grabe drehen
Merkel beruft sich dabei auf Adolph Kolping:
„Wer Mut zeigt, macht Mut.´ – dieser Satz des Sozialreformers Adolph Kolping bringt das auf den Punkt.”
Tatsächlich? Tatsächlich feiert das Kolpingwerk Deutschland auf seiner Internetseite völlig unkritisch, dass die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache Kolping zitiert. In den Grundlagen des Kolpingwerkes aber ist ebenda zu lesen:
“Jesus Christus hat sich für Arme und Schwache eingesetzt. Er ruft uns auf, Unrecht in Gesellschaft und Kirche beim Namen zu nennen und dagegen anzugehen.”
Dort heißt es auch:
“Bei allem Handeln sind die Bedürfnisse der schwächsten Glieder der Gesellschaft zu berücksichtigen (Solidarität).”
Und:
“Der Nutzen für die gesamte Gesellschaft hat bei Entscheidungen Vorrang vor der Befriedigung von Einzelinteressen (Gemeinwohl).”
Davon aber, von “Unrecht in der Gesellschaft”, “von den Bedürfnissen der schwächsten Glieder in der Gesellschaft”, von “Gemeinwohl” ist in Merkels Neujahrsansprache keine Rede!
An anderer Stelle heißt es:
“Kolping war entsetzt von den oft menschenunwürdigen Lebensbedingungen und Lebensweisen der meisten Handwerksgesellen, die er während seiner Wanderschaft kennenlernte.”
Die Kanzlerin ist nicht nur nicht entsetzt über die – auch vom Bundesverfassungsgericht festgestellten – menschenunwürdigen Lebensbedingungen von Hartz IV Empfängern oder um Asyl Bittenden, Niedriglöhnern oder Menschen, die von Armutsrenten leben müssen – sie existieren für sie gar nicht!
Merkel meint, mit ihrem asozialen – hier nicht als Schimpfwort gemeint, sondern inhaltlich, konzeptionell, ideologisch gewertet – Weltbild bliebe “Deutschland menschlich und erfolgreich.” Wenn sie sich nur einen Funken Sinn und Einfühlungsvermögen in die für sehr viele Menschen herrschenden Nöte und Ängste bewahrt hätte, hierzulande, aber auch – ebenfalls als Konsequenz ihrer Politik und des von ihr gepredigten Individualismus – in Griechenland und anderswo in der Eurozone, dann könnte sie so nicht reden.
Abschließend zu ihrer Neujahrsansprache: Auch bei dem gern und zurecht betonten Thema Bildung ist die Kanzlerin völlig realitätsfern, wenn sie sagt:
“Deshalb investieren wir so viel wie nie zuvor in Bildung und Forschung.”
Seit Jahren gibt Deutschland gemessen an seiner Wirtschaftskraft rund 25 Mrd. Euro weniger für Bildung aus als auch nur der Durchschnitt der OECD-Länder.
Die Demokratie wird von ganz oben unterminiert
Die Kanzlerin steht mit all dem nicht allein, sondern stellvertretend für eine politische Klasse, die keine oder kaum noch persönliche Ausnahmen und kein anderes Weltbild mehr zu kennen scheint und dabei jedes Maß, ob sozial, ob wirtschaftlich, ob menschlich, ob religiös, verloren hat. Es besteht kein Zweifel: Die Demokratie wird von ganz oben unterminiert. Ob bewusst oder unbewusst kann diesem nicht zuletzt, sondern vor allem auch geistigen und moralischen Verfall nichts an seiner Dramatik nehmen und erscheint fast unbedeutend gegenüber den Verhältnissen, die so oder so geschaffen werden.
Kardinal Marx und der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit Weise zum Neuen Jahr
Dass dieser Verfall nicht auf die politische Elite begrenzt ist, haben die Nachrichten zum ausklingenden Jahr ein weiteres Mal unterstrichen. In den 17 Uhr Nachrichten des 31. Dezember 2012 meldet der Deutschlandfunk:
“Nach Ansicht des Münchner Kardinals Marx ist Vertrauen die wichtigste Ressource für das Gemeinwesen. Hier sei jeder einzelne herausgefordert.”
Wieder ist es der Einzelne, der gefordert ist, das Gemeinwesen zu retten.
In denselben Nachrichten wird der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit zitiert:
“Er forderte auch die Arbeitslosen auf, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu engagieren.”
Jeder ist schließlich seines Glückes Schmied. Von gesamtgesellschaftlich bzw. gesamtwirtschaftlich zu wenigen oder zu schlecht bezahlten Stellen ist keine Rede. Ob Arbeitsagentur oder Arbeitsloser: es ist, wenn es nach Weise und nicht nur nach ihm geht, die Leistungsfähigkeit des Einzelnen, die darüber entscheidet, ob das Schicksal Arbeitslosigkeit einen ereilt oder nicht – so eben auch die “Leistungsfähigkeit der einzelnen Arbeitsagenturen und Jobcenter”, wie Weise meint.
In den 18 Uhr Nachrichten des 31. Dezember 2012 – und mit ihnen können wir guten und reinen Gewissens an dieser Stelle schließen – heißt es wiederum im Deutschlandfunk:
“Montag, 31. Dezember 2012 18:00 Uhr
Katholische und evangelische Kirche ermutigen zum Aufbruch
Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland haben an Silvester die Menschen zu Zuversicht und gesellschaftlichem Aufbruch ermutigt. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Zollitsch, sagte in seiner Predigt im Freiburger Münster, trotz aller Sorgen müssten die Deutschen dankbar sein für Frieden, Freiheit und Sicherheit. Zudem betonte er, Europa sei trotz aller Schwierigkeiten in der Finanzmarktkrise nicht auseinandergebrochen. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Schneider, sagte in seiner Neujahrsbotschaft, die Menschen könnten immer wieder neu aufbrechen und die Welt verändern. Man müsse sich nicht mit dem Alltag zufriedengeben.
Merkel: 2013 wird wirtschaftlich schwieriger
Bundeskanzlerin Merkel ruft die Bürger zu Geduld bei der Überwindung der Staatsschuldenkrise auf. Die Probleme seien längst nicht gelöst, sagte sie in ihrer vorab veröffentlichten Neujahrsansprache. Das wirtschaftliche Umfeld werde 2013 nicht einfacher, sondern eher schwieriger. Das sollte jedoch nicht zu Mutlosigkeit führen, sondern Ansporn sein. Merkel betonte, auch international müsse noch einiges getan werden, um die Finanzmärkte besser zu überwachen. Die Welt habe die Lektion der Krise von 2008 nicht ausreichend gelernt. In der sozialen Marktwirtschaft sei der Staat der Hüter der Ordnung, und darauf müssten die Menschen vertrauen können. Ausdrücklich dankte Merkel den Soldaten, Polizisten und zivilen Helfern, deren Dienst viele persönliche Opfer mit sich bringe.
Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Weise, sieht große Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der einzelnen Arbeitsagenturen und Jobcenter. Dies müsse man ändern, sagte Weise der Deutschen Presseagentur. Es gebe nicht akzeptable Unterschiede. Einige könnten eine hohe Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt vorweisen und hätten weniger Ausgaben pro Kopf sowie eine kürzere Durchschnittsarbeitslosigkeit. Am anderen Ende gebe es Agenturen, die schlechter abschneiden, meinte Weise. Er forderte auch die Arbeitslosen auf, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu engagieren. Als Beispiele nannte Weise unter anderem die Teilnahme an Englisch-Kursen sowie an anderen Qualifikationslehrgängen.
400.000 Klagen und Widersprüche gegen Hartz-Vier-Bescheide
Gegen Hartz-Vier-Bescheide sind fast 400.000 Klagen und Widersprüche anhängig. Das berichtet die “Bild-Zeitung” unter Berufung auf eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Demnach lagen Ende November 204.000 Klagen und mehr als 190.000 Widersprüche gegen Hartz-Vier-Bescheide vor. Etwa jeder dritte Widerspruch wurde bisher zugunsten der Antragsteller entschieden. Bei den Klagen lag die Quote sogar bei über 50 Prozent.”
Frohes Neues Jahr!
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