Neben Tod und Verbrechen, die alle Kriege mit sich führen, genauer, die, die ihn planen und ausführen, gibt es eine weitere grausame Konstante: Sie entwurzeln die Menschen, sie machen sie heimatlos.
Erich Maria Remarque erzählt in “Das seltsame Schicksal des Johann Bartok” auf nur acht eindringlichen Seiten, wie ein junger Klempner und Installateur, Johann Bartok, der gerade erst vor fünf Monaten geheiratet hat, eingezogen wird; der Krieg bestimmt fortan sein Schicksal; nach Jahren der Gefangenschaft, steht Bartok schließlich wieder vor seiner Frau; sie ist längst wieder verheiratet. “Aber wir bekamen doch damals eine Benachrichtigung – eine Bescheinigung – du seist tot!” Die Geschichte aus dem 1. Weltkrieg endet mit den Sätzen: “Draußen vor der Tür blieb er eine Weile stehen. Dann ging er wieder zum Bahnhof und fuhr in seine Heimatstadt zurück. Dort wollte er Arbeit suchen und wieder von vorne anfangen.”
In einer anderen Geschichte Remarques, “Josefs Frau”, hat der auch psychisch völlig zerstörte Kriegsheimkehrer Josef Thiedemann mehr Glück. Seine Frau geht in ihrer Liebe und Fürsorglichkeit so weit, dass sie nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, ihren Mann in das Leben zurückzuholen, mit ihm an die Stätte des Krieges zurückkehrt, wo er aus seinem Trauma erwacht und schließlich geheilt wird.
Dieses Glück hat der Soldat Beckmann nicht, als er nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause zurückkehrt.
“…meine frau
nein / die / die meine frau war
ich war nämlich drei jahre lang weg / in russland
und gestern kam ich wieder nach hause
das war das unglück…”
Auch er, Beckmann, ein Kriegsheimkehrer, der zwar zurückgekehrt ist, aber draußen vor der Tür bleibt.
Volker Lösch lässt in seiner Inszenierung des Dramas von Wolfgang Borchert, das dieser kurze Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs verfasste, diese Verlorenheit, diese Leere durch einen Chor sprechen, der, bestehend aus allen beteiligten Schauspielern, dabei über die Bühne irrt, immer wieder neu Orientierung zu suchen scheint; die Bühne selbst scheint dabei zu schwanken zwischen Schlachtfeld und Heimat, Vergangenheit und Gegenwart, mal dunkel, mal in schwarz rot goldenen Farben leuchtend.
“…ein mann kommt nach deutschland
er war lange weg / der mann / sehr lange
vielleicht zu lange
und er kommt ganz anders wieder als er wegging
er hat tausend tage draußen in der kälte gewartet und als eintrittsgeld
musste er mit seiner kniescheibe bezahlen
und nachdem er nun tausend nächte draußen in der kälte gewartet hat
kommt er endlich / doch noch / nach hause
ein mann kommt nach deutschland
einer von denen die nach hause kommen
und die dann doch nicht nach hause kommen
weil für sie kein zuhause mehr da ist
und ihr zuhause / ist dann draußen vor der tür
ihr deutschland ist draußen / nachts / im regen / auf der straße
das / ist / ihr deutschland…”
Karin Losert schreibt in ihrem “Kurz-Check” für rbb Kultur über die Sprechchöre, die das Stück durchziehen: “Großen Raum nehmen dabei kanonartige Sprechgesänge ein, die am Anfang als stilistisches Mittel gut funktionieren, von denen man als Zuschauer aber auch bald genug hat.”
Und tatsächlich, die Chöre strengen an. Sollen sie das aber etwa nicht auch? Es würde mich wundern, wenn Volker Lösch nicht genau das damit bezweckt hat: auch den Zuschauer nicht so einfach davon kommen zu lassen, ihn mit dem Traum und Trauma des zurückgekehrten Soldaten zu konfrontieren, zu verfolgen mit diesen Sprechchören. Denn ist das nicht schon ein notwendiger Begleiter des Krieges, einer, der ihn erst möglich macht, und der am Ende auch dafür sorgt, dass die, die zurückkehren, draußen vor der Tür bleiben: dass wir von all dem “bald genug haben”? Afghanistan, Kosovo, Libyen, Irak…Wollen wir das wirklich an uns heranlassen, ist unser Alltag nicht schon anstrengend genug? Sollen das doch die im Deutschen Bundestag regeln. Und so schnell, wie dort seit geraumer Zeit für den Krieg als legitimes Mittel der Politik gestimmt wird, könnte man meinen, dass auch die “Volksvertreter” schnell “genug haben” von einer Diskussion darüber.
Beckmann hat seine Gesundheit verloren und seine Familie, nur eines hat er nicht verloren: die Erinnerung an seine Kriegserlebnisse.
“…sie erschießen sich / sie hängen sich auf / sie ersaufen sich
sie ermorden sich / heute hundert / morgen hunderttausend
ein krieg / gibt dem andern die hand / wie die fliegen…”
Um diesen allzu lebendigen Erinnerungen zu entfliehen, scheint Beckmann nur noch die Flucht aus dem Leben selbst als Ausweg. Die Elbe aber lässt ihn nicht.
Was aber ist passiert in diesem Krieg, was passiert in jedem Krieg, was macht er aus den Menschen, die ihn führen, die in ihn hineingeführt werden? Um das zu zeigen, hat Volker Lösch in seiner Inszenierung auf die Abhörprotokolle aus amerikanischen und britischen Kriegsgefangenenlagern zurückgegriffen, die Sönke Neitzel und Harald Welzer in dem Buch “Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben” veröffentlicht haben.
Die Aussagen jener dort aufgezeichneten Wehrmachtssoldaten sind so grausam, zynisch, menschenverachtend – wie der Krieg selbst es ist. Es ist diese Überschneidung der Texte, die vielleicht erst die ganze innere Zerrissenheit jener Kriegsheimkehrer aufzeigen und erklären hilft, unabhängig davon, welches Schicksal sie zu Hause erwartet. Selbst unschuldige, nicht kriegsbegeisterte Menschen, die für den Krieg eingezogen wurden, in ihn hineingeraten sind, sind im Verlauf des Krieges vielleicht schuldig an grausamsten Verbrechern an der Menschlichkeit geworden.
“…wir haben mal auf dem rückflug / etwas sehr schönes gemacht
wir sind im tiefflug über die straßen
und wenn uns autos entgegenkamen
haben wir den scheinwerfer angemacht
die dachten / es käme ihnen ein auto entgegen
dann haben wir mit der kanone reingehalten
damit hatten wir viele erfolge
das war sehr schön / das machte riesigen spaß…”
Beckmann versucht der Schuld, der Verantwortung zu entfliehen, sich ihr zu entledigen, indem er seinen ehemaligen Oberst aufsucht. Der aber hat alles erfolgreich verdrängt, lässt es sich gut gehen, den Bauch prall gefüllt steht er mit weißer Weste da, auf der Berliner Schaubühne. Beckmann konfrontiert ihn mit seinem Traum.
“…den träume ich / jede nacht
dann wache ich auf / weil jemand so grauenhaft / schreit
und wissen sie / wer das ist / der da // schreit
ich / selbst / herr / oberst
deswegen bin ich so müde / herr oberst / ganz furchtbar / müde
da steht ein mann / und spielt xylophon
er spielt einen / rasenden rhythmus
und dabei schwitzt er / er schwitzt / blut / dampfendes / dunkles / blut
und das / blut läuft / in zwei breiten / roten streifen / an seiner hose runter
es muss ein alter / schlachtenerprobter general sein
denn er hat beide arme verloren / er spielt mit langen / dünnen prothesen
die hölzer seines riesigen xylophons / sind aus knochen
wunderbare / weiße knochen
schädeldecken / hat er da / schulterblätter / beckenknochen
und für die höheren töne / armknochen / und beinknochen
der general / steht vor dem riesenxylophon aus menschenknochen
und trommelt mit seinen prothesen / einen marsch
und dann / kommen sie dann / ziehen sie ein die // gladiatoren
die alten kameraden dann / stehen sie auf / aus den massengräbern
und ihr blutiges gestöhn / stinkt / bis an den weißen mond
dann / stehen sie auf / aus den massengräbern
mit verrotteten verbänden / und blutigen / uniformen dann
tauchen sie auf / aus den ozeanen / aus den steppen / und straßen
aus den wäldern / kommen sie / aus ruinen und mooren / schwarzgefroren / grün verwest / einäugig / zahnlos / einarmig / beinlos
mit zerfetzten gedärmen / ohne schädeldecken / ohne hände
durchlöchert / stinkend / blind
eine furchtbare flut / kommen sie / angeschwemmt
unübersehbar / an zahl / unübersehbar / an qual
das furchtbare / unübersehbare / meer der toten
tritt / über die ufer / seiner gräber / und wälzt sich breit
breiig und blutig / über die welt…”
Der Oberst aber bleibt lieber bei der “deutschen Wahrheit”.
Niemand nimmt Beckmann die Last seiner Erinnerung, die Last des Krieges.
“…wohin soll ich denn / wovon soll ich leben
mit wem // für was
wohin sollen wir denn auf dieser welt
warum schweigt ihr denn
gibt denn keiner / eine antwort
gibt keiner / antwort
gibt denn keiner / keiner / antwort”
Am Ende holt Volker Lösch das Stück in die Gegenwart. Ein Afghanistan-Veteran tritt auf die Bühne. Er erklärt, er sei kein Schauspieler. Und er schildert, wie auch er nach seiner Rückkehr aus dem Krieg seine Familie verloren hat, so wie Beckmann, so wie Johann Bartok. Auch er hat schlecht geträumt, tut es vielleicht noch. Und er musste darum kämpfen, dass seine Beschwerden anerkannt wurden und darum, dass ihm geholfen wird.
Auf welch Unverständnis diese Menschen stoßen, zeigt vielleicht wiederum am besten die bereits oben aufgegriffene Rezension von Karin Losert, die eben dazu schreibt:
“Leider schafft es das Stück umgekehrt auch nicht, eine aufrichtige Betroffenheit zu erzeugen. Dafür werden die wirklich im einzelnen sehr erschreckenden Kriegsgefangenenprotokolle zu breit ausgerollt und auch der Auftritt des Afghanistan-Veteranen am Ende wirkt teilweise leider eher wie eine mit erhobenen Zeigefinger formulierte Moralpredigt, als dass er wirklich zum Nachdenken über den heutigen Umgang mit Soldaten, die für unser Land ihr Leben aufs Spiel setzen, anregt.”
Wenn dieses Stück es nicht schafft, eine “aufrichtige Betroffenheit zu erzeugen”, was dann? Und wie kann man dies beklagen und gleichzeitig damit begründen, dass die Kriegsgefangenenprotokolle zu breit ausgerollt wurden. Ich habe an mancher Stelle des Stückes gedacht: Hier hätte auch noch ein Ausschnitt herein gepasst. Am aussagekräftigsten ist aber dann wohl doch der letzte Satz von Losert: “…Soldaten, die für unser Land ihr Leben aufs Spiel setzen…” Wer so unreflektiert “denkt”, ist ja bereits Teil des Prozesses, den man Krieg nennt bzw. der zu diesem führt. Was schließlich ist gegen den Krieg angebrachter als eine “mit erhobenen Zeigefinger formulierte Moralpredigt”? Als diese empfunden habe ich die Worte des Veteranen jedoch nicht. Es machte vielmehr betroffen, wie sehr seine Darstellung, die Verlorenheit, seine realen Erlebnisse in das Drama Borcherts passen.
Mir fehlte am Ende dann auch etwas ganz anderes: Der Afghanistan-Veteran verkörpert für mich den Beckmann, den Wolfgang Borchert im Sinn hatte, als er das Stück “Draußen vor der Tür” schrieb. Was aber ist mit Kunduz, was mit den vielen (noch) nicht bekannt gewordenen Verfehlungen deutscher Soldaten in Afghanistan? Auf meinen Wanderungen durch Deutschland begegnete ich einem jungen Mann, der marathonartig an mir vorbei rauschte. Eine Stunde später vielleicht kam er mir im gleichen Tempo wieder entgegen. Er sah mir und meinem Hund wohl an, dass wir durstig waren. Die Sonne brannte auf uns herab. Er bot uns von seinem Wasser an. “Ich komme schließlich gerade aus einem Land, wo es noch viel heißer ist als hier.” Ich dachte augenblicklich an ein afrikanisches Land, vielleicht ein Entwicklungshelfer. “Afrika?”, fragte ich. “Afghanistan”, antwortete er. “Böse Buben jagen.” Schon bald würde er wieder dorthin. Wie es ihm wohl ergangen ist? In welchem physischen und psychischen Zustand er am Ende wohl wieder zurückgekehrt ist, wenn er denn wieder lebend zurückgekehrt ist? Unverletzt kehrt wohl keiner zurück, aus dem Krieg. Und wieviele “Böse Buben” er wohl noch gejagt hat “für unser Land”? Wieviel Afghanen wohl unschuldig auch durch deutsche Soldaten verletzt und getötet wurden? Werden deutsche Soldaten irgendwann auch darüber erzählen? Vielleicht tun sie es bereits, verzweifelt, wie Beckmann, aber niemand will sie hören, weil man davon nun einmal “bald genug hat”.
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Draußen vor der Tür
von Wolfgang Borchert
mit Texten aus »Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben« von Sönke Neitzel und Harald Welzer
Fassung von Volker Lösch und Stefan Schnabel
Inszenierung: Volker Lösch
Termine:
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