Eine spannende Zahl: Die Spannungszahl

Gerade erst haben die Ökonomen Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker über die Scharlatanerie etablierter deutscher Konjunkturprognostiker und deren Folgen aufgeklärt: “Wer heute vorgibt, etwas für die Politik wirklich Erwägenswertes über 2014 zu sagen, ist einem Scharlatan sehr nahe…Unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaft und scheinbar objektiver Bemühungen, die unsichere Zukunft zu deuten, wird hier vor allem Politik gemacht. Gesellschaftlich bedeuten sie eine massive Gefahr, weil sie systematisch von den großen Themen ablenken und der Politik die Möglichkeit geben, diesen Themen auszuweichen und Partialinteressen nachzugehen, bis der Krug schließlich bricht.”

Im Oktober 2011 habe ich es unter der Überschrift “Gefangen in der Modellwelt” in einem Artikel für die Wochenzeitung der freitag einleitend so formuliert: “Jeder, der einmal mit Modellen zur Konjunkturanalyse gearbeitet und dabei einen klaren Kopf bewahrt hat, weiß um den ökonomischen Hokuspokus, der dort getrieben wird: Hier ein bisschen am Konsum gedreht, dort ein wenig an der Investitionsschraube, und irgendwie bekommt man dann schon eine Wachstumsprognose hingebogen, die sich nicht allzu sehr von den anderen Mitbewerbern unterscheidet, aber dennoch Eigenständigkeit wahrt.”

Wie aber sollen sich dann Wirtschaftspolitiker, Sozialpolitiker, aber auch “Normalverbraucher” ein Bild darüber machen, wie die wirtschaftliche Entwicklung verläuft und in naher Zukunft wahrscheinlich verlaufen wird, woran sich diese Entwicklung bemisst und auf welchen Ursachen sie fußt? Und woher wollen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiker wissen, wann und wie sie die wirtschaftliche Entwicklung positiv beeinflussen sollen und müssen bzw. wann und wie sie einer negativen Konjunkturentwicklung begegnen können?

Ein Indikator erscheint in dieser Hinsicht interessant. Ich werde ihn im folgenden versuchen in der gebotenen Kürze allgemeinverständlich vorzustellen, und er wird einer neben anderen Indikatoren sein, die wir von nun an in der gestern angekündigten Rubrik “Statistik für Normalverbraucher” regelmäßig aktualisieren, um den Konjunkturverlauf genauer zu beobachten und entsprechende Rückschlüsse zu ziehen.

Offene Stellen und Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts, 2000 bis 2013 (Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.)

Bevor wir uns jedoch mit dem doch recht technisch klingenden Indikator vertraut machen, sollten sie wissen, dass sich dieser aus der direkten Lebenswelt des Arbeitsmarktes speist, nämlich den offenen bzw. gemeldeten Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit (Nachfrage nach Arbeit) und der Zahl der Arbeitslosen (Angebot an Arbeit). Diese Werte sind schon für sich genommen interessant. So zeigt beispielsweise die Entwicklung der offenen Stellen, dass sie dem Lauf der Konjunktur folgt. Und doch wollen uns die Verantwortlichen für die Agenda 2010 immer noch weiß machen, dass diese Gesetze für einen Erfolg am Arbeitsmarkt stünden. Der Erfolg am Arbeitsmarkt, ein annähernder Ausgleich zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage, war und ist aber offensichtlich von anderen Dingen als entwürdigenden Zwangsmaßnahmen wie Hartz IV abhängig.

Der Indikator, von dem im folgenden die Rede sein soll, heißt “Die Spannungszahl – Ein Indikator der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung”. Der Ökonom Claus Köhler hat 1994 unter dem gleichlautenden Titel ein Arbeitspapier in Buchform veröffentlicht, in dem er auf den theoretischen und empirischen Hintergrund dieser Zahl erklärend eingeht (1). Es hat, genau wie sein 2004 veröffentlichtes Buch “Orientierungshilfen für die Wirtschaftspolitik”, nichts an seiner Erklärungskraft eingebüßt (2).

Köhler schreibt in seiner Einleitung zur Spannungszahl: “Seit mehr als 20 Jahren bewährt sich die Spannungszahl als Indikator der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. In dieser Zeit hat sie monatlich und – im Vergleich mit der Zuwachsrate des realen Bruttosozialprodukts – vierteljährlich den Konjunkturverlauf zutreffend wiedergegeben.” Ungeachtet der in diesem Zeitraum hervorgetretenen Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur, habe die Spannungszahl nicht an Aussagekraft eingebüßt. Selbst in den ersten Jahren der Wiedervereinigung nicht, auf die Köhler ebenfalls eingeht.

Hier die Entwicklung der Spannungszahl und des realen BIP seit 2001 auf Basis der aktuellsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit und des Statistischen Bundesamtes:

Einfache und erweiterte Spannungszahl und Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts (Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.)

Die einfache Spannungszahl gibt die Veränderung aus der Differenz zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen aus einem Monat eines Jahres gegenüber der Differenz zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen aus dem gleichen Monat des vorangegangenen Jahres wieder. Diese Methodik ihrer Berechnung, so Köhler “- Differenzen zwischen weitgehend nachfragebestimmten offenen Stellen und vor allem angebotsorientierten Arbeitslosen sowie der Vorjahresvergleich – führen zu einem weitgehend parallelen Verlauf des Indikators mit der tatsächlichen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.”

Beide Zahlen – die offenen Stellen und die Arbeitslosen – haben den Vorteil, dass sie sehr zeitnah veröffentlich werden, während die Daten zum Bruttoinlandsprodukt lange auf sich warten lassen. So liegt das Bruttoinlandsprodukt aus dem vierten Quartal des vergangenen Jahres bis heute noch nicht vor, die offenen Stellen und die Zahl der Arbeitslosen aus dem gerade erst ausgeklungenen Januar sind aber bereits verfügbar. Köhler bewertet das so: “Eine vorlaufende Reihe, die erst neun Wochen nach Monatsende verfügbar ist, ist viel weniger wert, als eine nachlaufende oder gleichlaufende Reihe, die kurz nach dem Monatsultimo veröffentlicht wird…Die schnelle Veröffentlichung der Daten des Arbeitsmarktes gibt der Spannungszahl einen erheblichen zeitlichen Vorsprung.”

In der erweiterten Spannungszahl werden die Kurzarbeiter berücksichtigt und zu der Zahl der Arbeitslosen hinzu addiert, das Arbeitsangebot wird also um die Zahl der Kurzarbeiter erhöht. Ein Auf- oder Abschwung schlägt sich möglicherweise noch schneller in der Kurzarbeit nieder, als in der Zahl der Arbeitslosen. Der in der Graphik oben wiedergegebene Verlauf während des Ausbruchs der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und den Folgejahren bestätigt das besonders auffällig.

Das Arbeiten mit der Spannungszahl, ihre richtige Deutung ist dennoch nicht einfach. So hält Köhler beispielsweise fest: “Ein Auseinanderlaufen des einfachen und des erweiterten Indikators bedarf daher einer sorgfältigen Interpretation. Für beide Indikatoren wie für jeden Konjunkturindikator gilt, dass ihre Bewegungen stets einer begleitenden Wirtschaftsanalyse bedürfen, um die Aussagen des Indikators abzusichern.”

Die von Köhler dargestellten Interpretationshilfen en detail zu schildern, würde über das an dieser Stelle gesteckte Ziel hinausschießen, verschiedene Konjunkturindikatoren vorzustellen und für eine weitere Verwendung in Betracht zu ziehen. Wir können dies im Verlauf jeden Monats tun und vertiefen, wenn wir diesen Indikator um die neu herauskommenden Werte aktualisieren und diese dann versuchen zu interpretieren. Hier abschließend jedoch schon einmal der jüngere Verlauf der Spannungszahl und mögliche Interpretationsspielräume.

Einfache und erweiterte Spannungszahl, 2011-2013, Wendepunkte (Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.)

Die erste einleitende Graphik zeigt, dass die Spannungszahl spätestens bereits für das zweite Quartal 2011 – wenn nicht schon für das dritte Quartal 2010 – signalisiert, dass der nach dem tiefen 2008/2009 erfolgten Einbruch stattgefundene Aufschwung wieder an Fahrt verlieren würde. Die wirtschaftliche Aktivität nimmt nicht mehr in dem Ausmaß zu, wie dies davor der Fall war.

Mittlerweile aber, seit September vergangenen Jahres, ist die Spannungszahl negativ und ist seitdem im negativen Bereich weiter gesunken. Seitdem, so ist anzunehmen, hat sich die wirtschaftliche Lage gegenüber der des Vorjahreszeitraums fortlaufend verschlechtert. Der Abschwung hat sich verschärft. Das zeigt auch die eingetragene “Hilfslinie” “bei unveränderter wirtschaftlicher Aktivität”. Sie bildet den Verlauf ab, wenn die wirtschaftliche Aktivität gleich geblieben wäre, wie zum Zeitpunkt des eingetragenen Wendepunktes (den man natürlich bereits auch im April 2011 ansetzen könnte). Dass die Spannungszahl unterhalb der Kurve unveränderter wirtschaftlicher Aktivität verläuft, signalisiert, dass die wirtschaftliche Lage schlechter ist als im Jahr zuvor und: gegenüber den eingetragenen Wendepunkten hat sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert.

Interessant ist in diesem Zusammenhang wiederum eine Anmerkung Köhlers zur Spannungszahl und zur Wirtschaftspolitik: Die Eigenschaften der Spannungszahl, so Köhler, geben wichtige Hinweise auf beginnende Gefährdungsphasen. Eine Gefährdungsphase ist eine wirtschaftliche Entwicklung, in der die Einhaltung der wirtschaftspolitischen Ziele Preisniveaustabilität, Vollbeschäftigung, angemessenes Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftliches Gleichgewicht gefährdet sind. Eine solche Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass die volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage von dem angestrebten potenzialorientierten Wachstum des nominalen Sozialproduktes abweicht. Geboten ist, dass die Wirtschaftspolitik in der Gefährdungsphase eingreift. Geschieht das nicht, dann führt das Abweichen der Nachfrage von der angestrebten Wachstumsrate des Sozialproduktes zu – zusätzlichen – Fehlentwicklungen….Das wirtschaftspolitische Problem ist, dass in der Gefährdungsphase die Fehlentwicklungen des vorangegangenen Konjunkturverlaufs noch nicht beseitigt sind. Das erklärt, weshalb die Wirtschaftspolitik mit Eingriffen in der Gefährdungsphase häufig zögert. Aber nur frühzeitiges Handeln ist geeignet, Fehlentwicklungen zu vermeiden oder vorhandene Fehlentwicklungen zu minimieren.”

Zu diesen komprimierten Aussagen ließe sich ergänzen, dass die jetzige Bundesregierung und ihre Vorgänger die von Köhler zurecht ins Gedächtnis gerufenen wirtschaftspolitischen Ziele seit langem aus den Augen verloren und diese durch das einseitige Ziel eines vermeintlichen öffentlichen Schuldenabbaus ersetzt haben. Gutes für Konjunktur und Beschäftigung verheißt das nicht.

(1) Claus Köhler, Die Spannungszahl, Ein Indikator der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Arbeitspapiere des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung, Heft 10, Duncker & Humboldt, Berlin, 1994

(2) Claus Köhler, Orientierungshilfen für die Wirtschaftspolitik, Veröffentlichungen des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung, Band 41, Duncker & Humboldt, Berlin, 2004

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