Nach Interview mit Heiner Flassbeck im Deutschlandfunk: Bloß schnell zurück zur Tagesordnung!

Deutlicher kann man die – ja, was ist es eigentlich? – Hilflosigkeit, Bequemlichkeit, Denkfaulheit, Macht der Gewohnheit, nicht zum Ausdruck bringen, als es Jürgen Zurheide heute früh im Deutschlandfunk gewissermaßen stellvertretend für den deutschen Mehrheitsjournalismus zum Ausdruck brachte.

Kaum hatte Zurheide sein Interview mit Heiner Flassbeck zu Zypern und der Eurokrise beendet, führte er die Sendung wie folgt fort:

“8 Uhr 21 wird es gleich. Jetzt haben wir gerade gehört, wie schwierig das ist, die Situation beim Euro zu bereinigen, was das braucht sind eigentlich Reformen. Jetzt gucken wir uns mal die Definition an von Reformen: Reformen bezeichnen eine Politik, eine größere planvolle, gewaltlose Umgestaltung bestehender Verhältnisse und Systeme. Das ist die positive Definition von Reformen. Wenn wir in die Praxis schauen, dann sehen wir, das ist offensichtlich schwierig. Birger Priddat von der Universität Witten/Herdecke, Ökonom und Philosoph…Also Reformen berühren Besitzstände, und wenn man an Besitzstände geht, dann gibt´s Widerstände und dann funktioniert´s nicht. Ist diese Diagnose erst mal richtig?”

Priddat: “Ja. Eindeutig. Wir sind ja in der Demokratie. Und in einer Demokratie wollen ja alle ihre Interessen eintragen. Und deswegen ist die Politik ein wenig schwieriger, als wenn´s ein König machen würde…Selbst in Frankreich…wird es schwierig zentral durchzuregieren…Wir haben ja bei Schröder eine tatsächliche Reform durchgeführt. Und das hat ja einigermaßen funktioniert. Wir haben glaube ich alle vergessen, dass Deutschland vorher als das schwierigste Land mit der schwierigsten wirtschaftlichen Entwicklung angesehen wurde. Reformen sind sehr schwierig, und sehr viele Reformen haben wir aufgeschoben…”

Sie ahnen, was noch kommt. “Wir haben die Rentenreform nicht wirklich angegangen, wie haben die demographische Entwicklung…, wir haben die Gesundheitsreform nicht angegangen…” Und “jetzt sind wir bei solchen Themen wie Mindestlohn angekommen, sozusagen eine Verdrehung…” Die Politik traut sich nicht “harte Dinge wirklich anzupacken.” Zurheide spricht ebenfalls konsequent “Reformdeutsch” und redet vom “Umbau des Sozialstaats”, den kleinere Länder wie skandinavische Länder und die Schweiz doch hinbekommen hätten. Priddat: “Wir tun so als ob Politik ein Füllhorn wäre…”

Ich empfehle, dass Interview unbedingt in Gänze zu hören:

30.03.2013 – Interview Birger Priddat – Uni Witten/Herdecke im Deutschlandfunk

Wer schützt unsere Bevölkerung im Allgemeinen und unsere Studenten im Besonderen eigentlich vor solch reaktionärem, oberflächlichem, gesellschaftsfeindlichem Geschwätz? Die Antwort: Niemand. Niemand, der ein gleiches Medienecho hätte.

Hier zunächst die Geldgeber der natürlich wissenschaftlich völlig unabhängigen (die Unterstützer der Uni sollen, so heißt es ausdrücklich auf der Internetseite der Uni “von Ihrem Engagement auch profitieren“) Uni Witten/Herdecke:

Aktiengesellschaften

Aral AG | Bochum
Arcandor AG | Essen
AXA Konzern AG | Köln
Bertelsmann AG | Gütersloh
BMW AG | München
Central Krankenversicherung AG | Köln
Daimler AG | Stuttgart
Deutsche Bank AG | Frankfurt
Droege International Group AG | Düsseldorf
Ernst & Young AG | Düsseldorf
Kolbenschmidt AG | Neckarsulm
Philipp Holzmann AG | Frankfurt
Thyssen AG | Düsseldorf
ThyssenKrupp AG | Düsseldorf
VEW AG | Dortmund
Volkswagen AG | Wolfsburg
Wittgensteiner Kliniken AG | Bad Berleburg
ZF Friedrichshafen AG | Friedrichshafen

Firmen, Institutionen und Verbände

Dr. August Oetker KG | Bielefeld
Dr. Ausbüttel & Co. GmbH | Witten
Ebro Armaturen | Hagen
Fenne-Montan-Bau GmbH | Gladbeck
Fritz Peters & Co. KG | Moers
Gemeinnützige Treuhandstelle e.V. | Bochum
GLS Treuhand e.V. | Bochum
Grönemeyer Institut für Mikrotherapie | Bochum
Hewlett-Packard GmbH | Böblingen
Janssen-Cilag GmbH | Neuss
Leopold Kostal GmbH & Co. KG | Lüdenscheid
Märkischer Arbeitgeberverband Hagen e.V. | Hagen
Novartis Pharma GmbH | Nürnberg
Otto-Versand GmbH & Co. | Hamburg
Schüchtermann-Schiller’sche Kliniken Bad Rothenfelde GmbH & Co. KG | Bad Rothenfelde
Sennheiser electronic KG | Wedemark
Signal Iduna Gruppe | Dortmund
TaurusFilm GmbH | Ismaning
Westfälischer Arbeitgeberverband für die chemische Industrie e.V. | Bochum
Wittener Institut für Familienunternehmen Stiftung | Witten
Zentrum Ausbildung Psychotherapie GmbH | Bad Salzuflen

Stiftungen

Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung | Essen
Bertelsmann Stiftung | Gütersloh
Deutsche Bundesstiftung Umwelt | Osnabrück
Dr. Fritz-Meyer-Struckmann-Stiftung | Essen
Dr. h.c. Werner Jackstädt-Stiftung | Wuppertal
Dr. Lisa Kurz-Stiftung | Essen
Eden Stiftung | Bad Soden
Ertomis-Stiftung | Wuppertal
Fritz Terfloth Stiftung | Münster
Helmut und Gisela Bertram-Stiftung | Siegburg
Robert Bosch Stiftung | Stuttgart
Rudolf August Oetker Stiftung | Bielefeld
Rudolf Chaudoire-Stiftung | Lugano
Schweisfurth Stiftung | München
Software AG Stiftung | Darmstadt
Stiftung Mercator | Essen
Stiftung Mittelsten Scheid | Wuppertal
Stiftung van Meeteren | Düsseldorf
Stiftung Volkswagenwerk | Hannover
Stiftung Westfalen | Essen
Stiftung zur Förderung der Nordoff/Robbins Musiktherapie | Hamburg
Vodafone Stiftung Deutschland | Düsseldorf
Walcker-Stiftung | Isny
Werner Richard – Dr. Carl Dörken Stiftung | Herdecke
Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius | Hamburg

Mitglieder des Kuratoriums

Tobias Bachmüller | Katjes Fassin GmbH & Co. KG, Emmerich
Dr. Hanno Bästlein | Constantia Packaging AG, Wien
Carl-Jürgen Brandt | Brandt Zwieback – Schokoladen GmbH & Co. KG, Hagen
Dr. Helmut Burmester | Partner der One Equity Partners Europe, Frankfurt
Benno Garschina | Rechtsanwalt und Notar, Bonn
Stephan Kohorst | Dr. Ausbüttel & Co. GmbH, Witten
Markus Loy | VR Unternehmensberatung GmbH, Düsseldorf
Ulrich Heinemann | Sparkasse Witten
Frank Mirko Meurer | boesner GmbH holding + innovations, Witten
Peter Pohlmann | POCO-Domäne Holding GmbH, Bergkamen
Prof. Dr. Christa Rohde-Dachser | International Psychoanalytic University – IPU, Berlin
Prof. Dr. Dr. Karl-Ulrich Rudolph | Universität Witten/Herdecke GmbH, Witten
Heidi Schily | Düsseldorf
Heinz-Jürgen Schwering | AXA Konzern AG, Köln
Dr. Carl-Otto Still | Carl Still Vermögensverwaltung GmbH, Recklinghausen †
Christa Thoben | Ministerin a.D., Düsseldorf

Ehrenkuratoren

Wolfgang Habig | Habig International, Oelde
Prof. Dr. Werner Ischebeck | Wuppertal
Prof. Dr. jur. Dieter Spethmann | Rechtsanwalt, Düsseldorf
Elisabeth Birte Spethmann | Düsseldorf
Elisabeth Tengelmann | Recklinghausen

Nach etwas Suchen ist unter dem Punkt “Fakten” zu lesen:

“Fakten

Die Idee zur Gründung der Universität Witten/Herdecke entstand Ende der 70er Jahre aus der Unzufriedenheit einiger Hochschullehrer mit dem damaligen Stillstand in der Universitätsentwicklung. Die Anerkennung durch das Land NRW erfolgte 1982 nach längeren Auseinandersetzungen, 1983 begann der Studienbetrieb mit dem Fach Medizin. Seither ist die Universität ständig gewachsen und hat sich mit ihren Merkmalen (ausgedehnte Praxiserfahrung der Bewerber, eigenes Auswahlverfahren, internationale Orientierung, praxisnahes Studium, kulturwissenschaftlich – künstlerische Angebote im sog. Studium fundamentale) gegen die großen staatlichen Universitäten durchgesetzt und behaupten können.”

Auch, dass solche Persönlichkeiten im Aufsichtsrat des Unternehmens, Entschuldigung, der Universität, meine ich natürlich, sitzen, ist natürlich absolut beruhigend:

Dr. Jörg Dräger
Vorstand Bildung der Bertelsmann-Stiftung und Geschäftsführer des Centrums für Hochschulentwicklung, Gütersloh, ehemaliger Wissenschafts- und Gesundheitssenator von Hamburg.

Noch viel länger suchen muss man nach den Geschäftsberichten der Uni. Über google bin ich schließlich auf den Akkreditierungsbericht des Wissenschaftsrats gestoßen. Darin ist u.a. zu lesen:

“Die Studienbeiträge bewegen sich zwischen 12 Tsd. Euro für den konsekutiven Masterstudiengang ´Pflegewissenschaft´ und 48 Tsd. Euro für den Studiengang ´Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde´, jeweils für das gesamte Studium.”

Und:

“Nach einer Ende 2008 drohenden Insolvenz hat die UW/H gemeinsam mit dem Land Nordrhein-Westfalen einen Restrukturierungsplan erarbeitet, der die Wiederherstellung ihrer Ertragskraft in einem Zeitraum von fünf Jahren vorsieht.”

Komischerweise ist unter den Danksagungen der Uni die Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen nicht erwähnt! Auch nicht, dass die Uni allein 2011 4,5 Mio. Euro aus Landeszuschüssen erhalten sollte, wie ebenfalls im Bericht des Wissenschaftsrats nachzulesen ist! Weiter heißt es dort:

“Außerdem wird die Hochschule in absehbarer Zeit nicht auf die Zuwendungen des Landes Nordrhein-Westfalen in Höhe von 4,5 Mio. Euro jährlich verzichten können. Obgleich diese nur bis 2013 zugesichert sind, plant die Hochschule selbst über diesen Zeitpunkt hinaus mit Landesmitteln.”

Und hier fängt die große politische Schweinerei eben an bzw. hört sie hier auf bzw. schließt sich der Kreis: Anders als in Schweden, wo auch Private Schulen und Universitäten betreiben dürfen, aber nach genau den gleichen Kriterien wie die staatlichen (also freier Zugang für alle bei gleicher staatlicher Unterstützung, also wirklicher Wettbewerb; selbst das bleibt allerdings nicht ohne Konsequenzen in Sachen Qualitätsdumping), gerieren sich hierzulande Unis und Schulen als privat und expliziter Gegner des staatlichen Hochschulwesens (die Universität hat sich “gegen die großen staatlichen Universitäten durchgesetzt und behaupten können“), obwohl sie mit Millionen (!) Steuergeldern finanziert werden.

Und dann stellt sich so ein vermeintlicher Ökonom und Philosoph (es ist wirklich irre, wie intellektuell und auch moralisch heruntergekommen auch unser Wissenschaftsbetrieb ist, der darin Politik und vielen Medien in nichts nachsteht) hin, palavert von und plädiert für staatsfeindliche “Reformen”, wird aber von uns, den Steuerzahlern finanziert.

Unser System bzw. das Ineinandergreifen der verschiedenen Systeme – Staat, Politik, Journalismus, Wirtschaft und Wissenschaft – ist wirklich soweit durchdrungen von gesellschaftsfeindlichem Denken bzw. Nichtdenken – denn es fällt vielen überhaupt nicht mehr ein, über das, was sie da vermitteln, überhaupt noch nachzudenken -, dass kaum vorstellbar ist, wie aus diesem Staat wieder ein funktionierendes Gemeinwesen werden soll, so nachhaltig und weitreichend, wie es in Geist und Praxis bereits zerstört ist.

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.


Dieser Text ist mir etwas wert


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