Rente: Politische Lösung der ungleichen Rentenwicklung notwendig – Von Gunnar Winkler, Präsident der Volkssolidarität
Gunnar Winkler

Systematische Beschneidung der gesetzlichen Rentenleistungen

Das Rentenplus von 3,29 Prozent im Osten ist erfreulich und zeigt, was schon in den letzten Jahren möglich gewesen wäre, wenn nicht diverse Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel gewirkt hätten. Die weit unter der Preissteigerungsrate liegende Anpassung in den alten Ländern um lediglich 0,25 Prozent ist aber eine “bittere Pille”.

Es zeigt sich, dass die Kürzungsfaktoren nachhaltig das Rentenniveau absenken – und zwar in West und Ost. Deshalb müssen diese Kürzungsfaktoren weg. Der jetzt zu verzeichnende große Abstand ist nicht das Resultat einer ungerechtfertigten Privilegierung von Ost-Rentnern, sondern das Ergebnis einer systematischen Beschneidung der Leistungen in der gesetzlichen Rente.

Aus unserer Sicht geht es im Einzelnen um Folgendes:

Von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt

1. Die vom Bundeskabinett vorgelegte Rentenwertbestimmungsverordnung 2013 ist Ausdruck einer Gesetzeslage, die von der Volkssolidarität nachdrücklich kritisiert wird. Sie führt nach wie vor dazu, dass das Leistungsniveau der gesetzlichen Rente systematisch abgesenkt wird. So nehmen die Kaufkraftverluste für Rentnerinnen und Rentner zu. Zudem wirkt sich die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise von 2008/2009 bis heute negativ auf die Rentenentwicklung aus.

Besonders trifft dies bei der Rentenanpassung zum 1. Juli 2013 Rentnerinnen und Rentner in den alten Bundesländern, da der Anpassungssatz von 0,25 Prozent weit hinter der Preissteigerungsrate zurückbleibt. Damit bleibt ein Großteil der Rentner von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt.

Die Anpassung der Renten in den neuen Ländern um 3,29 Prozent ist erfreulich. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Angleichung des aktuellen Rentenwerts Ost an den allgemeinen Rentenwert. Dennoch darf dieser Schritt nicht überbewertet werden und dazu verleiten, die “vollständige Angleichung bei den Renten nur noch (als) eine Frage der Zeit“ zu betrachten”, wie es Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen tat (in BILD vom 22. März.2013).

Schließlich ist die nach 23 Jahren deutscher Einheit immer noch bestehende Teilung im Rentenrecht, die sich auch in der Rentenanpassung 2013 manifestiert, nicht nur für viele Bürgerinnen und Bürger in Ost und West schwer nachvollziehbar.

Besorgniserregende Absenkung des Rentenniveaus

2. Die Volkssolidarität ist besorgt, dass das Rentenniveau weiter abgesenkt wird und die Renten weiter an Wert verlieren.

Die Renten verlieren mit der Rentenanpassung 2013 insbesondere in den alten Ländern aufgrund der allgemeinen Preisentwicklung weiter an Realwert. In wichtigen Lebensbereichen für Rentnerhaushalte Preisentwicklungen zu verzeichnen sind, die die durchschnittliche Preissteigerungsrate deutlich übertreffen dürften. Dazu gehören insbesondere Kosten für Gesundheit und Pflege sowie Ausgaben für Energie, Wohnen und Mobilität. Besonders belastend ist der überdurchschnittliche Anstieg der Kosten für Heizung, Strom und Mieten vorwiegend in städtischen Ballungsräumen. Der Anstieg dieser Kosten wird für einen wachsenden Teil der Rentnerinnen und Rentner weder durch die Anpassung 2013  noch durch Transferleistungen wie das Wohngeld aufgefangen, da letzteres sich lediglich auf die Netto-Kaltmieten bezieht. Daher fordert die Volkssolidarität eine Reform des Wohngeldes, damit künftig im Rahmen einer zusätzlichen “Energiekomponente” auch Heiz- und Stromkosten mit berücksichtigt werden.

Erhebliche Kaufkraftverluste

Es ist auch die Rentenentwicklung der vergangenen Jahre zu berücksichtigen. Renten-Nullrunden in den Jahren 2004 bis 2006 und geringfügige Anpassungen unterhalb der Preissteigerungsraten in den Jahren 2007 und 2008 führten bereits zu erheblichen Kaufkraftverlusten der Renten. Selbst die deutliche Anhebung der Renten im Jahre 2009 übertraf nur in den neuen Ländern die für 2008 ausgewiesene Preissteigerungsrate von 2,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Danach erfolgte die Nullrunde 2010, die niedrige Erhöhung 2011 um 0,99 Prozent sowie die knapp unterhalb der Preissteigerungsrate liegende Rentenanpassung 2012. In der Folge ist seit dem Jahre 2000 ein Kaufkraftverlust der Renten von deutlich über 9 Prozent zu verzeichnen.

Kaum spürbare Verbesserungen zu erwarten

Für die kommenden Jahre sind kaum spürbare Verbesserungen zu erwarten. Insbesondere dann nicht, wenn die rentenbegründenden Löhne und Gehälter stagnieren, der Niedriglohnsektor nicht wesentlich abgebaut, kein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt sowie die versicherungsfreien Minijobs in großem Umfang beibehalten werden.

Hinzu kommen Risiken für das Leistungsniveau der gesetzlichen Rente, die sich aus der anhaltenden Sparpolitik der Bundesregierung zu Lasten der Rentenversicherten ergeben. Dazu gehören insbesondere die Streichung der Versicherungsbeiträge für Langzeitarbeitslose seit dem 1. Januar 2011 (ein Minus von ca. 1,8 Mrd. Euro jährlich) und die Kürzung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung in Milliardenhöhe ab 2013 und in den Folgejahren.

Die Volkssolidarität kritisiert ferner die Absenkungen des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 18,9 Prozent, obwohl das verringerte Leistungsniveau in der gesetzlichen Rente die Gefahr künftiger Altersarmut verschärft. Stattdessen wären dringend Maßnahmen erforderlich, um bestimmte Personengruppen besser gegen Altersarmut abzusichern (Erwerbsgeminderte, Langzeitarbeitslose, Niedrigverdiener, prekäre Selbständige).

Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich der in der Vergangenheit eingetretene Realwertverlust der Renten auch künftig fortsetzt. Bei über 20 Millionen Rentnerinnen und Rentnern hat das negative Folgen für die Binnenmarktnachfrage und damit für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Dies betrifft insbesondere Ostdeutschland. Hier hat die Binnenmarktnachfrage für die regionale Entwicklung einen noch höheren Stellenwert hat als in den wirtschaftlich starken, auf Export orientierten Regionen in den alten Ländern.

Zunehmen auch jüngere Jahrgänge betroffen – “Überforderung” jüngerer Generationen ist Irreführung

Von Einbußen sind nicht nur die Bestandsrentner von Einbußen betroffen, sondern zunehmend auch die jüngeren Jahrgänge, die erst in den nächsten Jahren in Rente kommen. Dies zeigt sich bereits heute im wachsenden Rückstand der durchschnittlichen Zahlbeträge von Zugangsrentnern gegenüber den durchschnittlichen Zahlbeträgen von Bestandsrentnern.

Wir halten es für falsch und irreführend, wenn immer wieder behauptet wird, das Rentenniveau müsse über Dämpfungen bei den Rentenanpassungen abgesenkt werden, um die jüngeren Generationen nicht zu überfordern. Vielmehr bestätigt sich, dass Kürzungen bei den Älteren auch die Jüngeren treffen – allerdings mit zeitlicher Verzögerung. Bedenklich ist auch, dass die Legitimation der gesetzlichen Rente durch das sinkende Leistungsniveau gerade bei den Jüngeren abnimmt. Erneut wird sichtbar, dass die Lohnbezogenheit der Rentenanpassungen durch diverse “Stellschrauben” in der Rentenanpassungsformel schwer beschädigt ist und an Wirksamkeit stark eingebüßt hat.

Die Volkssolidarität fordert, diese Faktoren zu streichen und die Lohnbezogenheit der Rentenanpassungen wieder herzustellen.

Lohnbezogenheit der Rente muss wieder hergestellt werden

3. Die Werte für die Lohn- und Gehaltsentwicklung belegen, dass die wirtschaftliche Entwicklung auch positive Effekte auf die Einkommen der versicherungspflichtig Beschäftigten hatte. Wegen der Dämpfungsfaktoren kommt es jedoch nicht in gleicher Weise zu adäquaten Rentenanpassungen.

Die für die Bestimmung der Rentenwerte 2013 maßgebliche Veränderung der Bruttolöhne und –gehälter je Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der Einnahmeentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung ergibt eigentlich ein Plus von 1,50 Prozent in den alten Ländern sowie von 4,32 Prozent in den neuen Ländern.

Durch den “Riester-Faktor” und den Nachhaltigkeitsfaktor wird das auf einen Anpassungssatz von 0,50 Prozent in den alten Ländern sowie von 3,29 Prozent in den neuen Ländern reduziert.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die infolge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise rückläufige Entwicklung der Bruttoentgelte von 0,4 Prozent im Jahre 2009 dank der erweiterten Schutzklausel im Sozialgesetzbuch(SGB) VI (“Rentengarantie”) statt zu einem Renten-Minus zu einer “Nullrunde” führte. In diesem Jahr werden nun die ausgesetzten Kürzungen nachgeholt. In der Folge kommt es zu einem halbierten Anpassungssatz in den alten Ländern von 0,25 Prozent. Dagegen ist der Ausgleichsbedarf in den neuen Ländern bereits 2012 endgültig abgebaut worden, so dass es hier beim Anpassungssatz von 3,29 Prozent bleibt.

Daraus ergibt sich zum 1. Juli 2013 eine Erhöhung des

aktuellen Rentenwerts West              von 28,07 Euro auf 28,14 Euro

aktuellen Rentenwerts Ost                von 24,92 Euro auf 25,74 Euro.

Auch in den Folgejahren soll der bislang nicht realisierte Kürzungsbedarf mit eventuell anstehenden Rentenerhöhungen verrechnet werden. Da der Ausgleichsbedarf in den neuen Ländern mit der Rentenanpassung 2012 bereits vollständig abgebaut wurde, kann er hier nicht mehr mindernd auf Rentenanpassungen wirken.

Angleichung durch schlechtere Lohnentwicklung in alten Ländern

4. Die deutlich höhere Rentenanpassung 2013 in Ostdeutschland steht im Zusammenhang damit, dass die relevanten beitragspflichtigen Entgelte hier stärker angestiegen sind als in den alten Ländern.

In den ostdeutschen Ländern ist das für die Rentenanpassung 2013 maßgebliche beitragspflichtige Durchschnittsentgelt im Jahre 2011 mit 3,1 Prozent deutlich stärker gestiegen als das Durchschnittsentgelt mit 1,98 Prozent. Das ist vor allem eine Folge der zum 1. Januar 2011 angehobenen Beitragsbemessungsgrenze (BBG) Ost um 1.800 Euro. Wegen der krisenbedingt schlechteren Lohnentwicklung West (u. a. durch Kurzarbeit) blieb dagegen die BBG in den alten Ländern unverändert. Hinzu kommt der vollständige Abbau des Ausgleichsbedarfs bereits im Jahre 2012. Negativ wirkt sich in den alten Ländern die schnellere Ausbreitung von Minijobs aus, deren Entgelte ebenfalls bei den beitragspflichtigen Entgelten zu berücksichtigen sind.

Es ist also weniger die erfolgreiche Lohnangleichung Ost an West, sondern vielmehr die krisenbedingt schlechtere Lohnentwicklung in den alten Ländern. Kombiniert mit dem Abbau von “Altschulden” aus der “Rentengarantie” führt diese im Jahre 2013 zu einer deutlich höheren Rentenanpassung in den ostdeutschen Ländern.

Während die monatliche Bruttorente ab 1. Juli 2013 für den so genannten Eckrentnern Ost 1.158 Euro beträgt, liegt sie für den Eckrentner West bei 1.266 Euro. Der Rückstand bei der monatlichen Bruttorente für den Eckrentner Ost verringert sich somit von bisher 142 Euro auf 108 Euro, d. h. um knapp 25 Prozent. Pro Entgeltpunkt sinkt der Rückstand von bisher 3,15 Euro auf nunmehr 2,40 Euro. Damit erreicht der Rentenwert Ost, der momentan noch bei 88,8 Prozent liegt, zum 1. Juli knapp 91,5 Prozent des Rentenwerts West.

Rückstand bei Verdiensten Ost gegenüber West nach wie vor groß - keine Basis für Rentenangleichung

Dass die Lücke nunmehr deutlich kleiner wird, ist nach Jahren der Stagnation bei der Angleichung des Rentenwerts Ost zu begrüßen. Dennoch kann diese wichtige Verbesserung für die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Ländern nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Angleichungsprozess keineswegs automatisch weiter verläuft. Nach wie vor ist der große Rückstand bei den Verdiensten Ost gegenüber denen in den alten Ländern, der vom Statistischen Bundesamt für 2012 mit 34,1 Prozent beziffert wird, besorgniserregend hoch. Das ist kein Anlass, von einer demnächst bevorstehenden Angleichung von Löhnen und Gehältern und somit auch bei den Renten auszugehen.

Nach wie vor werden gleiche Lebensarbeitsleistungen in Ost und West in der Rente unterschiedlich anerkannt und bewertet. Die daraus resultierende materielle Benachteiligung der Rentnerinnen und Rentner in den neuen Ländern ist immer noch bedeutsam. Selbst bei optimistischer Betrachtung ist nicht damit zu rechnen, dass allein die Angleichung der Löhne und Gehälter in den neuen Ländern an das Niveau der alten Länder ausreichend ist, um in absehbarer Zukunft, z. B. bis zum Auslaufen des “Solidarpakts” im Jahre 2019, eine Angleichung des Rentenwerts Ost zu erreichen.

Obwohl die Volkssolidarität dieses Thema auch im “Regierungsdialog Rente” mehrfach angesprochen hat, zeigt die Bundesregierung bisher keinerlei Bereitschaft, für diese Fragen angemessene Lösungsvorschläge vorzulegen. Die im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP vom 26.10.2009 enthaltene Zielsetzung, “die Lebensverhältnisse in Deutschland bis 2019 bundesweit weitgehend anzugleichen” und “ein einheitliches Rentenrecht in Ost und West zu schaffen”, wird somit nicht mehr in der laufenden Legislaturperiode umgesetzt.

Die Volkssolidarität erwartet, dass die politisch Verantwortlichen zu der mit dem Einigungsvertrag 1990 in Art. 30, Absatz 5, übernommenen Verpflichtung stehen, mit der Angleichung der Löhne und Gehälter auch die Angleichung bei den Renten zu vollziehen.

Politischer Handlungsbedarf – Vereinheitlichung des Rentenrechts reicht nicht aus

Es besteht weiterhin politischer Handlungsbedarf: Für die ältere Generation – und  zunehmend auch für die Jüngeren – ist es nach fast 23 Jahren deutscher Einheit nicht mehr hinnehmbar, dass sie mit einer gleichwertigen Rente für eine ansonsten gleiche Lebensarbeitsleistung erst weit nach dem Jahre 2030 rechnen können. Es geht um die Antwort auf die Frage, wie annähernd gleichwertiger Lebensverhältnisse bei den Renten positiv hergestellt werden. Es geht um eine Perspektive für die Angleichung des Rentenwerts Ost innerhalb eines überschaubaren Zeitraums. Dabei ist zu berücksichtigen, dass

– die Renten in Ostdeutschland im Unterschied zur Situation in den westdeutschen Ländern weit über 90 Prozent der Alterseinkünfte ausmachen und Betriebsrenten, Pensionen sowie Kapitaleinkünfte noch auf absehbare Zeit nur eine marginale Rolle spielen;

– die Situation künftiger Renten-Neuzugänge sich in Folge von Arbeitslosigkeit und Niedriglohn-Beschäftigung deutlich verschlechtert.

Ein politisch-parlamentarisch umsetzbarer Vorschlag, um den Rentenwert Ost anzugleichen, liegt vor: Das steuerfinanzierte Stufenmodell der Gewerkschaft ver.di. Es hat wird von weiteren Einzelgewerkschaften im DGB, dem Sozialverband Deutschland (SoVD), dem Bund der Ruhestandsbeamten und Hinterbliebenen (BRH), dem Bundeswehrverband, der Volkssolidarität sowie weiteren Organisationen und Initiativen unterstützt.

Eine gesetzliche Regelung darf sich nicht auf eine Vereinheitlichung des Rentenrechts beschränken, sondern muss zu leistungsrechtlichen Verbesserungen für Bestandsrentner sowie für erworbene Ansprüche der Beschäftigten führen. Zugleich müssen für die Beschäftigten Verschlechterungen beim weiteren Aufbau ihrer künftigen Rentenansprüche (z. B. durch eine generelle Streichung der Umwertung von Ost-Löhnen und -Gehältern für die Ermittlung der individuellen Rentenansprüche nach Anlage 10 des SGB VI) ausgeschlossen werden.

Eine Lösung der Probleme ist möglich. Sie muss politisch gewollt sein. Die Volkssolidarität wird sich weiter dafür einsetzen.

Prof. Dr. Gunnar Winkler ist Präsident der Volkssolidarität (Bundesverband e.V.) und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. Er hat eine eigene Internetseite: www.gunnarwinkler.de.

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.


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