Die “Familienpolitik” im Bayerischen Landtag zu kritisieren ist das eine. Und es zu tun, durchaus berechtigt. Und natürlich ist es richtig, dass die Gesetzgebung, die in diesem Zusammenhang für den Deutschen Bundestag gilt, jene Praxis vermeiden hilft. Sie auch im Bayerischen Landtag anzuwenden, ist daher sicherlich angemessen. Das andere aber ist: Die Parteien und Fraktionen selbst funktionieren im Großen wie bisher der Bayerische Landtag im Kleinen. Sie sind wie eine große Familie. Mit einigen Abstufungen ist es der Politikbetrieb insgesamt.
Und während sich in vielen modernen Familien in den vergangenen Jahrzehnten doch einiges getan hat, sie antiautoritärer geworden sind und ihren Familienmitgliedern mehr individuelle Freiheiten einräumen, sind die etablierten Parteien weiterhin sehr traditionell organisiert. Da wird in der Regel schon zuerst auf die Parteizugehörigkeit geguckt, wenn es um die Einstellung von Mitarbeitern geht. Auch im Deutschen Bundestag. Die Qualifikation ist dann buchstäblich zweitrangig.
Und während in modernen Familien Widerspruch und sogar Aufmüpfigkeit, sei es von Kindern oder unter Erwachsenen, nicht oder zumindest nicht nur als lästig empfunden wird, sondern als Aufforderung und Anregung zur Diskussion und zum Nachdenken, ist das – zurückhaltend formuliert – nicht eben verbreitet in der politischen “Familie”, der Partei und Fraktion. Entsprechend ausgeprägt ist der Konformismus in den Parteien und Fraktionen. Auch in den Abgeordnetenbüros oder den Parteizentralen. Konflikte werden unter der Decke gehalten, Willkür und Fraktionszwänge sind an der Tagesordnung. Und so haben wir “das Prinzip des Politischen in der heutigen Form”, immer noch nicht “durchbrochen”, das Eugen Drewermann im Geiste Hermann Hesses bereits 1995 so kritisch wie präzise zusammenfasste:
“Fraktionszwang, Vereinskonformismus, Loyalitätspflicht, Geschlossenheit demonstrieren, Schulterschluss, Ausschluss von Abweichlern.”
Er schlussfolgerte:
“Es ist gut, aus jeder zweckorientierten Gruppierung fortzugehen, selbst aus dem Eliteorden Kastaliens, weil es anders nicht möglich ist, ein freier, offener, sich entwickelnder Mensch zu werden. Wird man es aber, so relativiert sich der Anspruch des Politischen allein schon durch die Kunst des Müßiggangs, durch das Erleben wirklichen Glücks.” (Eugen Drewermann, Das Individuelle verteidigen, Zwei Aufsätze zu Hermann Hesse, Frankfurt am Main, 1995)
Das ist natürlich ein ganz anderer Individualismus als der, den uns insbesondere die FDP und CDU/CSU, aber mit der Agenda 2010 auch die Sozialdemokraten und Grünen, aufzuzwingen versuchen und damit genau das Gegenteil der von ihnen im Mund geführten individuellen Freiheit praktizieren und gegen die Menschen realisieren. Und nun soll bloß keiner glauben, dass es auf der anderen politischen Seite, der Linken, besser aussähe. Vielleicht ist diese Mentalität sogar bei Sozialdemokraten und Linken besonders ausgeprägt.
Dass in dieser unfruchtbaren Umgebung wenn überhaupt nur wenige politische Alternativen aufblühen, kaum grundsätzlich gestritten wird und die Kluft zwischen politischem Anspruch und parteipolitischer und politisch-individueller Wirklichkeit fast schon unüberbrückbar geworden ist, wie sich nicht zuletzt im Abstimmungsverhalten zu zentralen Gesetzgebungen im Deutschen Bundestag zeigt, nimmt vor diesem Hintergrund nicht wunder. Hier haben wir es freilich mit einem Problem zu tun, das sich nicht so einfach durch ein Gesetz aus der Welt schaffen lässt. Neugierde, Widerspruch und Toleranz kann man schließlich nicht per Gesetz beschließen. Man muss sie mühselig heranbilden.
Davon sind die “Familienpolitiker” in den Parteien und ihren Fraktionen weit, sehr weit entfernt. Vielleicht weiter als jemals seit Bestehen der Bundesrepublik. Denn heute scheint mir ein Phänomen in Parteien erschwerend hinzuzukommen, das nicht neu, in bestimmten Grenzen auch nicht verwerflich ist, aber heute in besonders konzentrierter, inhaltsleerer Form, konzentrierter auch und in den meisten Fällen zugleich wenig qualifizierter als in Unternehmen, auftritt: der politische Karrierismus. Er potenziert noch einmal die oben von Drewermann formulierten “politischen Prinzipien” in besonders negativer Ausprägung und lähmt die dringend benötigte Denkfähigkeit und Meinungsvielfalt im Politikbetrieb. Dagegen ist die nunmehr sicherlich schnell aus der Welt geschaffte “Familienpolitik” im Bayerischen Landtag kaum der Rede wert.
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