Man muss die brutale Staatsgewalt in der Türkei, Syrien, den USA, in Deutschland und anderswo in der Welt zusammendenken

Jedem an einer friedlichen Auseinandersetzung interessierten Menschen muss das brutale Vorgehen Erdogans und seiner Staatsgewalt gegen friedliche Demonstranten erschrecken und betroffen machen. Es macht auch keinen Sinn, Gewalt zu relativieren. Dient dies doch bewusst oder unbewusst nur dazu, Gewalt zu rechtfertigen. Und darin liegt vielleicht die Wurzel allen Übels: Die Anwendung von Gewalt wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Im Gegenteil, jeder Staatenlenker, sei es, dass er ein Land regiert oder auch nur eine Stadt, rechtfertigt den Einsatz von Gewalt, wenn er deren Anwendung auch zeitgleich mit erhobenem Zeigefinger in Richtung anderer staatlicher und nicht-staatlicher Gewalttäter verurteilt.

Noch vor kurzem verurteilte derselbe Erdogan, der jetzt gegen seine eigene Bevölkerung Krieg führt, das Vorgehen Assads in Syrien. Was sollen deutsche Politiker wiederum schon groß einwenden gegen die Gewalt in der Türkei, angesichts der Polizei-Gewalt vor einigen Jahren beim G-8-Gipfel in Heiligendamm oder gegen Gegner von Stuttgart 21 oder erst kürzlich gegen Demonstranten bei Blockupy in Frankfurt, angesichts der zeitgleichen Akzeptanz und Beförderung von Kriegsdrohnen, Guantanamo, der gewaltsamen Verteidigung “deutscher Interessen” am Hindukusch und massiver Waffenexporte in alle Herren Länder?

Es ist die breite und selbstverständliche Akzeptanz von Gewalt, die unsere Zivilisation, die genau deswegen immer noch keine ist, im Grunde genommen keinen Schritt voran gebracht hat bzw. uns immer wieder hinter bereits erreichte diplomatische Errungenschaften zurückfallen lässt. Doch die Gewalt beginnt schon viel früher.

Sie beginnt in Deutschland – und ich beschränke mich hier nur auf einige Gesetzgebungen, die heute noch omnipräsent sind – unter anderem mit Hartz IV, weil hier der einzelne schon hilflos einer anonymen und ungleich mächtigen Staatsgewalt gegenübertritt, ihr per Gesetz ausgeliefert wird. Sie beginnt mit Politikern, Wissenschaftlern und Medien, die eine Politik in Europa befürworten, die Millionen Menschen in Elend und existenzielle Unsicherheit stößt. Sie beginnt mit einer Flüchtlingspolitik, die wiederum das Einzelschicksal rücksichtslos übergeht. Um nur drei wesentliche, die aktuelle Entwicklung bestimmende politische Handlungsmaximen zu den bereits oben genannten hinzuzufügen. Man denke darüber hinaus daran, dass Regierungen aller Couleur es akzeptiert haben und akzeptieren, weil hinnehmen, dass jedes Jahr zehntausende Schüler ohne Schulabschluss und damit ohne wirkliche Chance die Schule verlassen. Hier, in Deutschland. Hauptsache, der Staatshaushalt ist ausgeglichen. Ich könnte mit weiteren politischen Skandalen noch lange fortfahren.

Gewalt beginnt nicht erst mit ihrer offenen Ausübung. Fehlendes Einfühlungsvermögen, fehlende Rücksichtnahme, fehlende Gesprächsbereitschaft, Intoleranz und das offenkundige Unvermögen, mit Macht, selbst, wenn sie formell durch unsere Gewaltenteilung kontrolliert wird, umzugehen, gehen der offenen Gewalt voraus. Dass konsequenter Pazifismus, die Ablehnung jedweder Gewalt, als gesellschaftliche, realpolitische Doktrin bei den Mächtigen in der Regierung und in der Opposition keine nennenswerten Fürsprecher hat, dass nicht über eine Konversion der Militärindustrie in friedliche Industrie überhaupt nachgedacht wird, dass schon gegen friedliche Demonstranten mit brutaler Gewalt auch hierzulande vorgegangen wird, das alles zeigt, dass wir im eigentlichen Sinne immer noch keine “Zivil”-isation sind.

Da ist man schon froh, wenn die deutsche Außenpolitik nicht gleich in das Kriegsgeschrei in Syrien einstimmt, sondern nach wie vor auf Friedensgespräche setzt. Aber das ist schließlich nur ein Tropfen auf einem heißen, einem sehr heißen Stein. Deutschland hätte längst dazu übergehen müssen, seine eigene Gewaltbereitschaft grundlegend in Frage zu stellen. Die deutschen Eliten zeigen sich aber unfähig dazu. Die meisten Bundestagsabgeordneten bewegen sich in einem eigenen Machtvakuum, an das sie sich bewusst oder unbewusst mit aller Macht klammern – mit der Macht der Unterordnung. Dafür lügen sie sich bereitwillig um Kopf und Kragen und ziehen mit Hilfe eigens dafür geschaffener Geschäftsordnungen mit immer fadenscheinigeren, nur auf Selbsterhalt zielenden Abstimmungsverhalten und Erklärungen immer breitere und höhere Mauern um sich herum.

Noch nie waren die Bedingungen für materiellen Wohlstand und gesellschaftliche Teilhabe so günstig wie heute, einfach deswegen, weil trotz aller politisch genehmigter finanzwirtschaftlicher Misswirtschaft, die Möglichkeiten, gesellschaftlichen Reichtum – nicht Überfluss – für alle, materiell und immateriell, zu schaffen, noch nie so groß waren wie heute und diese weiter steigen. Was aber machen die Eliten anstatt diese Bedingungen zu verwirklichen? Sie konzentrieren sich darauf, mit Gewalt für Ruhe und Ordnung zu sorgen und denen zu dienen, die ohnehin schon mehr haben als für sie und die Gesellschaft, den Frieden und die Demokratie gesund ist.

Solange aber werden Ereignisse wie in Heiligendamm, in Frankfurt, in Stuttgart, in der Türkei und überall in der Welt nicht verschwinden, sondern sich häufen. Die Politik müsste diese Ereignisse und ihre Verantwortung dafür zusammendenken. Ein bemannter Flug zum Mars scheint indes in der Zukunft näher zu liegen, als die Umsetzung dieser ebenso naheliegenden wie dringlichen Forderung.

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.


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