Nachgelesen und kommentiert: Krisenpolitik – Ach, wäre die New York Times doch ein deutsches Massenblatt

Heute früh glaubte ich meinen Ohren nicht trauen zu dürfen, als ich im Deutschlandfunk diese Sätze hörte:

“Aus der Sicht ihrer Bewunderer ist die Europäische Union die einzige Kraft, die zwischen ihren Mitgliedsstaaten und den uralten Gefahren von Chauvinismus, Nationalismus und Krieg steht. Das war auch die Botschaft des Nobel-Komitees im vergangenen Jahr. Aber gegenwärtig dient das Projekt EU keineswegs dazu, Demokratie, Liberalismus und Menschenrechte zu stärken. Stattdessen unterzieht es seine schwächeren Mitgliedsstaaten einer außergewöhnlichen Prüfung ihrer Widerstandskraft. Sie führt ein Experiment durch, das immer perverser wird. Das Resultat ist eine Massen-Arbeitslosigkeit, wie es sie in der Geschichte des modernen Europa noch nie gegeben hat. Für die betroffenen Länder ist die Euro-Zone zu einem ökonomischen Gefängnis geworden, mit Deutschland als Wächter und der Gemeinschaftswährung als Gittern. Die Frage ist, ob dies zu einem Aufruhr führen wird. Bisher ist es erstaunlich, wie wenig radikale Bewegungen Fuß fassen konnten und wie selten die politische Gewalt geblieben ist.”

Hatte ich wirklich richtig gehört? Gibt es sie doch noch in Deutschland, Journalisten, die in der Lage sind, einen größeren Bogen zu spannen und nicht nur das Taschenmesser aufzuklappen und in Richtung Süden damit zu stochern? Hat bis heute ein deutscher Journalist die Verleihung des Friedens-Nobel-Preises an die Europäische Union so stark kommentiert und eingeordnet? Nein, das konnte unmöglich sein. Es wäre mir, verzweifelt nach Meinungsvielfalt und journalistischer Größe in den deutschen Medien suchend, nicht entgangen.

Und so hieß es denn auch abschließend: “notiert die NEW YORK TIMES.”

Und wer hat dort kommentiert? Es ist Ross Douthat. Ein konservativer Journalist (ist ja immer wichtig anzumerken für die deutschen Intellektuellen und Meinungsmacher). Und genau das macht über den Inhalt des Kommentars hinausgehend deutlich, wie weit der deutsche Journalismus mit seinem Schubladendenken in “rechts” und “links” und die diesem Schubladendenken geschuldete, einseitige und eben nicht hochwertige und eigenständige Besetzung der Redaktionsstuben für Wirtschaft und Politik, hinter internationale Standards zurückgefallen ist.

Die Bedrohung der europäischen Integration und der Demokratie durch Massenarbeitslosigkeit durchzieht den gesamten Kommentar von Douthat. Wie lächerlich wirkt dagegen ein Marc Beise, der es tatsächlich zum Chef der Wirtschaftsredaktion einer der wichtigsten deutschen Zeitungen gebracht hat. Wie lächerlich wirken dagegen die fünf “namhaften deutschen Ökonomen“, die gestern ebenda ihre Ideologie ein weiteres Mal zum Besten gaben. Wie lächerlich wirkt dagegen die deutsche Politik und die der EU-Kommission, die nach vier Jahren, sich selbst auf die Schulter klopfend, tatsächlich meinen, etwas gegen die Jugendarbeitslosigkeit tun zu müssen – dafür aber bitte nicht mehr Geld als vorgesehen ausgeben wollen. Unter völliger Verkennung des Gesamtproblems der Massenarbeitslosigkeit, ihrer Ursachen, Folgen und Gefahren.

Das alles bestätigt in meinen Augen schließlich auch meine Antwort auf die Frage: Was ist Journalismus?

Quellen:

Deutschlandfunk, Presseschau

New York Times, Ross Douthat, Prisoners of the Euro (Interessant in diesem Zusammenhang auch die ein Jahr zurückliegende Kolumne von Douthat zu lesen: Sympathy for the radical left

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.


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