Rente/Rentenversicherung: “Die wirklich Bedürftigen bleiben alle außen vor” – Im Gespräch mit Ursula Engelen-Kefer

Ursula Engelen-Kefer

Florian Mahler: Frau Engelen-Kefer, laut Jahresstatistik der Deutschen Rentenversicherung erhielt 2012 beinahe jeder zweite Rentner weniger als 700 Euro Rente. Rund 50 Prozent der Alters- und Erwerbsunfähigkeitsrentner müssen mit weniger als der Grundsicherung einschließlich Miete und Heizung, mit Hartz IV also, auskommen. Hinzu kommt, dass die Zahl der Minijobber, die älter sind als 65 Jahre, in den vergangenen zehn Jahren um rund 40 Prozent gestiegen ist. Ist alles jetzt schon viel schlimmer, als die Kritiker der Rentengesetzgebung ohnehin für die Zukunft erwartet haben, und worin sehen Sie die Ursachen?

Ursula Engelen-Kefer: Ich muss sagen, ich bin ziemlich schockiert, über diese doch dramatische Entwicklung nach unten. Ich habe das allerdings immer befürchtet. Das Hauptproblem liegt in dem unverantwortlichen, so genannten Paradigmen-Wechsel im Zuge der Rentenreform. Damals, das war im Jahr 2001, ist durch einen willkürlichen Eingriff in die Rentenformel, das Rentenniveau so stark gesenkt worden, dass wir bereits heute diese verheerenden Auswirkungen haben.

Hinzu kommt, dass wir durch die Hartz-Reformen, zumindest durch einen Teil der Hartz-Reformen, einen Anstieg der prekären Beschäftigung und des Niedriglohnsektors zu verzeichnen haben, wodurch die Spirale weiter nach unten gedreht wurde. Denn es ist notwendige Konsequenz, dass mit der Folge von Minijobs, Leiharbeit, befristeter Beschäftigung und auch dem Missbrauch bei Werkverträgen die Basis für die gesetzliche Rentenversicherung immer stärker durchlöchert und damit diese enorme Altersarmut mit geschaffen wurde.

Heute Mittag hat wiederum die Deutsche Rentenversicherung versucht, zu beschwichtigen, indem sie darauf aufmerksam machte, dass nach wie vor nur zwei Prozent der Rentner über 65 neben ihren Altersbezügen auf eine zusätzliche Grundsicherung angewiesen seien.

Das sind Versuche, die Probleme kleinzureden. Dahinter steht eine ganz klare Interessenrichtung, die ja mit dem Paradigmenwechsel in der Riester-Rente eingeleitet wurde, die nämlich, dass die gesetzliche Rente nicht mehr zum Leben ausreichen muss. Entsprechend wurde das Rentenniveau nach unten manipuliert. Der Ausgleich sollte dann über private, kapitalgedeckte Zusatzrenten erfolgen, die so genannten Riester- und Rürup-Renten. Vor allem, um der privaten Versicherungsbranche ein Zubrot zu gewährleisten. Das Ergebnis zeigt sich jetzt.

Dabei muss man sehen, dass Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung nicht irgendwelche Almosen sind, sondern das sind Ansprüche, die sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch ihre Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung selber erwerben. Wenn nun die Hälfte der Rentner nicht einmal ihren Lebensunterhalt bestreiten kann, dann wird das Vertrauen in die gesetzliche Alterssicherung total unterhöhlt. Das entspricht ja aber durchaus der Absicht derjenigen, denen die solidarischen Sozialversicherungen ein Dorn im Auge sind, weil sie ihnen die Einnahmemöglichkeiten verringern. Das sind die privaten Finanzinstitute.

Die Deutsche Rentenversicherung argumentiert auch damit, dass die niedrigen Renten diejenigen betreffen würden, die nur kurz in das Rentensystem eingezahlt hätten. Ist das aber nicht wiederum Ergebnis der im Rahmen der Agenda 2010 durchgesetzten Arbeitsmarktgesetzgebung?

Das ist das Ergebnis des verheerenden Zusammenwirkens zwischen Riester-Rentenreform und Hartz Gesetzen. Wie sollen denn Menschen mit Minijobs – und wir haben es hier ja nicht mit einem Randproblem zu tun, sondern das sind 7,8 Millionen, zwei Drittel davon Frauen – überhaupt ordentliche Rentenansprüche aufbauen. Für die Langzeitarbeitslosen, die Hartz IV Beziehenden, hat man die Rentenversicherung inzwischen ganz abgeschafft. Und wir haben in der Bundesrepublik nach wie vor eine überdurchschnittlich hohe Langzeitarbeitslosigkeit, auch im Verhältnis zu den EU-Nachbarländern, trotz aller Lobpreisungen über die angeblich hervorragende Beschäftigungssituation in Deutschland. Oder nehmen Sie die Situation vieler in der prekären Selbständigkeit, in Leiharbeit und mit Werkverträgen. Wo sollen denn da durchgehende Erwerbsbiographien herkommen? Die durchgehende Erwerbstätigkeit geht ja im Gegenteil weiter zurück. Weit über 20 Prozent arbeiten in Deutschland im Niedriglohnsektor. Wie sollen die sich vernünftige Rentenansprüche erarbeiten?

Wie kann es sein, dass die Deutsche Rentenversicherung, der es doch um das Wohl der Rentner gehen müsste, die Situation und die Ergebnisse ihrer eigenen Statistik derart zu verharmlosen sucht?

Da stecken wahrscheinlich Repressionen der Politik dahinter, dass hier versucht wird jegliche Aufklärung über die tatsächlichen Folgewirkungen jener falschen, so genannten Reformen zu verhindern. Denn jeder, der sein Leben lang Beiträge eingezahlt hat, müsste sich doch hier zur Wehr setzen. Frau von der Leyen hat es vor einiger Zeit ja einmal gewagt, einige Zahlen hierzu in die Welt zu setzen, dass nämlich auch mittlere Einkommensbezieher auf Grundsicherungsniveau herunterrutschen, und da gab es dann ja auch den Aufschrei der Empörung, dass das alles weit übertrieben und so schlimm doch alles gar nicht sei. Es ist offensichtlich, dass hier versucht wird, Ruhe reinzubringen und davon abzulenken, dass es hier um einen tatsächlichen Paradigmenwechsel geht, aber eben um einen Paradigmenwechsel heraus aus der sozialstaatlichen Solidarität und hinein in die Gewinnoptionen der privaten Finanzbranche. Es gibt kaum eine so wirksame Lobby wie die der privaten Finanzbranche.

Wie sind vor diesem Hintergrund die Wahlprogramme der Parteien zu bewerten hinsichtlich der Rentengesetzgebung?

Da zeigt sich sehr deutlich, dass die Wahlprogramme so etwas sind wie Armutsvermeidungskosmetik und Public Relation. An die wirklichen Probleme trauen sich die Parteien nicht ran. Es ist völlig egal, ob dies die Lebensleistungsrente von Frau von der Leyen ist, die sie ja bisher noch nicht einmal in den eigenen Reihen durchsetzen konnte, oder ob das die Solidarrente der SPD ist. Hier werden Armutsvermeidungsprogramme propagiert, die aber die wirklich Betroffenen überhaupt nicht einbeziehen, weil sie viel zu hohe Hürden setzen und nur für wenige gelten, meistens Männer in besseren Positionen, die überhaupt die langen Erwerbsbiographien, die dafür erforderlich sind, dass man eine vernünftige Rente beziehen kann, erreichen. Die wirklich Bedürftigen bleiben alle außen vor.

Wo müssten die Parteien stattdessen ansetzen?

Zuallererst müsste die willkürliche Verschlechterung der Renten durch die Riester- und Rürup-Faktoren abgeschafft werden und wieder die dynamische, lohnbezogene Rente, so wie sie im Grunde genommen immer angelegt war, wiederhergestellt werden. Alles andere ist ein Herumkurieren an Symptomen und wird der Problematik nicht gerecht.

Dr. Ursula Engelen-Kefer war von 1990 bis 2006 stellvertretende DGB-Vorsitzende und von 1984 bis 1990 Vizepräsidentin der damaligen Bundesanstalt für Arbeit. Von 1980 bis 1984 leitete sie die Abteilung Arbeitsmarktpolitik einschließlich der Internationalen Sozialpolitik beim DGB. Heute arbeitet sie als Publizistin in Berlin (www.engelen-kefer.de). Seit Februar gibt sie Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse und Meinung mit heraus.

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