Gestern früh hatte ich einen offenen Brief an den finanzpolitischen Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Gerhard Schick, verfasst. Anlass war eine Äußerung von ihm zum öffentlichen Sektor in Griechenland. Gerhard Schick hat mir daraufhin noch am selben Tag seine Überlegungen hierzu gesendet, die wir hier veröffentlicht haben. Seine Ausführungen haben mich wiederum zu folgenden Überlegungen angeregt, die ich wiederum in Form des öffentlichen Briefes hier veröffentliche.
Sehr geehrter Herr Schick,
nachdem ich Ihre Antwort gestern veröffentlicht hatte, was mir wichtig war, damit sich die Leserinnen und Leser auch von Ihrer Sicht auf die Dinge ein unvoreingenommenes Bild machen können, habe ich mir nun Ihre Argumentation und die von Ihnen zugrunde gelegten Werte angeschaut. Sie überzeugen mich nicht. Doch zunächst möchte ich Ihnen vor allem eines mitteilen: Dass und wie Sie auf die Kritik und die gestellten Fragen geantwortet haben, finde ich nicht nur inhaltlich interessant, sondern darüber hinaus sehr anerkennenswert, wie auch Ihre einleitende Einstellung gegenüber einem kritischen Journalismus und Ihr Plädoyer für eine ehrliche Analyse der Fakten. Ich halte das vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen und der öffentlich geführten Debatte, wie der dort häufig wahrnehmbaren Kritik(un)fähigkeit von Politikern und mangelnder inhaltlicher Auseinandersetzung, für keineswegs selbstverständlich, sondern, im Gegenteil, für besonders. In dieser Hinsicht fühle ich mich auch in meiner erst jüngst gefällten positiven Einschätzung über die Streitkultur in Ihrer Partei bestätigt. Nun aber zu Ihren Argumenten und zu Ihrer Einschätzung des öffentlichen Sektors in Griechenland.
Beginnen wir mit Ihrer angeführten Graphik. Sie schreiben erklärend zur Graphik: “Setzt man die Kosten des Sektors (als % des BIP) zu seiner Größe (als % der Arbeitsmarkts) ins Verhältnis, ist Griechenland mit großem Abstand einsame Spitze.”
Bevor ich zu den “Kosten des Sektors” etwas sage: Zunächst einmal fällt in der Graphik ja auf, dass Korea (Südkorea) nicht so weit entfernt liegt von Griechenland. Wer sich jedoch etwas mit der Entwicklung Südkoreas auseinandergesetzt hat, weiß, welch bedeutende (positive) Rolle der Staat für den Entwicklungsprozess dort gespielt hat (siehe zum Beispiel die Darstellungen in: Robert Wade, Governing the market, oder Wolfgang Schöller, Isolde Demele, Roald Steiner, Modernisierung oder Marginalisierung) und wohl auch weiterhin spielt. Genauso auffällig ist, um in Europa zu verweilen, dass Portugal, Spanien, Irland, vor allem aber Italien, die allesamt ebenfalls tief in der Eurokrise stecken, nicht so weit von Deutschland entfernt liegen, das ja als wirtschaftlich stark und effizient gepriesen wird und auch bei dem von Ihnen angeführten Korruptionsindex von Amnesty International – zu dem ich weiter unten noch etwas sagen werde – so viel besser abschneidet. Das ruft nicht nur die in meinem offenen Brief an Sie gerichtete Frage wieder wach: “Müssen wir gar davon ausgehen, dass Sie den öffentlichen Dienst in Deutschland, weil er immer noch deutlich mehr Beschäftigte als in Griechenland zählt, auch für überdimensioniert halten und, sollten Sie nach den Bundestagswahlen Regierungsverantwortung übernehmen, weitere Stellen streichen werden?” Ich vermag in dieser Graphik bzw. dem ihr zugrundeliegenden Indikator darüber hinaus keine Erklärungskraft für die Situation, in der Griechenland und andere Länder seit Ausbruch der Eurorkise stecken, zu erkennen.
Die Betrachtung des öffentlichen Sektors ist aber offensichtlich nicht nur eine Frage der Werte, die sich in Zahlen ausdrücken, sondern auch eine der Werte, die sich in Worten ausdrücken. Wenn Sie nämlich schreiben, dass der öffentliche Sektor “13,6 % der Wirtschaftsleistung für Gehälter der Staatsdiener verschlingt“, so verrät das in meinen Augen doch auch, dass Sie wiederum den Staat als jemanden sehen, der den Menschen vor allem etwas von Ihrer Leistung nimmt. Auch das in Deutschland eine von Politikern, Medien und Wirtschaftswissenschaftlern gleichermaßen gern und weit verbreitete Sicht.
Die im öffentlichen Sektor Beschäftigten geben ihr Geld aber auch wieder aus, was überwiegend privaten Unternehmen, den dort Beschäftigten und schließlich auch wieder dem Staat in Form von Steuereinnahmen zu Gute kommt. Und der Staat gibt wiederum Geld für materielle Infrastruktur, Bildung, Forschung und soziale Sicherung aus, was ebenfalls den Menschen und den privaten Unternehmen zu Gute kommt, die die Aufträge vom Staat erhalten oder diese Infrastruktur und gut ausgebildete Menschen nutzen. Deswegen führt der Begriff “Kosten des Sektors” auch in die Irre. Hier wie anderswo gilt: Die Ausgaben (Kosten) des einen, sind die Einnahmen des Anderen. Zusammen stiften sie gesellschaftlichen Wohlstand.
Ihr Verweis, dass Griechenland darin – im “Verschlingen” von Gehältern für Staatsdiener – nur noch von den skandinavischen Staaten “überholt” werde, unterstreicht meine Sicht da doch nur. Denn, wie schon in meinem offenen Brief an Sie am Beispiel Dänemark angeführt, gelten diese Staaten ja nicht umsonst als Beispiel für funktionierende Staatlichkeit, die eben darüber, dass sie den Menschen und Unternehmen ja auch viel zurückgibt, die Wirtschaftsleistung selbst wiederum positiv beeinflusst.
Und muss es nicht umgekehrt vielmehr Sorge bereiten, wie weit abgeschlagen nach eben jener von Ihnen angeführten Statistik Deutschland bei der Bezahlung seiner Beschäftigten im öffentlichen Dienst liegt (siehe Graphik unten)? Die einseitige Sichtweise auf die “Kosten des Sektors” versperrt den Blick hierfür. Trotz seiner im internationalen Vergleich schon im Jahr 2000 ausgesprochen gering ausgefallenen “Kosten” für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, haben rot-grüne und rot-schwarze Regierungen in Deutschland diese bis 2009 laut OECD weiter gesenkt (wobei sicher zu berücksichtigen ist, dass 2009 kein optimales Jahr für den Vergleich ist, weil hier bekanntlich der ausgeprägte Wirtschaftseinbruch eine Rolle spielt; der betraf jedoch mehr oder weniger alle Länder und ändert auch nichts am Gesamtbild, das sich ja nicht so sehr vom Jahr 2000 unterscheidet). Man beachte zudem auch Frankreich, das direkt neben Griechenland platziert ist. Frankreich liegt bei den Personal-”Kosten” ungefähr gleichauf mit Griechenland; bei den “Kosten” für vom Staat angebotene Güter und Dienstleistungen liegt Frankreich sogar deutlich höher als Griechenland. Die nicht eben den Staat als wirtschaftlichen Akteur hofierende OECD schreibt hierzu völlig richtig abwägend, dass höhere oder steigende “Kosten” eben auch auf ein höheres oder steigendes Angebot staatlicher Güter und Dienstleistungen zurückgeführt werden können. Das sagt doch sehr viel, wenn man bedenkt, wie Deutschland sich seit geraumer Zeit anmaßt, Druck auch auf Frankreich auszuüben, was den Abbau staatlicher Leistungen anbelangt.
Zum selben Ergebnis gelange ich, wenn ich Ihr Argument des Personalmanagements aufgreife und näher betrachte. “Denn das Land ist Schlusslicht, was das Nutzen von modernen Personalmanagementmethoden angeht (s. hier) und verfolgt noch ein System des ´Einmal-drin-nie-mehr-raus´ (s. hier), was die Entwicklung eines reinen Klientelsystems erleichtert”, schreiben Sie über Griechenland.
Zunächst: “Einmal-drin-nie-mehr-raus” könnte ja auch, positiv, wenn auch eventuell etwas “altmodisch” anmutend, bedeuten: Beschäftigungssicherheit. Auch ein Stück Lebensqualität, wie viele Arbeitnehmer und Arbeitslose besonders seit der Agenda 2010 sehr zu schätzen wissen bzw. wüssten. Ein Blick auf den von Ihnen zur Verfügung gestellten Link zeigt jedoch, dass Griechenland beim Personalmanagementsystem keineswegs so weit mit Deutschland auseinanderliegt, das ebenfalls recht deutlich unter dem OECD Durchschnitt liegt; Dänemark, das ja die höchsten “Kosten” sowohl bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst als auch bei den “Produktionskosten” des öffentlichen Dienstes insgesamt ausweist, steht hier jedoch besser da als Deutschland. Die Ukraine steht ebenfalls laut diesem Indikator deutlich besser da als Deutschland. Kann das alles irgendwie zur Erklärung der Eurokrise beitragen und helfen, einen Handlungsbedarf insbesondere für den öffentlichen Sektor in Griechenland herzuleiten?
Bei den ebenda abgebildeten Arbeitsstunden zeigt sich übrigens, dass die Griechen im öffentlichen Dienst mehr arbeiten als die Beschäftigten in vorbildlichen Sozialstaaten wie Dänemark und Finnland, auch mehr als in Frankreich und Italien – allerdings weniger als in Deutschland (1). Ist das nun ein griechisches oder ein deutsches Problem? Es ist derzeit ein griechisches, weil die Deutschen sich das Recht herausnehmen, ihre in den vergangenen Jahren verschlechterten Arbeitsbedingungen (nicht nur im öffentlichen Dienst) auf den Rest Europas zu übertragen. Für die Beschäftigten in Deutschland ist es freilich spätestens seit der Agenda 2010 auch ein Problem, weil man eben auch hier wohl meinte und meint, die Staatsdiener wie die Arbeitnehmer generell würden zu viel Geld verschlingen.
Was nun den Korruptionsindex anbelangt: Das finde ich auf den ersten Blick noch am überzeugendsten. Und wir sind uns natürlich einig, dass Korruption zu vermeiden ist. Allerdings würde ich auch hier zu bedenken geben: Das vermeintlich wirtschaftlich so gut aufgestellte Deutschland liegt doch ziemlich weit abgeschlagen hinter Dänemark und Finnland, um nur die besten europäischen Länder zu nennen. Und wiederum stellt sich die Frage: Warum sollte dieser Index die Krise erklären helfen, wenn Griechenland sich zuvor doch deutlich besser – auch im Vergleich zu Deutschland (siehe meinen Link dazu im offenen Brief an Sie) – entwickelt hat?
Der Korruptionsindex selbst wirft darüber hinaus doch Zweifel an seiner Seriösität auf, sobald man sich dessen Entwicklung anschaut und nicht nur den Wert aus dem aktuellen Jahr. Kann es irgendwie mit rechten Dingen zugehen, dass Griechenland 2007 noch auf Platz 56 landete; 2008 sich um einen Platz auf 57 verbesserte, sich dann aber 2012 37 Plätze weiter unten auf Platz 94 wiederfindet (2009: Platz 71; 2010: Platz 78; 2011: Platz 80). Was ist hier wohl Ursache und was Folge der Krise, wenn denn überhaupt an diesem Indikator zur Erklärung der Situation Griechenlands nach Ausbruch der Eurokrise etwas dran sein soll? Ich wäre daher auch – schon allein wegen der schlimmen Wirkung, die solche Aussagen gerade in der gegenwärtigen Situation erzielen – vorsichtig mit dem von Ihnen auf Basis des Korruptionsindexes geäußerten Vorwurf: “Griechenland gilt als das korrupteste Land Europas.”
Aufmerksame Beobachter kennen dieses Phänomen, dass die Korruption plötzlich zum Erklärungsmoment gereicht, aus der Asienkrise. Dieser Vergleich ist auch insofern interessant, als er eine weitere zentrale Parallele zur Eurokrise ausweist. Auch die Asienkrise war nämlich eine Währungskrise. Durch die Dollaranbindung bei gleichzeitig unterschiedlicher Inflationsentwicklung hatten viele asiatische Länder aufgewertet und Leistungsbilanzdefizite angehäuft. Eine ähnliche Entwicklung konnten wir beim Vorgänger des Euros, dem Europäischen Währungssystem (EWS), beobachten. Da hatten sich beispielsweise in England und Italien die Inflationsraten über die vorgegebenen Bandbreiten der Währung hinaus entwickelt und die Währungen um, wenn ich mich recht erinnere, ziemlich exakt 25 Prozent aufgewertet und die Länder entsprechend hohe Leistungsbilanzdefizite erzielt; nachdem sie daraufhin aus dem EWS ausgeschert waren, haben die Währungen um exakt diesen Unterschied abgewertet und einen Ausgleich in der Wettbewerbsfähigkeit und in den Leistungsbilanzen herbeigeführt.
Bezeichnend: Plötzlich hieß es, ähnlich vielleicht wie heute in Griechenland:
“Der Weltbankbericht über das East Asian Miracle von 1994 erwähnte es nicht einmal. Erst die ´Asienkrise´ rückte das Problem in jener Region wieder in den Vordergrund. Nun wurden die dortigen Staaten für deren weite Verbreitung und den Crony-Kapitalismus gescholten, Korruption für die Krise mit verantwortlich gemacht. Ein Blick auf die aktuelle Entwicklung weist tatsächlich auf eine Massierung von Korruptionsfällen hin”, schrieb beispielsweise der Politikwissenschaftler Thomas Heberer noch 2002.
Oder, wie das Institut der Deutschen Wirtschaft ebenfalls noch 2002 anlässlich einer Konferenz zu “Korruption in Asien: 4. Duisburger Ostasientag” ankündigte: “Die ´Asienkrise´ hat verdeutlicht, welche Folgen bestimmte Formen der Korruption in Wirtschaft und Politik mit sich bringen können.”
Korruption zu bekämpfen ist auch in meinen Augen wichtig. Zur Erklärung der Eurokrise wie zur Argumentation für einen möglichst kleinen und vor allem effizienten Staat, taugt sie in meinen Augen nicht.
Danke noch einmal für Ihre Überlegungen, die mich zu den obigen Ausführungen angeregt haben. Ich würde mich auch freuen, wenn Sie auf Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung und unseren Gedankenaustausch zum öffentlichen Sektor aufmerksam machen; noch mehr natürlich, wenn Sie bzw. Ihre Fraktion und Partei Wirtschaft und Gesellschaft abonnieren und damit unsere Arbeit und dieses Medium unterstützen.
Freundliche Grüße,
Florian Mahler
(1) Die OECD schreibt hierzu: “The total amount of time spent working during a year is an indicator of the overall working conditions in the civil service and is critical when comparing compensation packages.”
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