Die spätrömische Dekadenz lebt weiter … Von Inge Hannemann

Inge Hannemann

Der Ratgeber “Arbeitslosengeld II” des Jobcenters Pinneberg (Schleswig-Holstein, Rande Hamburg) sorgte in den letzten Tagen für großen öffentlichen Wirbel. Heinrich Alt, Vorsitzender Grundsicherung der Bundesagentur für Arbeit, twitterte: “Jobcenter Pinneberg hat einen tollen #ALG2 Ratgeber herausgegeben.” Politiker, Erwerbslose und deren Verbände sprechen von Diskriminierung, Peinlichkeit und beschämend. Selten hat es ein Jobcenter in so rasender Geschwindigkeit in die Medien bis ins Ausland geschafft.

Die Objektivität verbietet es, zunächst den 112-seitigen Ratgeber komplett zu verteufeln. Ist es doch erst mal positiv zu sehen, dass sich Jobcenter-Mitarbeiter, außerhalb des Sozialgesetzbuch II Gedanken machen. Wird ihnen doch sehr gerne vorgeworfen, dass sie sich mehr um ihren Kaffee oder der strikten Umsetzung der Geldkürzungen kümmern, als sich um ihre sogenannten “Kunden”. Weiterhin zeigt der Ratgeber, dass durchaus die Erkenntnisvorhanden ist, dass den Menschen Wissen leichter über Bilder erreicht und somit besser im Gedächtnis bleiben. Neben all den Tipps zu Bewerbungsschreiben folgen Hinweise zu Beratungsstellen des Landkreises Pinnebergs. Eine Menge geballter Eigeninitiative, wäre da nicht doch etwas. Und dieses Etwas wiegt schwer bei den Gefühlen und dem daraus entstandenen fragenden Verständnis bei den Kritikern.

Die fiktive Familie Fischer, Vater rutscht in Hartz IV und durchläuft einen Weg im Jobcenter, den es so kaum in der Realität gibt und geben wird. Der Vater erhält ohne Probleme einen teuren SAP-Kurs und die Mutter einen Business-Englischkurs. Die Tochter wird Vegetarierin, weil Fleisch nicht mehr finanzierbar ist. Und der Sohn träumt von einer Gitarre, sofern die Familie ihre Möbel versteigert. Dass sie nebenbei ihre gewohnte Umgebung, durch den durch das Jobcenter erzwungenen Umzug verlassen müssen, scheint niemanden zu stören. Das Trinken von Leitungswasser entlastet den Rücken, da selbst Mineralwasser zu teuer sei und somit keine Flaschen geschleppt werden müssen. Und mit Glück hat die neue Wohnung keine Badewanne, da duschen sowieso günstiger sei. Spartipps, die bekanntlich in vielen Broschüren zu finden sind. In einem Ratgeber für Erwerbslose in den Jobcentern, klingen sie jedoch höhnisch und bevormundend. Fantasiebilder einer glücklichen Familie, da die Hilfe unkompliziert und unbürokratisch, so scheint es, geleistet wird. Alles ist möglich mit dem Jobcenter Pinneberg. Dabei wird vergessen, dass Fischer mit 50+ zum “alten Eisen” auf dem Arbeitsmarkt gehört und gerade diese mehrheitlich dauerhaft in Hartz IV bleiben.

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Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.

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Den Lesern wird suggeriert, dass das Leben in der Abhängigkeit eines Jobcenters einfach und spaßig sei. Wünsche, wie teure Computerkurse, werden einem selbstverständlich erfüllt und der deutsche Michel glaubt alles, was das Jobcenter geduldig und stets lächelnd erzählt. Dabei stört es nicht, dass die Informationen zum Teil nicht stimmen oder vieles ignorieren. Beim genauen Hinsehen lässt sich feststellen, dass die Bestimmungen zumeist zu Gunsten des Jobcenters ausgelegt sind. Die Unterschrift der Eingliederungsvereinbarung wird zur Pflicht und Datenschutzbestimmungen der Einsicht von Kundendaten selbstständiger Erwerbsloser werden ignoriert. Selbstverständlich reichen die monatlichen zehn Euro des Bildungspakets aus, um den Gitarrenunterricht und Volleyballtraining der Kinder zu finanzieren. Auch hier wird vergessen, dass die Musikschule oder ein Sportverein um ein vielfaches teurer ist.

Und hier beginnt die Gefährlichkeit für unwissende Leser. Es wird eine Märchenwelt aufgebaut, die es so nicht gibt. Die jedoch genau das vermittelt, was der große Tenor in der Außenwelt darstellt: Suhle dich in Hartz IV und dein Leben ist schön. Eine Sprache des Boulevards, in der Erwerbslose als Sozialschmarotzer und unwillig vorgeführt werden. Eine Sprache, die bei den Tipps zugibt, dass Hartz IV, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, bei weitem nicht ausreicht. Aber zum Glück gibt es Ebay und Leitungswasser. Und morgen ist ein neuer Tag!

Inge Hannemann ist als Arbeitsvermittlerin für arbeitsuchende Menschen in einem Jobcenter tätig. Seit rund 15 Jahren begleitet sie die Struktur der Agentur für Arbeit und seit der Einführung der Arbeitsmarktreform 2005 die Entwicklung der Jobcenter. In ihrer Freizeit betreibt sie ihre eigene Internetseite: www.ingehannemann.de.


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