“Ich stelle Ihnen mal eine Frage. Ich war ja einmal sechs Jahre lang – ehrenamtlich möchte ich hinzufügen – für den Bundesverband der Deutschen Industrie. Wir hatten damals, als ich begann, eine Textilindustrie mit 700.000 Beschäftigten. Heute sind es noch 50.000. So, jetzt stellen Sie sich mal vor, wir würden hier jetzt sitzen, ohne die Klamotten, die aus dem Ausland kommen. Die Textilindustrie ist weg, meine Damen und Herren. Sie ist weg, sie ist verschwunden. Was kaufen Sie den bei Media Markt, was kaufen Sie denn, wenn Sie bei Karstadt-Quelle sind, was erleben Sie denn, wenn Sie bei Tchibo reinkommen? Sie finden doch gar nichts mehr von Made in Germany….“ Soweit Hans-Olaf Henkel am 15. März 2011 bei einer Podiumsdiskussion zur Zukunft der Eurozone mit Gustav Horn, Heiner Flassbeck und Stephan Schulmeister. Gustav Horn wenig später zu Henkel: “Sie sagen, die Textilindustrie in Deutschland ist verschwunden. Gut, die ist weg.“
Es war eine hitzige Debatte. Und das eigentlich interessante Phänomen, das sich mit der Argumentation Henkels zur Textilindustrie verbindet, stand darüber hinaus nicht direkt im Mittelpunkt der Diskussion. Und dennoch. Indem Henkel damit gegen die Problematisierung der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse Stellung bezog, lieferte er den Stoff für ein Grundsatzproblem im Verständnis von wirtschaftlicher Entwicklung, in dessen Zentrum wiederum der Lohn als Kostenfaktor steht. So leichtfertig, wie Horn Henkel im Fall der Textilindustrie – und nur im Fall der Textilindustrie – zustimmte, wäre ich freilich nicht gewesen. Umso mehr ärgerte es mich als Zuhörer, der dieser Diskussion beiwohnte, nicht die aktuellen Zahlen parat gehabt zu haben. Jetzt aber, weil wir in verschiedenen Beiträgen Deutschlands Stellung im Welthandel thematisiert haben, wie auch die Entwicklung und Struktur des Außenhandels zur Erklärung anderer internationalen Probleme, wie beispielsweise Ägyptens, lag es nahe, dieses Defizit endlich aufzuarbeiten.
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Schon im Saal erinnerte ich mich, dass die alte Bundesrepublik trotz hoher, vielleicht sogar weltweit höchster Geldlöhne zugleich weltweit größter Textilexporteur gewesen war. Bereits Ende der 1980er Jahre galt die westdeutsche Textilindustrie dabei, wie ich jetzt noch einmal nachgelesen habe, als äußerst kapitalintensiv, “dessen Lohnkostenbelastung trotz der weiter gestiegenen Löhne auf 7-15% zurückgegangen ist. Das Hochlohnland Bundesrepublik konnte so zum größten Textilexporteur der Welt aufsteigen.” (Isolde Demele, Wolfgang Schöller, Roald Steiner, Modernisierung oder Marginalisierung, Frankfurt am Main, 1989)
Jetzt habe ich mir die deutsche Textilindustrie und deren Stellung im Welthandel einmal etwas genauer angeschaut. Es folgt ein ausführlicherer Beitrag in Kürze (im Abonnement). Das ist deswegen interessant, weil Stand und Entwicklung Rückschlüsse erlauben, die über diesen Sektor und über Deutschland hinaus reichen. Nur so viel sei schon vorweggenommen: Verschwunden ist die deutsche Textilindustrie nicht.
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