Groß ist der Reiz, zuerst die Kapitel über Syrien aufzuschlagen. Kann Jürgen Todenhöfer meine Neugierde stillen, meinem bescheidenen Wissen zu dem dort herrschenden Krieg ein Fundament geben, einem Krieg, der sich von Demonstrationen über einen Bürgerkrieg längst zu einem internationalen Konflikt ausgeweitet hat, und dem ich nichts entgegenzustellen weiß, als meine pazifistische Grundhaltung? Gestern Mittag habe ich die Lektüre des gerade erschienenen Buches von Jürgen Todenhöfer begonnen, und gestern Nacht habe ich sie beendet. Es war mir unmöglich, das Buch vorher aus der Hand zu legen. Heute früh höre ich in den Nachrichten, dass der Frieden in Syrien und darüber hinaus doch noch eine Chance bekommen hat, der Militärschlag der USA nicht länger unmittelbar bevorsteht. Obama, der Friedensnobelpreisträger und Oberbefehlshaber der Armee ist, die auch unter seiner Führung und auf seinen Befehl den Krieg weltweit als Mittel zum Frieden begreift, droht zwar weiter. Aber er steht mit dem Rücken zur Wand. In seinem eigenen Land. Denn die amerikanische Bevölkerung ist weiter als ihr Präsident. Sie glaubt nicht mehr an den Krieg. Und ausgerechnet Russland – aus welchen Motiven auch immer – drängt, anders als der amerikanische Präsident – aus welchen Motiven auch immer -, auf Verhandlungen und hat eine neue Erfolg versprechende Initiative angestoßen: das syrische Chemiewaffenarsenal unter internationale Kontrolle zu stellen. Der amerikanische Präsident meint, dass es ohne seine Androhung eines Militärschlags dazu nicht gekommen wäre. Er hat immer noch nicht verstanden. Umso wichtiger ist es nun, dass die syrische Seite bzw. die syrischen Seiten, die russische und die iranische Seite überzeugen, dass Frieden zu schaffen ohne Waffen möglich ist.
Dass dieser Traum vom Frieden Wirklichkeit wird, ist, man darf es wohl so nennen, nachdem er sein Leben nun schon so unendlich lang in den Dienst dieser wichtigsten Sache der Welt gestellt und nicht selten aufs Spiel gesetzt hat, Todenhöfers Lebenswerk. “Du sollst nicht töten – Mein Traum vom Frieden” heißt sein neues Buch. Und ich zwinge mich, nachdem ich das umfangreiche Inhaltsverzeichnis gesichtet habe, eben nicht mit Syrien zu beginnen. Ich möchte von ihm an das Thema herangeführt werden, so, wie er es sich mit dem Aufbau seines Buches gedacht hat.
Es beginnt im Bürgerkrieg Libyens, der, wie heute der Krieg in Syrien, längst kein Bürgerkrieg mehr ist, sondern ein internationaler. Todenhöfer ist mit Freunden, Kollegen unterwegs nach Brega, das in den Händen der “Rebellen” liegen soll, aber, entgegen aller vorher eingeholten Informationen doch noch nicht ist, erst Recht ist es nicht der Weg dorthin. Es ist Montag, der 14. März 2011. Diese Erzählung kenne ich bereits in Teilen. Denn auf der Leipziger Buchmesse desselben Jahres sitzt mir ein sichtlich betroffener Jürgen Todenhöfer auf dem “Blauen Sofa” gegenüber. Er ist gerade zurück aus Libyen und führt ein wunderbar ausführliches Gespräch mit Anette Riedel vom Deutschlandfunk. Er erzählt von seinem Freund Abdul Latif, den er auf dieser Fahrt nach Brega durch einen Raketenangriff verloren hat. Dieser Verlust, die Verantwortung, die Todenhöfer für dieses Leben mit übernommen hat, hat ihn bis heute nicht losgelassen. Abdul Latif lebt in diesem Buch Todenhöfers weiter, dem er es auch gewidmet hat. Auch in jenem Krieg gab es in unseren Nachrichten einen klares Gut und Böse. So wenig mir Westerwelle innenpolitisch nahe steht, so sehr habe ich damals seine Distanz zu den Militärschlägen der NATO geachtet. Heute, im Fall Syrien, zeigt Westerwelle leider, dass er nicht wirklich souverän gegen den Einsatz von militärischer Gewalt ist. Warum ist von ihm und der Kanzlerin nicht eine Initiative ausgegangen, wie sie jetzt die russische Seite vorgeschlagen hat?
Todenhöfer führt seine Schilderung des Raketenangriffs nicht zu Ende. Erst später greift er diese wieder auf. Stattdessen erzählt er von seinen frühen Begegnungen mit dem Krieg. Wie er als kleiner Junge das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt, mit der Zerstörung Hanaus. Wie er als Student den Krieg in Algerien miterlebt. Damals wie heute war er immer darum bemüht, sich selbst ein Bild zu machen, ist in den Krieg hineingegangen, nicht als Soldat, sondern als Beobachter und als Freund der Menschen, die ihn nicht immer gleich als Freund erkannten. Diese Einblicke in seine frühen Erfahrungen mit dem Krieg, die sich im Afghanistan-Krieg der Sowjets, im Afghanistan-Krieg George W. Bush weiter vertiefen, lassen es wie ein Wunder erscheinen, dass Todenhöfer aus all diesen Mördergruben immer wieder lebend herausgekommen ist. Immer wieder frage ich mich während der Lektüre: Muss das sein? Kann man den Krieg nicht auch ohne diese Erfahrungen ablehnen und sich gegen ihn engagieren, erklären, dass nur der Krieg der Gegner sein darf, nicht aber irgendeine Kriegspartei? Muss ich erst selbst diese grausamen Bilder sehen, diese grausamen Erlebnisse durchleben, um andere davon zu überzeugen, dass Krieg unter keinen Umständen zu rechtfertigen ist? Reicht nicht allein die Angst davor aus, jemand anderen zu verletzen, um nicht zu schlagen, zu schießen, zu bomben? Es sollte reichen. Aber so werden wir nicht erzogen. Immer noch nicht. Immer noch wird Gewalt legitimiert, nicht selten sogar verherrlicht. Nicht Ghandi, der für Todenhöfer ein Vorbild ist, bestimmt unsere Erziehung, sondern falscher Ehrgeiz, Konkurrenz, Macht und Gewalt, die Vorstellung von gut und böse. Nein, es geht nicht ohne die Todenhöfers, von denen es nur so wenige gibt, die buchstäblich einsamen Rufer in der Wüste, die sich selbst in Gefahr begeben, um sich selbst ein Bild zu machen und sich so in die Lage versetzen, auch anderen ein Bild vom Krieg zu vermitteln, das sich so ganz anders darstellt, als es die Leitmedien und Regierungen uns weiß zu machen versuchen. Der zentrale Unterschied: Todenhöfer zeigt den Menschen, den Einzelnen, die Familien, die Verletzlichkeit derjenigen, die unschuldig in jeden Krieg hineingezogen, ihm und seinen Zielen geopfert werden. Das Beeindruckende: Die, die dem Krieg zum Opfer fallen, können verzeihen, können sich versöhnen. Die, die sie zu Opfern machen, können das zumeist nicht und wenn erst, wenn es schon tausende, zehntausend und Millionen Opfer gegeben hat.
Als Abdul Latif noch lebt, bevor ihn die Rakete aus irgendeinem profitträchtigen Rüstungsgeschäft trifft – Rüstungsgeschäften, an denen auch Deutschland mit Zustimmung der Regierungen, egal ob diese SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP stellen, weltweit so viel Geld verdient -, diskutiert er mit Todenhöfer eine Alternative zur sich anbahnenden Intervention der NATO in Libyen: “…Die Alternative zur militärischen Intervention sei eine diplomatische Offensive. Ban Ki-moon, der sich bisher meist nur als Angsthase profiliert habe, müsse in Begleitung von Blauhelmen sofort nach Bengasi – als persönlicher Garant für die Sicherheit der Bevölkerung. Sarkozy und Berlusconi, die bekanntlich gute Freunde Gaddafis seien, müssten gleichzeitig zu Gesprächen nach Tripolis. Gaddafi werde sich diesen Verhandlungen nicht entziehen…Diplomatie und Abschreckung seien sinnvoller als Militärschläge der NATO.” Wie einleuchtend für die, die den Frieden mit friedfertigen Mitteln zu erreichen suchen, die wissen, dass Krieg, egal von welcher Seite aus und mit welchen Argumenten ins Feld geführt, immer tötet, verstümmelt, Lebensträume vernichtet – wie abwegig angesichts der Auffassung derer, die über Krieg und Frieden entscheiden. Wo ist Ban Ki-moon heute? Er zog es, wenn ich mich recht erinnere, vor, nach Südkorea zu reisen, nicht nach Damaskus, als die Situation in Syrien weiter eskalierte. Wo sind die diplomatischen Bemühungen Westerwelles und Merkels, Gabriels, Steinbrücks und Steinmeiers, Trittins? Warum reisen sie nicht zu Assad und reden mit ihm, reden ihm auch ins Gewissen, anstatt ihn auszugrenzen und zum Dämon zu stilisieren; warum unternimmt dies nicht ein einzelner Abgeordneter? Jeder Hinterbänkler kann, soweit es ihm die eigenen Mittel erlauben, eine Initiative ergreifen, sich in den Dienst der Bevölkerungsmehrheit stellen, die den Frieden will und den Krieg und Militärinterventionen ablehnt? Todenhöfer zeigt, dass es geht. Er hat dies auch bereits in seiner Zeit als einfacher Bundestagsabgeordneter getan. Schon als Student hat er sich angesichts der Kriegsgreuel in Algerien gefragt: “Warum ist das, was im eigenen Land ein schändliches Verbrechen ist, außerhalb der Grenzen eine Heldentat? Das wurde zu einer der wichtigsten Fragen meines Lebens”, schreibt Todenhöfer rückblickend in “Du sollst nicht töten”. Die zentrale Frage eines gewöhnlichen Bundestagsabgeordneten scheint aber damals wie heute zu sein: Wie sicher ich mir mein Mandat für die nächste Legislatur? Und dafür heißt es mitzustimmen, nicht nur in der Frage von Krieg und Frieden, auch in der Frage der sozialen Sicherungssysteme, der inneren Sicherheit. Dieselben Abgeordneten versuchen dann ihr Gewissen damit zu beruhigen, dass sie ihrer eigenen Entscheidung über Leben und Tod und soziale Unversehrtheit mit einer Erklärung nach der Geschäftsordnung des Bundestages widersprechen. Das aber ist gerade gewissenlos. Jeder Bundestagsabgeordnete, der für die Einsätze in Afghanistan gestimmt hat, ist für Kunduz und all die Einzelschicksale, die dieser Krieg zerstört hat und die Todenhöfer so bewegend schildert, verantwortlich. “Wissen unsere Kriegspolitiker, was sie tun?”, fragt Todenhöfer. “Waren die stolzen Kriegsherren in Ost und West jemals in Kinderkrankenhäusern der Länder, die sie bombardierten?” Muss man tatsächlich erst dort gewesen sein, um zu verstehen?
Krieg ist für Todenhöfer “das größte aller Verbechen”. “Fassungslos macht mich die Unterwürfigkeit, mit der manche deutsche Politiker sich an diesem Krieg beteiligten. Hatten nicht alle Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg geschworen: ´Nie wieder Krieg!´? Wie konnte es dazu kommen, dass Willy Brandts Friedenspartei, Hans-Dietrich Genschers Gewaltverzichtspartei und auch die CDU/CSU fast blind mitmarschierten? Dass die Grünen, die versprochen hatten Schwerter zu Pflugscharen umzuwandeln, nicht die Kraft zu einem klaren Nein gegen den Krieg fanden?”
Todenhöfer meint den Krieg in Afghanistan, die Beteiligung Deutschlands und das Abstimmungsverhalten deutscher Politiker im Deutschen Bundestag, das dieser Beteiligung gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit den Weg ebnete. “Alles an diesem Krieg war falsch”, schreibt Todenhöfer: “Welch eine Torheit, mit Flugzeugträgern, Jagdbombern und Panzern auf Fuchsjagd zu gehen!”
“Nein”, schreibt er an anderer Stelle seines Buches, “unsere Politiker haben die Tötung afghanischer Kinder, Mütter und Väter nie gewollt. Aber sie haben sie bewusst in Kauf genommen. Im deutschen Recht nennt man das bedingten Vorsatz, ´dolus eventualis´. Es ist der Vorsatz der Gleichgültigen.”
Todenhöfer rekapituliert die “Kriegslügen zu Afghanistan”. George W. Bush ist für ihn “ein viel schlimmerer Mörder als Bin Laden. Schon die Tatsache, dass man das eigentlich nicht aussprechen darf, ist ein zivilisatorischer Skandal.” Nur wer solche Sätze missverstehen will, missversteht sie. Denn Todenhöfer verharmlost nicht die Gewalt und den Terror Bin Ladens, sondern rückt das Selbstbild des “Westens” gerade. Das aber erfordert vielleicht einen ähnlichen Mut, wie sich in jene Mördergruben zu begeben, die die in den warmen Redaktionsstuben der einschlägigen Zeitungen sitzenden Journalisten allzu häufig mit bereiten und eben solche Aussagen für verrückt erklären – ohne sich einmal die Mühe gemacht zu haben, wirklich eigenständig über den Wahnsinn, die grausame Verrücktheit des Krieges nachzudenken. Das aber geht durchaus auch, ohne in ihn hineinzugehen. Man muss nur versuchen, sich in den Einzelnen hineinzuversetzen, mitzufühlen, mitzuleiden, dann verbietet sich der Krieg von vornherein. Weil unsere Gesellschaft davon aber so weit entfernt ist, ist das, was Todenhöfer zu erzählen weiß, so wichtig. Wer Todenhöfers Ausgangspunkt, den Menschen, versteht, dem öffnen auch seine Kapitel zu Syrien die Augen, auch zum Iran. Würde Merkel nach dem Lesen dieses Buches anders handeln? Ich traue es ihr zu. Ich traue es jedem Menschen zu. Sonst wäre die Leere, die sich angesichts der nun schon über Jahre immer wieder aufs Neue ertönenden Kriegsrethorik einstellt, nicht zu füllen. Und die heute früh in den Nachrichten bekannt gewordene, einleitend aufgegriffene Initiative zu Syrien macht in der Tat Hoffnung, dass Frieden zu schaffen ohne Waffen doch noch möglich ist. “Selbstverständlich können westliche Spitzenpolitiker nicht mit jedem Politiker der Welt sprechen. Aber wenn es um Krieg oder Frieden geht, haben sie die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, jede Verhandlungschance zu nutzen und auch mit ungeliebten Feinden zu reden”, schreibt Todenhöfer; eine Aussage, von der man sich wünscht, dass sie Gehör findet.
Jürgen Todenhöfer, Du sollst nicht töten, Mein Traum vom Freiden, C. Bertelsmann, 2013, 19,90 Euro
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