Umfairteilen jetzt! – Von Friedhelm Hengsbach
Friedhelm Hengsbach

Heute Vormittag haben wir bereits die Rede von Ursula Engelen-Kefer dokumentiert, die sie auf der Demonstration des Bündnisses Umfairteilen am Wochenende in Berlin gehalten hat. Auch Friedhelm Hengsbach, Professor Emeritus für christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen und bis 2006 Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts, hat zu den Demonstranten in Berlin gesprochen und uns freundlicherweise seinen Beitrag zur Verfügung gestellt, den wir hier wiedergeben.

“Nicht nur Armut, sondern auch Reichtum muss ein Gegenstand der politischen Debatte sein.” Dieser Satz wurde vor 25 Jahren im Gemeinsamen Wort der beiden Großkirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland formuliert. Darauf haben die Regierungen inzwischen mit vier Armuts- und Reichtumsberichten reagiert. Das gemeinsame Kennzeichen dieser Dokumente ist: Zwar wird die wachsende Polarisierung in der Gesellschaft registriert; die Armutsrisikoquote stabilisiert sich trotz des wirtschaftlichen Wachstums bei 15%, jeder siebte, der in Deutschland lebt, ist armutsgefährdet. Aber die Beschreibung und Analyse des Reichtums in Deutschland bleiben ein weißer Fleck.

Über Reichtum lässt sich ebenso wenig wie über Armut wertneutral reden. Trotzdem ist es dringend notwendig, das, was Reichtum bedeutet, annähernd zu präzisieren.

1. Was verstehen wir gemeinhin unter Reichtum?

(1) Es gibt Versuche, ähnlich wie bei der Definition der Armut, das Durchschnittseinkommen privater Haushalte als Bezugsgröße und Schwelle des Reichtums zu wählen. Reich sind demgemäß diejenigen Haushalte, die über das Doppelte des durchschnittlichen Nettoein­kommens verfügen. Aber sind Haushalte, denen ein Jahreseinkommen von 80 000-100 000 Euro zufließt, reich? Dies klingt lächerlich. Sie sind vielleicht wohlhabend, aber weder sehr wohlhabend noch überhaupt reich. Vor allem dann nicht, wenn man sie mit dem Jahresgehalt des VW-Chefs Winterkorn von 17 Millionen Euro oder den Jahresgehältern der Herren Ackermann von der Deutschen Bank, Löscher von Siemens und Zetsche von Daimler mit jeweils etwa 9 Millionen Euro vergleicht.

(2) Sollte man beim “Eigentum” ansetzen, um Reichtum zu definieren? Eigentum ist ein Begriff der Rechtssphäre. Manager in Kapitalgesellschaften sind berechtigt, über die Produktions­anlagen zu verfügen, und üben das Direktionsrecht gegenüber den Belegschaftsmitgliedern aus, sind jedoch keine Eigentümer des Unternehmens. Die Eigentümer einer solchen Gesellschaft sind lediglich Eigentümer der Anteilsscheine und sind berechtigt, Dividenden zu empfangen. Eigentümer müssen nicht reich sein. Die Eigentümerin beispielsweise zweier Telekom-Aktien ist nicht reich.

(3) Das “Vermögen” mag sich als Bezugsgröße anbieten, um Reichtum zu bestimmen. Aber welches Vermögen? Die Eigentumswohnung in einem gehobenen Stadtviertel, das Eigenheim am Stadtrand, die Villa in der Nähe des Wannsees, ein Segelboot? Dies mag gehobener Wohlstand sein, aber noch kein Reichtum. Ob ein ganzer Häuserblock, Schiffe oder Flugzeuge, Fabriken oder Supermarktketten, Grund und Boden, Produktionsanlagen oder eine Menge Geld reich machen? Vermutlich ist diese Vorgehensweise, sich dem Reichtum von unten her zu nähern, methodisch der falsche Weg. Der Zugang vom kleinen, selbst erarbeiteten Häuschen, von eigenen Leistungen und Fähigkeiten zum Reichtum ist eine Sackgasse. Reichtum muss “von oben her”, als exklusiver Reichtum präzisiert werden, finde ich.

(4) “Exklusiver Reichtum” bedeutet: Mir gehört eine außergewöhnlich große Menge materieller Ressourcen, oder ich verfüge über eine große Menge persönlicher Kompetenzen, etwa Wissen, Bildung, musische oder künstlerische oder sportliche Fähigkeiten. Ein solcher Reichtum tritt häufig konzentriert auf, in den Händen weniger. Er ist mit wirtschaftlicher Macht verbunden, die sich in politische Macht verwandelt und politische Entscheidungsträger vor sich  hertreibt. Keine amtliche Statistik dringt in diese Sphäre vor, wenngleich es dem Manager Magazin jährlich gelingt, eine Rangordnung der 500 reichsten Personen und Familien in Deutschland zu registrieren. In der Liste der 100 reichsten Personen und Familien, die 2013 über ein Nettovermögen ab einer Milliarde Euro verfügen, stehen am unteren Ende Dirk Rossmann mit 1,25 Mrd. Euro, dann aufsteigend mit sieben Mrd. Euro die Familie Oetker, mit acht Mrd. Euro die Familien Otto und Würth, mit neun Mrd. Susanne Klatten und an der Spitze die beiden Familien Albrecht mit jeweils 17 Mrd. Euro.

2. Exklusiver Reichtum ist politisch erzeugt

(1) Exklusiver Reichtum ist in hartnäckige Funktionslegenden eingehüllt, die öffentlich verbreitet werden. Darin wird er vertuscht, verschleiert, gerechtfertigt. Es wird erzählt, Reichtum sei das Ergebnis anstrengender Arbeit, eines asketischen Lebensstils und rigoroser Spartätigkeit. Er reize dazu an, sich zu engagieren, alle vorhandenen Talente und Interessen zu mobilisieren. Reichtum schütze die individuelle Freiheit der Bürgerinnen und Bürger gegen Übergriffe des Staates in die Privatsphäre, er sei die materielle Verkörperung bürgerlicher Autonomie. Eine der großen Erzählungen lautet auch: Reichtum stärke den familiären Zusammenhalt über Generationen hinweg. Die segensreiche Institution des Erbrechts bewahre den von den Vorfahren erwirtschafteten Reichtum vor dem Zerfall. Reichtum garantiere außerdem die Funktionsfähigkeit der Marktsteuerung, fantasieren marktradikale, wirtschaftsliberale Experten. Er halte Unternehmer davon ab, allzu riskante Entscheidungen zu treffen; sie dürften zwar satte Gewinne erwarten, müssten jedoch aber für Verluste infolge von Fehlentscheidungen mit ihrem ganzen Vermögen haften. Reichtum werde von ihnen für Investitionen eingesetzt, schaffe Arbeitsplätze und erzeuge eine wirtschaftliche Dynamik, die Wohlstand für alle bringt. Schließlich biete der Reichtum in den Händen weniger die Gelegenheit, von dem, was die Reichen erworben haben, großzügig an soziale Einrichtungen zu spenden oder Stiftungen zu gründen. Exklusiver Reichtum sickere nach unten durch zum Wohlstand für alle, faselt die schwarz-gelbe Koalition im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht.

Solche Behauptungen bleiben allerdings Legenden. Denn die wirtschaftlich volle Haftung greift allenfalls bei Einzelunternehmen, die nicht in entlastende Rechtsformen wie GmbH oder AG umgewandelt worden sind. Die Haftung der Anteilseigner ist auf die Höhe ihrer Einlage beschränkt. Exklusiver Reichtum entsteht nur in seltenen Fällen allein durch Arbeit, zumal in einem arbeitsteiligen Produktionsprozess der individuelle Leistungsanteil überhaupt nicht präzise auf das gemeinsam erwirtschafte Ergebnis, nämlich die fertige Produktmenge und insbesondere deren Marktwert zugerechnet werden kann. Vielmehr wird er den Unternehmen und ihren Eigentümern zunehmend durch Marktlagen-, Monopol- und Inflationsgewinne zugeschwemmt, wenn Unternehmen wachsen, fusionieren und  Kartellabsprachen treffen. Erbschaften passen in demokratische Gesellschaften, die Chancen­gleichheit für alle propagieren, überhaupt nicht hinein. Gesellschaftliche Risiken, die den Individuen nicht zugerechnet werden können, werden nicht in erster Linie durch individuellen Reichtum für wenige, sondern durch solidarische Sicherungssysteme für alle abgefedert. Stiftungen sind meist vorenthaltene Löhne oder nicht gezahlte Steuern. Und Investitionen werden weniger durch Sparen als vielmehr durch die Geld- und Kreditschöpfungsmacht des Bankensystems finanziert.

(2) Wie entsteht exklusiver Reichtum tatsächlich? Durch eine quasi-religiöse Überzeugung, dass in einer wachsenden Wirtschaft die zukünftigen Investitionen in erster Linie durch Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen finanziert werden, während die Lohneinkommen fast ausschließlich in den laufenden Konsum fließen. Durch spekulative Attacken auf den Finanzmärkten, die weithin durch Kredite finanziert werden: durch die Deformation der solidarischen Sicherungssysteme und Appelle an die private Vorsorge, die von Banken und Versicherungen vermittelt wird, oder steuerlich begünstigte Riesterrenten; durch entregelte Arbeitsverhältnisse mit Niedriglöhnen, die durch staatliche Sozialleistungen aufgestockt werden müssen; durch die steuerlichen Begünstigungen der Höherverdienenden und Vermögenden: seit den 1960er Jahren sind die Anteile der Lohneinkommen und der Gewinneinkommen am gesamten Steueraufkommen umgekehrt worden – der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermö­gen von 20% auf 9%, der Arbeitseinkommen von 6% auf 19%. Der Spitzensteuersatz wurde von über 50% auf 42% abgesenkt, die Körperschaftsteuer von 40% auf 25% und vergleichsweise auch die Gewerbesteuer; durch den Umbau des Rheinischen Kapitalismus in den anglo­amerikanischen Finanzkapitalismus, indem die Gewinne der Banken, die sie aus dem Verkauf der Industriebeteiligungen erzielt hatten, steuerfrei blieben, die Bilanzierung zum Marktwert gestattet wurde und die Kapitalbeteiligungsgesellschaften steuerlich nicht als gewinnorientierte Unternehmen sondern als Vermögensverwaltungen eingestuft wurden; und schließlich durch die Bankenrettung der Staaten, die Gläubiger und Anteilseigner schonten, die Kosten der Finanzkrise jedoch auf die Allgemeinheit und auf die schwächeren Teile der Bevölkerung abgewälzt haben. Vorgängig zu den privat und öffentlich fahrlässigen Entscheidungen ist exklusiver Reichtum durch die kapitalistische Verteilungsregel erzeugt: Zur unternehmerischen Wertschöpfung tragen (etwas vereinfacht) vier Ressourcen bei: das Arbeitsvermögen, das Naturvermögen, das Gesellschaftsvermögen (dazu gehören die öffentliche Infrastruktur, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie die unentgeltliche private Betreuungsarbeit überwiegend der Frauen) und das Geldvermögen bei. Drei dieser Vermögen werden in der betriebs­wirtschaftlichen Logik als Kostenfaktoren definiert. Sie sollten demgemäß nach Möglichkeit gesenkt und niedrig gehalten, nämlich Löhne und Sozialbeiträge, Naturabgaben und Steuern, am besten gar zum Nulltarif genutzt werden. Das einzige bzw. vorrangige Ziel eines finanz­kapitalistischen Unternehmens ist die Vermehrung des Geldvermögens, das den Konten der Anteilseigner zufließt.

3. Die kapitalistische Verteilungsregel ist demokratisch zu korrigieren.

Was politisch verursacht ist, kann auch politisch korrigiert werden. Eine solche Korrektur ist dringend fällig.

(1) Die Schieflage der Verteilung von Einkommen und Vermögen ist dadurch entstanden, dass die flächendeckenden Tarifverträge und überhaupt die Tarifautonomie einschließlich der Gewerkschaften verdächtigt und abgewertet, Tarifflucht zugelassen und betriebsnahe Lösungen propagiert wurden. Eine solidarische Tarifpolitik umfasst einen Blick auf die atypischen Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosen, auf die unterschiedlichen Lohngruppen im Betrieb sowie auf die Männer und Frauen jenseits des industriellen Sektors. Eine demokratisch-solidarische Sozialpolitik löst sich von der feudalen Erbmasse in den Versicherungssystemen und schließt alle, die ihren Lebensmittelpunkt im Geltungsbereich der Verfassung haben, sowie unterschiedslos deren Einkommen in die Solidargemeinschaft ein. Eine solidarische Finanz- und Steuerpolitik kehrt zur Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zurück. Diese enthält eine Vermögensabgabe, eine Vermögensbesteuerung und eine Anhebung der Erbschaftsteuer.

(2) Gegen die Forderungen des Bündnisses Umfairteilen werden Einwände erhoben: Das Bundesverfassungsgericht habe 1995 nicht grundlos die damalige Vermögensteuer als verfassungswidrig erklärt. Tatsächlich haben die Richter bloß die ungleiche Besteuerung der Immobilien und Geldeinkommen verworfen. Eine Vermögensteuer verletze das Privateigentumsrecht, wird behauptet. Sie entspreche nicht dem vom BVerfG eingeklagten “Halbteilungsgrundsatz”, demgemäß die Anteile des Privatvermögens, die den privaten und öffentlichen Haushalten jeweils zustehen, in der Nähe der 50%-Marke bleiben sollten. Von einer solchen Marke sind die Forderungen des Bündnisses weit entfernt. Zudem widerspreche eine Substanzbesteuerung der vorherigen Ertragsbesteuerung, wenden einige Steuerexperten ein. Aber gemäß dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist eine Vermögensteuer deshalb berechtigt, weil das Vermögen unabhängig vom Einkommen die Leistungsfähigkeit der Vermögenden erhöht. Und schließlich bezieht sich der häufige Hinweis, dass das obere Zehntel aller Haushalte 50% zum gesamten Steueraufkommen beitrage, nur auf deren absolute, nicht relative  direkte Steuerbelastung, während die indirekten Steuern die breite Bevölkerungs­schicht relativ viel stärker belasten.

(3) Es gibt gute Gründe, einen exklusiven Reichtum, der wirtschaftlich funktionslos und gesellschaftlich parasitär ist, steuerlich zu belasten – weil er den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Frieden in der Gesellschaft zersetzt, weil er – verbunden mit öffentlicher Armut – die gesellschaftlich Schwächeren ausgrenzt, weil er unverhältnismäßig natürliche Ressourcen beansprucht und weil er sich der Finanzierung öffentlicher Aufgaben entzieht.

(4) Die Forderungen des Bündnisses Umfairteilen sind berechtigt, um den exklusiven Reichtum an den Kosten der deutschen Einigung und der Bankenrettung zu beteiligen; um die exklusiv Reichen zur Finanzierung der öffentlichen Güter heranzuziehen, das sind Sozialleistungen, öffentliche Infrastruktur, Bildung, Gesundheit, Pflege, ökologischer Umbau der Verkehrssysteme, Energieversorgung und Ernährungsweisen; um kommunale Einrichtungen (Bibliotheken, Schwimmbäder, Jugendzentren) wieder für alle zugänglich zu machen; um eine soziale Demokratie wiederherzustellen. Denn die Güter der Erde sind für alle da, das Recht auf Privateigentum ist kein absolutes Recht. Die Regeln, die für das Privateigentum an Gebrauchsgütern gelten, sind nicht diejenigen, die für das Privateigentum an Produktionsmitteln angemessen sind, denn dieses lässt sich nur mit Hilfe fremder Arbeit, und indem natürliche und gesellschaftliche Vorleistungen genutzt werden, rentabel verwerten. Und schließlich können öffentliche Güter nicht durch freiwillige Spenden einer exklusiv reichen Elite oder zivilgesellschaftlicher Initiativen bereitgestellt werden, sondern nur durch den Staat, der den Ansprüchen aller Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrer Kaufkraft gerecht zu werden hat.

“Deutschland geht es gut”, propagiert die schwarz-gelbe Koalition landauf, landab. Deutschland geht es nicht gut, Frau Bundeskanzlerin, solange politische Entscheidungen unter dem Druck der Finanzmärkte und exklusiven Reichtums, also marktkonform zustande kommen. Sondern erst dann, wenn die kapitalistische Verteilungsregel demokratiekonform korrigiert wird.

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