Eine Woche vor den nächsten Bundestagwahlen fanden am 14. September Demonstrationen des Bündnisses Umfairteilen in Bochum, Berlin, Regensburg und Saarbrücken statt. Insgesamt nahmen daran etwa 15.000 Menschen teil, davon 3.000 in Berlin. Beteiligt an diesem Bündnis sind Attac, Gewerkschaften, Sozialverbände und weitere NGOs. Zielrichtung ist die Bekämpfung der Ungerechtigkeiten in der Verteilung von Einkommen und Vermögen durch eine einmalige Vermögensabgabe und die dauerhafte Besteuerung von Vermögen. Damit sollen die Defizite bei öffentlichen Gütern, Dienstleistungen und Investitionen geschlossen werden, aber auch der seit Jahren anhaltende Sozialabbau bei Arbeitsbedingungen, Arbeits- und Sozialrecht, Sozialer Sicherheit sowie sonstigen Sozialleistungen gestoppt und umgekehrt werden. Auftaktredner für die Demonstration in Berlin waren: Andrea Kocsic, Stellvertretende Vorsitzende von Verdi, Friedhelm Hengsbach, Jesuitenpater, Ursula Engelen-Kefer, Sozialverband Deutschland.
Dies ist bereits die dritte Demonstration des Bündnis Umfairteilen in Berlin, wobei mit begrenzten kreativen Aktionen auf die Ungerechtigkeiten in der Verteilung von Einkommen und Vermögen aufmerksam gemacht werden. Die hauptsächlichen Initiatoren sind Attac und Verdi. Bei der Verschärfung durch die eskalierenden Finanzkrisen ist allerdings zu fragen: Wann wachen die Bürger in Deutschland endlich auf? Warum wird praktisch “stoisch” hingenommen, dass diese für unsere Zukunft existenziellen Entwicklungen in diesem Bundestagswahlkampf praktisch keine Rolle spielen. Für mich ist nicht nachvollziehbar: Die Medien beklagen unisono den langweiligen und belanglosen Wahlkampf, aber lassen dies den Spitzenpolitikern, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel und SPD Kanzlerkandidat Peer Steinbrück durchgehen. Sie hätten z.B. bei Interviews und in ihren Kommentierungen durchaus die Möglichkeit, bei den politischen Perspektiven genauer nachzuhaken: z.B. in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Die mehr als moderate Beteiligung der Bürger an diesen Demonstrationen des Bündnisses Umfairteilen und die geringe Medien Resonanz sind ein weiterer Ausdruck dieser von den neoliberalen Kräften geförderten politischen Lethargie bis Apathie. Das “dicke Ende” kommt bestimmt- spätestens beim Kassensturz nach den Bundestagswahlen. Wahrscheinlich wird aber auch noch bis nach den Europawahlen Ende Mai 2014 gewartet.
Wir dokumentieren unten die Rede Ursula Engelen-Kefers:
Die Bundestagswahl wird entscheiden: Wer ist systemrelevant, Banken oder Menschen?
Was der Neoliberalismus – in verschärfter Form nach dem Fall der Mauer zwischen West und Ost – beim Sozialabbau nicht geschafft hat, erledigt jetzt eine entgrenzte Finanzindustrie für ganz Europa.
Wir erleben seit den Finanzkrisen die brutalstmögliche Form des neoliberalen Credo:
Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste!
Der Vierte Armuts- und Reichtums Bericht der Bundesregierung hat es uns amtlich noch einmal plastisch vor Augen geführt:
Das private Nettovermögen ist in den letzten fünf Jahren auf Kosten des Staatsvermögens auf 1,4 Billionen Euro angestiegen.
Die reichsten 10 Prozent der Haushalte haben über die Hälfte des gesamten Privatvermögens.
Das untere Zehntel kommt gerade einmal auf 1 Prozent des privaten Nettovermögens.
Gleichzeitig wird der Staat trotz sprudelnder Steuereinnahmen immer ärmer:
Die Löcher bei öffentlichen Dienstleistungen sind auf mindestens 35 Mrd. Euro im Jahr zu beziffern.
Die Lücke bei den öffentlichen Investitionen ist inzwischen auf 170 Mrd. Euro angestiegen.
Wir erleben dies tagtäglich – durch marode Schulgebäude, Jugendhäuser, Sport- und Freizeiteinrichtungen, Straßen und öffentliche Verkehrsmittel; fehlende Betreuung sowie einen zunehmendem Mangel an bezahlbarem Wohnraum und Wohnnebenkosten vor allem für Familien, sozial Schwache, Alte und behinderte Menschen; steigende Kosten für alle Güter und Leistungen der Daseinsvorsorge- insbesondere: Energie- und Wasserversorgung.
Die Spaltung unserer Gesellschaft schreitet schneller voran als in vergleichbaren Nachbarländern.
7 Millionen Menschen müssen im Niedriglohnsektor arbeiten.
1,4 Millionen Menschen müssen trotz Arbeit Hartz IV beziehen.
Trotz guter Konjunktur leben in Deutschland 15 Prozent der Kinder in Hartz IV – dies sind 2 Millionen Kinder und Jugendliche.
Mit 23 Prozent ist die Lücke bei den Löhnen für Frauen in Deutschland größer als in jedem anderen europäischen Land.
Selbst nach amtlichen Berichten droht in den nächsten Jahrzehnten millionenfache Armut für Rentner.
Bereits heute müssen viele Menschen skandalösen Mietwucher und steigende Obdachlosigkeit erfahren.
Die angebliche Alternativlosigkeit der Politik gegenüber einer maßlosen Finanzindustrie bedeutet:
Wir als deutsche Bürger sind inzwischen mit über einer Billion Euro für die angebliche Rettung des Euro der E U sowie der Euro Krisenländer in Haft genommen.
Eine Billion Euro – das kann sich keiner vorstellen. Wie lange werden wir, unsere Kinder und Enkel noch dafür bluten müssen.
Die EU-Krisenpolitik rettet Banken und treibt die Bevölkerung ins Elend.
Beinahe 80 Prozent der Rettungsgelder fließen in die Finanzindustrie.
Die Haftung unserer Bürger für die Bankenrettung hat die Schmerzgrenze für unser Staatswesen schon längst überschritten.
–Die deutsche Haftung für Spaniens Bankenrettung entspricht in etwa dem Haushalt des Bundesministeriums für Verkehr, Bau, Stadtentwicklung.
–Die deutsche Haftung für die Rettung Irlands entspricht den Kosten für die Sanierung aller Brücken in Deutschland.
–Die Kredite an Griechische Banken entsprechen den Bundesausgaben für Bildung und Forschung und des Bundesministeriums für Umwelt.
–Der Beitrag für einen der EU Rettungsfonds für die notleidende Finanzbranche reicht an den Bundeshaushalt für Familien und Jugend heran.
Es ist höchste Zeit:
Wir müssen umsteuern. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Politik in Deutschland und Europa.
Wir müssen die Bereicherung der Reichen sowie die Allianz von Finanzmacht und Politik durchbrechen.
Wir wollen auch für die Finanzindustrie das Verursacherprinzip:
Die Schuldigen der Finanzkrisen- Eigentümer und Gläubiger der Banken müssen für ihre Unverantwortlichkeit und ihr Versagen auch die volle finanzielle Haftung übernehmen.
Die EU Rettungsgelder sind für wirksame Marshallpläne der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Krisenländern einzusetzen.
Und wir müssen und wollen “Umfairteilen” und Reichtum besteuern.
Dazu müssen zunächst einmal die Steuerschlupflöcher durch wirksame Kapitalverkehrskontrollen verschlossen werden.
Mit welcher Rechtfertigung brauchen Reeder in Griechenland keine Steuern zu zahlen und 600 Mrd. Euro werden von reichen Griechen an der Steuer vorbei in Steueroasen umgeleitet – während Millionen Menschen nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder und sich ernähren sollen.
Überall in Europa müssen hohe Einkommen, hohe Vermögen und Erbschaften sowie Kapitalerträge fair besteuert werden.
Steuerdumping und Steueroasen sind endlich zu bekämpfen und auszuschalten.
Spekulationsgewinne und sonstige Finanztransaktionen sind genauso zu besteuern wie auch sonstige Umsätze von Gütern und Dienstleistungen.
Wenn Systemrelevanz bedeutet, dass ein Scheitern schon allein wegen der Größe nicht erfolgen darf – um wie viel mehr gilt dies für die 500 Millionen Menschen in der EU- davon 100 Millionen junge Menschen.
27 Millionen Arbeitslose und 6 Millionen arbeitslose Jugendliche sind ein bei weitem höheren Systemrisiko und verdammt viel mehr wert als einige tausend Banken, ihre Eigentümer und Gläubiger.
In der Krisenpolitik muss umgehend ein Umsteuern gelingen.
Dies sind wir den Menschen in Deutschland und Europa und vor allem unseren Kindern schuldig.
Prof. Dr. Ursula Engelen-Kefer war von 1990 bis 2006 stellvertretende DGB-Vorsitzende und von 1984 bis 1990 Vizepräsidentin der damaligen Bundesanstalt für Arbeit. Von 1980 bis 1984 leitete sie die Abteilung Arbeitsmarktpolitik einschließlich der Internationalen Sozialpolitik beim DGB. Heute arbeitet sie als Publizistin in Berlin (www.engelen-kefer.de). Seit Februar gibt sie Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse und Meinung mit heraus.
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