Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist gestern früh im Deutschlandfunk zum Mindestlohn interviewt worden und hat sich mit einem volkswirtschaftlichen Offenbarungseid in Reih und Glied der “führenden Ökonomen” in Deutschland gestellt. Marcel Fratzscher meinte nämlich, es ginge beim Mindestlohn “vor allem in erster Linie darum, wie können die Menschen, die unter dem Wert bezahlt werden, den sie für Unternehmen, für Institutionen schaffen, dazu geführt werden, dass sie einen fairen Lohn bekommen? Fair, von der Wirtschaftsperspektive so gesehen, dass sie das wirklich, was sie erarbeiten, erwirtschaften für ihr Unternehmen, nachher auch als Lohn sehen. Und da ist durchaus die Gefahr, dass – wir haben berechnet, 5,6 Millionen Menschen, die unter 8,50 Euro verdienen, dass nicht alle 5,6 Millionen Menschen wirklich einen Wert von 8,50 für ihr Unternehmen erwirtschaften.”
Dazu ist zu sagen: Wenn ein Unternehmen nicht so produktiv Waren produziert oder Dienstleistungen erbringt, dass es mit Hilfe seiner Beschäftigten 8 Euro 50 in der Stunde erwirtschaftet, hat es am Markt nichts zu suchen. Es ist nicht wettbewerbsfähig und sollte, frei nach Adam Smith, eines natürlichen Todes sterben. Andere, produktivere Unternehmen werden diese Lücke füllen, angelockt nicht zuletzt durch eine mittels eines existenzsichernden Mindestlohns gesicherte Nachfrage. Selbst in der ökonomischen Klassik, ja, selbst im Merkantilismus, ging man in der volkswirtschaftlichen Theorie und Analyse davon aus, dass der Arbeitnehmer zwar nicht spart, aber der Lohn zur Sicherung der Existenz ausreichen muss. Wer davon heute wie selbstverständlich Abstand nimmt, fällt hinter das Zeitalter des frühen Manufakturwesens und der frühen Industriealisierung und die damit verbundenen erbärmlichen Lebensverhältnisse der Arbeitnehmer zurück. Das ist nicht allein moralisch und im Sinne der 1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1) verwerflich, sondern auch vom Anspruch an die Disziplin Volkswirtschaftslehre.
Fratzscher geht es dabei wie vor einigen Tagen dem Wirtschaftskolumnisten Wolfgang Münchau, wie den am Herbstgutachten beteiligten “führenden Wirtschaftsforschungsinstituten”, wie dem Sachverständigenrat, wie der SPD und der großen Mehrheit im Deutschen Bundestag und, man muss hinzufügen, wie den Gewerkschaften, die nun schon seit Jahren einen Mindestlohn von 8,50 Euro fordern, ohne dessen Ausgangshöhe jemals begründet zu haben, und ohne dessen willkürlich gewählte Ausgangshöhe jemals an Produktivitätsfortschritt und Inflation(sziel) angepasst zu haben (vergleiche hierzu: Waren die Mindestlohnforderungen des DGB von vornherein zu niedrig angesetzt? [im Abonnement]). Sie alle müssen sich vorwerfen lassen, kein Bezugssystem zu haben oder eines, das auf dem einen Auge blind ist, dem der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung des Lohns, der Nachfrage. “Über hohe Löhne klagen heißt daher nichts anderes, als über die notwendige Folge und Ursache höchster Prosperität des Landes jammern” (2), wusste eben schon der große Adam Smith, den viele Ökonomen als Gründervater der Volkswirtschaftslehre zwar vornehm im Munde führen, ihn aber ganz offensichtlich nicht gelesen, nicht verstanden oder längst vergessen haben. Wo ist der Politiker, der Ökonom eines der “führenden Wirtschaftsforschungsinstitute”, wo ist der Gewerkschaftschef, der Wirtschaftsjournalist einer führenden Tageszeitung, der diese Lehre heute den immer auf einzelwirtschaftlicher Basis argumentierenden Gegnern des Mindestlohns entgegenschleudert, die immer zugleich auch generelle Gegner einer verteilungsneutralen, die gesamtwirtschaftliche Produktivitäts- und Preisentwicklung ausschöpfenden Lohnpolitik sind? Warum tun sie sich so schwer, den Lohn nach allen Seiten hin zu durchleuchten? Vielleicht gibt es hier und da sogar einen, der versucht, sich Gehör zu verschaffen. Was aber hilft ein intellektuell erquickender Tropfen Wasser in dieser geistigen Wüste? Für die Herrschenden in der Politik, in der Wissenschaft, in den Gewerkschaften und im Journalismus scheint vielmehr jener hohle Gedankengang zu gelten, den wiederum Adam Smith schon vor 224 Jahren in den Vorwurf kleidete: “Alles für uns selbst und nichts für andere, scheint zu allen Zeiten die elende Devise der Herrschenden gewesen zu sein.” (2)
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Hintergrund:
Der Mindestlohn als sinnvolles Instrument gesamtwirtschaftlicher Steuerung (im Abonnement)
Münchau kratzt nicht mal an der Oberfläche
(1) In Artikel 23 heißt es darin (kursive Hervorhebung, T.H.):
- Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.
- Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
- Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen.
- Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.
Quelle: Amnesty International
Für den Hinweis auf diesen Artikel bin ich dem Ökonomen und ehemaligen Mitglied des Sachverständigenrats Claus Köhler sehr dankbar (siehe hierzu auch die Rezension zu seinem neuen Buch).
(2) Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, 6. Auflage, April 1993, München
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