Der Mindestlohn ist zurecht ein zentrales Thema in den laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD. Er ist zurecht auch ein Thema, dem in den Medien viel Raum gegeben wird. Er ist es deswegen zurecht, weil die deutsche Lohnentwicklung seit der Agenda 2010 eine betont negative Entwicklung genommen hat. Zwischen 1999 und 2007 (vor Ausbruch der Finanz- und Eurokrise also) sind die Arbeitnehmerentgelte je Beschäftigten real (preisbereinigt) um 2,4 Prozent gesunken. Im Zeitraum 1999 bis 2012 sind die Reallöhne gerade einmal um 0,3 Prozent gestiegen. Beim europäischen Nachbarn, dem wichtigsten Handelspartner Deutschlands, Frankreich, das zugleich nach Deutschland die zweitgrößte Volkswirtschaft in der Europäischen Währungsunion (EWU) ist, sind die Reallöhne im selben Zeitraum um respektive 7,2 bzw. 12,4 Prozent gestiegen. Und das bei nahezu identischer Produktivitätsentwicklung.
Der deutsche Journalismus zeigt sich unfähig, den Mindestlohn in diesem Kontext zu studieren und zu diskutieren (1). Er ist nicht einmal in der Lage, die einfachsten Dinge zu recherchieren (wie die für den französischen Mindestlohn geltenden Ausnahmeregelungen) und macht stattdessen mit willkürlichen oder einseitig von Arbeitgeberinteressen geleiteten Behauptungen Stimmung gegen den Mindestlohn. Wenn die Berichterstattung um den Mindestlohn daher eines zeigt, ist es das, dass es in Deutschland nicht nur keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, vielleicht auch nicht so schnell einen in vernünftiger, Existenz sichernder Höhe geben wird, sondern auch kein journalistisches Mindestniveau.
Unfähig zeigt sich auch die Politik, sich von den einzelwirtschaftlich bzw. unternehmerisch geleiteten Interessen und Begründungen loszulösen und den Mindestlohn als sinnvolles Instrument gesamtwirtschaftlicher Steuerung zu begreifen und dies den Menschen und den Medien zu vermitteln. Weder haben die Parteien – die Gewerkschaften auch nicht – sich jemals die Mühe gemacht oder auch nur danach gefragt, was die Ausgangshöhe eines Mindestlohns bestimmen sollte, noch haben sie sich die Frage gestellt, wie dessen Entwicklung sinnvoll zu steuern sei. Deswegen treiben sie wie in einer Nussschale hilflos auf wogender See, in der die Interessen der Arbeitgeberverbände und sehr gut verdienender leitender Herausgeber und Chefredakteure in den Redaktionsstuben von Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendern hohe Wellen schlagen. Und das, obwohl die Lohnentwicklung, auf die, bei vernünftiger gesetzlicher Regelung, ein Mindestlohn zentralen Einfluss ausüben würde, nicht nur über die Lebensverhältnisse von Millionen Menschen und die Verteilungsgerechtigkeit hierzulande entscheidet, sondern auch über die Entwicklung und damit die Lebensverhältnisse in der EWU. Die Wahrscheinlichkeit – und damit die Gefahr – ist groß, dass selbst, wenn ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn bei den Koalitionsverhandlungen herausspringt, dieser den Voraussetzungen, die er erfüllen sollte, nicht genügt und so möglicherweise am Ende seinen Gegnern als Beleg für das Scheitern desselben dienen wird, nicht aber den Lebensverhältnissen der Menschen und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und in der EWU. Eine besonders unrühmliche Rolle spielen hierbei auch die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute und omnipräsenten “Ökonomen” in den Medien.
Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung hat sich intensiv mit dem Mindestlohn und dessen Grundlagen im Kontext der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und der EWU auseinandergesetzt. Gern würde ich als Herausgeber hierzu auch die Politik praktisch beraten. Machen Sie, liebe Leserinnen und Leser die/den Bundestagsabgeordnete(n) ihres Wahlkreises doch in diesem Sinne auf diesen Beitrag und unsere Analysen aufmerksam.
Ihr Florian Mahler
info@wirtschaftundgesellschaft.de
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