Wolfgang Münchau gehört sicherlich zu den Journalisten/Kolumnisten, der als einer der Wenigen unter den Vielen politische und wirtschaftliche Themen noch eigenständig hinterfragt. Mit seinem “Plädoyer für einen (niedrigen) gesetzlichen Mindestlohn” hat er jedoch wieder einmal den Vogel abgeschossen. Nicht nur, dass Münchau mit seiner Argumentation nicht einmal an der Oberfläche kratzt. Seine Argumentation zeigt gleichzeitig auf, dass er, obwohl er immer wieder die Leistungsbilanzungleichgewichte als Ursache der Eurokrise benannt hat, die zentrale Ursache für die Leistungsbilanzungleichgewichte offensichtlich bis heute nicht erkannt hat. Doch das soll uns hier nur am Rande interessieren. Kommt Münchau beim Mindestlohn zum falschen Ergebnis, so zeigt sein fehlendes Verständnis für die Ursachen der Leistungsbilanzungleichgewichte doch nur, dass man zwar zum richtigen Ergebnis kommen kann, dies aber nur hilft, wenn der “Rechenweg” zu diesem Ergebnis auch richtig ist. Jeder Mathelehrer akzeptiert daher auch ein richtiges Ergebnis nur, wenn auch der Rechenweg nachvollziehbar ist. Niemand wird das besser verstehen als Münchau. Er hat Mathematik studiert.
Münchau ist kein Gegner des gesetzlichen Mindestlohns, sondern befürwortet ihn. Er meint aber, dass dieser nicht zu hoch angesetzt werden darf, damit er keine Arbeitsplätze vernichtet. Was aber bestimmt, ob ein Mindestlohn oder ein Lohn überhaupt zu hoch, zu niedrig oder richtig angesetzt ist? Münchau beruft sich auf “Erfahrungswerte”. Sein erster Fehler dabei ist dieses Eingeständnis: “Wer allzu theoretisch denkt, wittert schnell einen Verstoß gegen hehre ordnungspolitische Prinzipien.” Münchau schreibt dies wohlgemerkt, um den Mindestlohn gegen konservative Gegner zu verteidigen. Letztere aber denken gerade nicht theoretisch und kommen genau deswegen nicht zu einem vernünftigen praktischen Ergebnis. Schon der klassische Ökonom David Ricardo wusste: Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. Denen, “die nur etwas für Tatsachen und nichts für Theorie übrighaben”, so Ricardo, sei mit Vorsicht zu begegnen: “Sie sind kaum imstande, ihre Fakten zu sieben. Sie sind notwendigerweise leichtgläubig, weil sie kein Bezugssystem besitzen.” (1) Münchaus Begründung für einen “niedrigen Mindestlohn” bestätigt Ricardos Einschätzung. Er ist nämlich mangels Theorie nicht in der Lage, die Fakten zu sieben. Die Fakten, die Münchau für seine Argumentation heranzieht sind diese:
“Ob jetzt die von der SPD bevorzugten 8,50 Euro eine gute Schwelle sind, ist eine andere Frage. Ich bin da eher skeptisch. Hier stößt man schon in einen Bereich, in dem der Mindestlohn zu höherer Arbeitslosigkeit führen könnte. Frankreich ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn Mindestlöhne zu hoch angesetzt sind und wenn sie zu unflexibel sind. Dort ist zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch. Bei Auszubildenden und jungen Beschäftigten muss man also unbedingt geringere Untergrenzen einführen.”
Münchau weiter:
“Ich selbst würde zunächst einen etwas geringeren allgemeinen Mindestlohn vorschlagen, etwa 7,50 Euro, mir aber vorbehalten, den Lohn im Laufe der Legislaturperiode auf 8,50 Euro zu erhöhen, je nachdem wie die Erfahrungen ausfallen. Wenn man mit 8,50 Euro anfängt, dann wird es politisch schwerer sein, den Mindestlohn später zu senken, sollte sich diese Größenordnung als zu hoch erweisen. Hier spielen auch Faktoren hinein, die man nicht kontrollieren kann, wie etwa die konjunkturelle Entwicklung. Wenn man das Pech hat, den Mindestlohn in einen Abschwung hinein zu lancieren, dann es kann zu Problemen kommen.”
Münchaus Fazit:
“Die Idee ist gut. Aber 8,50 Euro sind wohl eher zu hoch.”
Woher aber will Münchau wissen bzw. woran macht er den Bereich fest, “in dem der Mindestlohn zu höherer Arbeitslosigkeit führen könnte”? Er verrät es uns nicht und weiß es wohl auch nicht; er greift stattdessen lieber zum bequemen Konjunktiv. Frankreich dient Münchau als Beleg für einen zu hohen und unflexiblen Mindestlohn. Was aber ist ein “flexibler Mindestlohn”? Ein flexibler Mindestlohn ist keiner. Und ist in Frankreich etwa nur die Jugendarbeitslosigkeit hoch? Nein, die Arbeitslosigkeit ist insgesamt hoch. Wenn Münchau also Jugendarbeitslosigkeit auf einen zu hohen Mindestlohn zurückführt, müsste er auch die generell hohe Arbeitslosigkeit auf den Mindestlohn zurückführen. Wenn Münchau aber die Jugendarbeitslosigkeit bzw. die Arbeitslosigkeit in Frankreich generell auf zu hohe Löhne oder einen zu hohen Mindestlohn zurückführt, hat er auch die zentrale Ursache für die auch von ihm kritisierten Leistungsbilanzungleichgewichte nicht begriffen. Gerade Frankreich hat sich nämlich exakt an eine produktivitäts- und inflationsneutrale Lohnentwicklung gehalten; die Inflationsrate in Frankreich ist über den gesamten Zeitraum der Europäischen Währungsunion (EWU) um rund zwei Prozent gestiegen. Erst jetzt in der Krise und unter der erzwungenen Anpassung an das deutsche Modell, sinkt auch die französische Inflationsrate weit unter das Inflationsziel der EZB (vergleiche dazu hier, im Abonnement). Deutschland aber hat über viele Jahre den über Produktivitätssteigerungen- und Inflationsziel gegebenen Verteilungsspielraum für die Lohnentwicklung nicht ausgeschöpft, das Inflationsziel der EZB unterlaufen und Frankreich und andere Mitglieder der EWU damit unter unfairen Wettbewerbsdruck gesetzt (vergleiche hierzu auch: Does Draghi get the euro wrong?).
Nicht genug, dass Münchau die Fakten nicht richtig siebt, sie stimmen auch nicht. Auf der Seite der französischen Botschaft in Berlin ist über den französichen Mindestlohn (SMIC) zu lesen:
“Der SMIC beziffert den Stundenlohn, unter dem laut Gesetz niemand beschäftigt werden darf. Ausnahmen sind nur für bestimmte Gruppen zulässig:
Jugendliche unter 18 Jahren mit weniger als sechs Monaten Berufserfahrung,
junge Auszubildende,
Jugendliche, die vor der Berufsausbildung ein Praktikum absolvieren,
Behinderte.”
Ebenda findet sich auch eine überzeugende, allgemeine Bestimmung für die Höhe eines Mindestlohns:
“Der SMIC dagegen garantiert den Arbeitnehmern nicht nur ein Existenzminimum, sondern auch ´die Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes.”
Das aber kann laut europäischem Amt für Statistik ein Mindestlohn in Deutschland von 8 Euro 50 nicht leisten. Der Niedriglohnschwellenwert für Deutschland liegt bei 10 Euro 20. Wir haben vor einiger Zeit ausgerechnet, warum der auch vom DGB geforderte Mindestlohn von zunächst 7 Euro 50, dann 8 Euro 50 von Anfang an zu niedrig angesetzt war. Ein Unternehmen, das nicht in der Lage ist, einen Existenz sichernden Arbeitsplatz zu bieten, sollte am Markt nichts zu suchen haben. Es ist dann schlichtweg nicht wettbewerbsfähig. Es kann dann überhaupt nur am Markt operieren, weil die Politik es ihm erlaubt, unter anderem durch das bekannte “Aufstocken”, die staatliche Subventionierung des Niedriglohnsektors also, den Beschäftigten für einen nicht Existenz sichernden Lohn arbeiten zu lassen. Das ist ein Verstoß gegen die UN-Menschenrechtskonvention, wie wir an anderer Stelle erläutert haben. Ein Unternehmen, das am Markt bestehen will, muss für die notwendige Produktivität sorgen, damit es den Beschäftigten einen Existenz sichernden Lohn zahlen kann. Dieses betriebswirtschaftliche Problem zu lösen, kann nicht Aufgabe eines allgemeinen gesetzlichen, auf die gesamtwirtschaftliche Produktivität der Volkswirtschaft abstellenden Mindestlohns sein. Die Produktivität der französischen Volkswirtschaft liegt ungefähr gleichauf mit der Deutschen. Warum also sollte Deutschland nicht in der Lage sein, einen Existenz sichernden Mindestlohn zu zahlen?
Münchau scheitert aber nicht nur an der Bestimmung der Höhe, von der ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn ausgehen sollte. Er scheitert auch an der Bestimmung seiner Entwicklung. Er tut dies, in Ricardos Worten, weil ihm das theoretische Bezugssystem fehlt. Das theoretische Bezugssystem für die richtige Lohnentwicklung, das Ricardo übrigens gleich mitgeliefert hat, ist die Entwicklung der Produktivität und des Inflationsziels: Entwickeln sich die Löhne entsprechend, sind sie kosten- und verteilungsneutral, produzieren also keine Wettbewerbsnachteile, aber eben auch keinen Mangel an Nachfrage, deren Steigerung der Produktivitätssteigerung entsprechen muss, damit keine Arbeitsplätze vernichtet werden. So herum wird ein Schuh draus (vergleiche hierzu ausführlich hier).
Münchau aber spricht sich zwar für die politische Bestimmung des Mindestlohns aus und gegen eine Bestimmung durch die Tarifpartner, findet aber wiederum nicht die richtige Begründung für diese korrekte Forderung. Er meint dies sollte deswegen geschehen, weil der Mindestlohn “kein Instrument tarifpolitischer Feinsteuerung, sondern Ausdruck politischer Willensbildung” ist. Was aber, wenn die politische Willensbildung so wie bei Münchau auf der falschen Analyse basiert? Dann ist offensichtlich nichts gewonnen. Nur, wenn die politische Willensbildung das richtige Bezugssystem für die Bestimmung des Mindestlohns zur Grundlage wählt, kann sie erfolgreich sein und den Mindestlohn sogar zu einem sinnvollen Instrument gesamtwirtschaftlicher Steuerung im Sinne des Stabilitätsgesetzes und der Europäischen Währungsunion machen (vergleiche hierzu ausführlich hier). Die Ausgangshöhe des Mindestlohns ist so festzulegen, dass er die Existenz sichern kann. Der Niedriglohnschwellenwert kann hier ein Mittel zur Bestimmung der Ausgangshöhe sein (wir haben an anderer Stelle einen alternativen Vorschlag für die richtige Bestimmung der Ausgangshöhe gemacht). Die Entwicklung des Mindestlohns sollte jedes Jahr auf Basis der in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgewiesenen Entwicklung der Arbeitsproduktivität plus dem Inflationsziel der EZB festgesetzt werden. Dass Münchau den Mindestlohn auch noch in Abhängigkeit zur konjunkturellen Entwicklung setzt, wie oben zitiert, zeigt, dass er all dies nicht be- und durchdacht hat.
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(1) Hier zitiert nach: David Ricardo, Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung, Herausgegeben von Heinz D. Kurz. und Christian Gehrke
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