Politik ist immer auch Kompromiss. Die Gefahr dabei: Sich zu kompromittieren. Beides, der Kompromiss und sich zu kompromittieren, liegt nicht nur sprachlich nah beieinander. Die Politik ist voll von kompromittierenden Kompromissen. Dass die SPD es darin seit langem zur Meisterschaft gebracht hat, ist bekannt. Ihr ehemaliger Parteivorsitzender Franz Müntefering hat dies mit seinem Satz, “Ich bleibe dabei: Dass wir oft an Wahlkampfaussagen gemessen werden, ist nicht gerecht“, nicht nur einmal treffend ausgedrückt. Auch damals ging es um das Thema Steuern. Mit dem Unterschied, dass die SPD damals eine Mehrwertsteuererhöhung im Wahlkampf ausgeschlossen hatte, sie dann aber in der großen Koalition eine Erhöhung um drei Prozent beschloss. Im gerade zurückliegenden Wahlkampf aber hat die SPD unter anderem versprochen, den Spitzensteuersatz von 42 auf 49 Prozent anzuheben und die Vermögenssteuer wieder einzuführen. Der jetzige SPD-Chef, Sigmar Gabriel, scheint aber seinem Vorgänger Müntefering nicht nachstehen zu wollen. Ließ er am Montag noch verlauten: “Wir nehmen kein Wort unserer Steuerpläne zurück.” So sagt er jetzt, nach dem ersten Sondierungsgespräch mit CDU/CSU: “Steuererhöhungen sind kein Selbstzweck.” Und das SPD-Blatt Vorwärts zitiert ihn darüber hinaus mit den Worten: “Wir werden auf Steuererhöhungen verzichten können, wenn die Steuerhinterziehung wirksam bekämpft wird´, ist Sigmar Gabriel überzeugt.”
Wer aber hätte jemals gedacht, dass Steuererhöhungen “Selbstzweck” sind. Niemand bei klarem Verstand. Der Zweck höherer Steuern für Spitzenverdiener und Vermögende ist, zu versuchen, die schreiende Einkommens- und Vermögensungleichverteilung auszugleichen – die erst durch die unter der SPD geführten Regierung umgesetzten radikalen Steuersenkungen für Spitzenverdiener und große Unternehmen und die “Arbeitsmarktreformen” (Hartz IV) überhaupt entstehen konnte. Der Zweck höherer Steuern für Spitzenverdiener und Vermögende ist, zu versuchen, politischen Gestaltungsspielraum zurückzugewinnen und auf eine stabile Basis zu stellen. Dass selbst trotz der dem Allgemeinwohl abträglichen radikalen Steuersenkungen unter rot-grün und später schwarz-rot immer noch Steuerhinterziehung bekämpft werden muss, zeigt nicht nur das Scheitern der von der SPD in Regierungsverantwortung zu verantwortenden Niedrigsteuerideologie – in der sie, als es darauf ankam, nicht anders dachte als CDU/CSU und FDP, nur radikaler handelte, als es CDU/CSU und FDP zuvor jemals getan. Dabei ist die Niedrigsteuerideologie eben auch für die Steuerhinterziehung mit verantwortlich, denn die mit den Steuersenkungen verbundenen Einsparmaßnahmen im öffentlichen Dienst haben auch dafür gesorgt, dass nicht genügend Geld für qualifiziertes Personal vorhanden ist, Steuerprüfungen in ausreichendem Umfang vorzunehmen; vom politischen Willen dazu einmal ganz abgesehen. Jetzt zu meinen, mit einer wirksameren Bekämpfung der Steuerhinterziehung würden sich auch die anderen Zwecke, denen Steuererhöhungen für Spitzenverdiener und Vermögende dienen sollten, erledigen, zeigt in der Tat, dass für Gabriel Politik nur eines ist: reiner Selbstzweck. Im wörtlichen Sinne. Die Politik hat ihm zu dienen und nicht umgekehrt. Das gilt für ihn nicht weniger als für Steinmeier, Steinbrück, Schwesig, Nahles, Oppermann und wer noch alles bei diesen Sondierungsgesprächen mitmischt, ohne die im Wahlkampf vertretenen Positionen zu verteidigen. Im Grunde genommen hat schon das Wahlergebnis bewiesen, dass die SPD in der zentralen Frage, Wirtschaft und Gesellschaft gerechter zu gestalten, keine Glaubwürdigkeit zurückgewonnen hat, seitdem sie sie in der Schröder-Ära verlor. Wie auch. Sie sind allesamt Vertreter dieser Ära. Bis heute. Wäre Politik nicht Selbstzweck für sie, hätten sie schon 2009 die politische Bühne verlassen, spätestens aber jetzt nach der erneuten Wahlniederlage den Hut genommen.
Vor Beginn der Sondierungsverhandlungen habe ich abgegeben, um eine Diskussion anzustoßen:
“Meine Prognose: Es gibt Neuwahlen. Warum? CDU/CSU können nicht von ihrem zentralen Wahlversprechen herunter, das hieß: keine Steuererhöhungen. SPD und Grüne können nicht von ihrem zentralen Wahlversprechen herunter, das hieß: Steuererhöhungen. Sobald eine der Parteien ein Zugeständnis bei diesem Thema wagt, muss sie befürchten, von der anderen Partei als Wahlbetrüger dargestellt zu werden und macht sich bei anderen, im Vergleich zum Thema Steuern Nebenkriegsschauplätzen, erpressbar. Einzige Chance für CDU/CSU: die SPD wacht bis zum Ende der Verhandlungen nicht auf und muss/will sich (mittlerweile gewohnt, Niederlagen als Siege zu begreifen) schließlich ihrem Schicksal als Merkels kleine Strolche ergeben. Top, die Prognose gilt. Selbstverständlich ohne Gewähr.”
Die SPD ist nicht aufgewacht und wird sich aller Voraussicht nach als Merkels kleiner Strolch verdingen. Und CDU/CSU nutzen ihre Chance. Der Focus titelt schon einmal mit: “Umfaller Gabriel: ´Steuererhöhungen sind kein Selbstzweck.” Der Kommentar eines Lesers zu meiner Prognose sah dies bereits vor den Sondierungsgesprächen kommen und entwarf dazu dieses Szenario:
“Es wird meiner Ansicht nach keine Neuwahlen geben. Die SPD hat mit dem seit Jahren andauernden Selbstbetrug (Wir sind die soziale Partei Deutschlands und die Agenda 2010 hat zum Wohlstand Deutschlands beigetragen und unsere Wähler sehen das genauso) schon soviel Erfahrung, dass sie die Führung, die für den andauernden historischen Niedergang dieser Partei verantwortlich zeichnet, nach der Niederlage sofort wieder in die Führung wählt…Und das Machtstreben der Herren Steinmeier, Gabriel und einer Frau Nahles wird meiner Ansicht nach auch unterschätzt. Ergo, sie werden sich ´einig´ und die für die breite Masse der Bevölkerung denkbar schlechteste Alternative finden und darauf aufbauend wieder eine große Koalition bilden. Ob das Deutschland und Europa nach vorne bringt? Mit Sicherheit nicht. Aber der Großteil der Bevölkerung ist ja immer noch davon überzeugt, dass es uns allen gut geht und wird in vier Jahren wieder bei der CDU ihr Kreuz machen…Aber jedes Volk bekommt ja bekanntlich die Regierung die es verdient…”
Der Satz, den Gabriel zeitgleich zur Veröffentlichung dieses Artikels auf seiner veröffentlicht hat, wirkt vor diesem Hintergrund wie eine Mischung aus Auto- und Wählersuggestion und politischem Surrealismus: “Die SPD wird keine Koalition eingehen, nur um ein paar Ministerposten zu ergattern.”
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