Der Koalitionsvertrag, ablehnen oder nicht ablehnen?

Das Kernstück des Vertrags: der Mindestlohn

Da Union und SPD den Hauptgrund für die Schwächung der Arbeitnehmer – Hartz IV und die damit legitimierte Sanktionspraxis wie der Zwang, jede Arbeit zu jedem Lohn annehmen zu müssen – gar nicht erst zum Gegenstand der Koalitionsverhandlungen gemacht haben, ist der allgemeine gesetzliche Mindestlohn als Kernstück des Koalitionsvertrags zu verstehen. Dafür sprechen gleich mehrere Gründe. Erstens: Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn kann, ist seine Ausgangshöhe angemessen und seine verteilungsneutrale Entwicklung gesichert, ein wirksames Gegengewicht zur durch die Agenda 2010 gesetzlich festgelegte Übermacht der Arbeitgeber und das darüber verursachte Ungleichgewicht zwischen den Tarifparteien darstellen. Zweitens: Das von der Agenda 2010 ausgehende Lohndumping, das maßgeblich die Eurokrise mit verursacht hat, würde bei einer wirksamen Mindestlohnregelung und deren positive Auswirkung auf die allgemeine Lohnentwicklung ebenfalls eingedämmt. Drittens: Die Rente und die anderen Sozialversicherungen würden durch eine wirksame Mindestlohnregelung und dessen positive Auswirkungen auf die allgemeine Lohnentwicklung ebenfalls gestärkt. Die SPD-Basis – so meine Empfehlung – sollte daher die Zustimmung zum Koalitionsvertrag wesentlich von der darin festgelegten Mindestlohnregelung abhängig machen. Darüber hinaus gibt es jedoch weitere Entscheidungskriterien, die unten ebenfalls angesprochen werden.

Unter “Allgemeine gesetzliche Mindestlohnregelung” heißt es im Koalitionsvertrag:

“Gute Arbeit muss sich einerseits lohnen und existenzsichernd sein. Anderseits müssen Produktivität und Lohnhöhe korrespondieren, damit sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erhalten bleibt. Diese Balance stellen traditionell die Sozialpartner über ausgehandelte Tarifverträge her.

Sinkende Tarifbindung hat jedoch zunehmend zu weißen Flecken in der Tariflandschaft geführt. Durch die Einführung eines allgemein verbindlichen Mindestlohns soll ein angemessener Mindestschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichergestellt werden.

Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt. Von dieser Regelung unberührt bleiben nur Mindestlöhne nach dem AEntG.”

Andere Länder haben ihn längst! Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.

Dazu ist zu sagen:

Ein Mindestlohn von 8,50 Euro wäre, selbst wenn er heute schon eingeführt würde, nicht existenzsichernd. Noch weniger ist er es zur von der großen Koalition festgelegten Einführung zum 1. Januar 2015. “Ein angemessener Mindestschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer”, den der Koalitionsvertrag vorgibt “sicherzustellen”, ist damit nicht gegeben. Das europäische Amt für Statistik, Eurostat, hat für Deutschland Ende vergangenen Jahres den Niedriglohnschwellenwert von 10,20 Euro festgelegt. Deutschlands Haupthandelspartner Frankreich, das zugleich nach Deutschland die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone ist, hat einen Mindestlohn von 9,43 Euro. Der Niedriglohnschwellenwert für Frankreich beträgt laut Eurostat 9,20 Euro. Der französische Mindestlohn gilt im Übrigen für eine 35-Stundenwoche, so dass der Arbeitnehmer im Monat 1.430,22 Euro hat. Die Produktivität Frankreichs ist der Deutschlands vergleichbar. Warum sollte sich Deutschland also nicht einen Mindestlohn von 10,43 (entsprechend des höheren Niedriglohnschwellenwerts in Deutschlands) leisten können. Deutschland hat darüber hinaus durch seine schwache Lohnentwicklung seit Bestehen der Währungsunion gerade gegenüber Frankreich unfaire Wettbewerbsvorteile herausgeschlagen, weil sich Frankreich nahezu punktgenau, eben aufgrund seiner preisbestimmenden Lohn-/Produktivitätsentwicklung, an das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank gehalten hat. Der Koalitionsvertrag gibt den deutschen Arbeitgebern stattdessen mehr als ein weiteres Jahr einen Freifahrtschein zur Ausbeutung der Arbeitnehmer. Das ist angesichts der prekären Lage Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Dass der SPD-Chef Sigmar Gabriel jetzt für den Koalitionsvertrag mit den Worten wirbt, dieser sei einer für “die kleinen Leute”, ist allein schon vor diesem Hintergrund blanker Zynismus oder absolut realitätsblind (Gabriel im Wortlaut heute in Berlin: “Die große Koalition hat einen Koalitionsvertrag für die kleinen Leute geschrieben.”)

Die “uneingeschränkte” Gültigkeit des Mindestlohns soll sich laut Koalitionsvertrag außerdem bis zum 1. Januar 2017 hinziehen. Wie aber sollen beim Mindestlohn “Produktivität und Lohnhöhe korrespondieren”, wie es der Koalitionsvertrag vorgibt bzw. vortäuscht, wenn die Höhe des allgemein verbindlichen Mindestlohns “erstmals zum 10. Juni 2017 mit Wirkung zum 1. Januar 2018″ von einer Kommission der Tarifpartner geprüft werden soll? Das ist Betrug. Denn natürlich ist nicht davon auszugehen, dass sich bis dahin Produktivität und Preise nicht weiter entwickeln werden.

Bereiche, wo die Ausbeutung der Arbeitnehmer besonders üble Formen annimmt, wie bei der Saisonarbeit (Spargelstechen), sollen darüber hinaus “bei der Umsetzung berücksichtigt” werden, was ebenfalls nichts Gutes für die darin beschäftigten Arbeitnehmer bedeutet.

Und auch dieser Passus ist meiner Erfahrung nach nicht ehrlich:

“Im Übrigen ist klar, dass für ehrenamtliche Tätigkeiten, die im Rahmen der Minijob-Regelung vergütet werden, die Mindestlohnregelung nicht einschlägig ist, weil sie in aller Regel nicht den Charakter abhängiger und weisungsgebundener Beschäftigung haben.”

Sind es nun ehrenamtliche Tätigkeiten oder Minijobs? Das öffnet doch Missbrauch Tür und Tor, abgesehen davon, dass Minijobs für sich genommen gesetzlich legitimierten Missbrauch von Arbeitnehmern darstellen.

Europa

“Ein starkes Europa” steht im Koalitionsvertrag an vorletzter Stelle. An erster Stelle steht übrigens: “Deutschlands Wirtschaft stärken”. Für die Wirtschaft scheint der Koalitionsvertrag auch geschrieben, allerdings nicht für die Gesamtwirtschaft, sondern für die Arbeitgeberinteressen der großen Konzerne und Exportunternehmen. “Vollbeschäftigung, gute Arbeit und soziale Sicherheit” folgen erst an sechster Stelle unter dem Oberpunkt 2., sorgsam getrennt von “Deutschlands Wirtschaft stärken.” Einleitend heißt es unter der Überschrift “Ein starkes Europa”: “Das europäische Einigungswerk bleibt die wichtigste Aufgabe Deutschlands.” Warum erscheint die wichtigste Aufgabe aber erst an vorletzter Stelle? Ausgangspunkt – nicht Ergebnis – der deutschen Europapolitik sollen “solide und nachhaltig tragfähige Finanzen” bleiben. Auch hier kein politischer Kurswechsel also: “Wachstum und Beschäftigung, notwendige Eigenverantwortung der Staaten mit europäischer Solidarität und Demokratie”, sollen lediglich mit dem vorrangigen Ziel solider und nachhaltig tragfähiger Finanzen “zusammengebracht werden”. Die Ursachenanalyse der Eurokrise fällt entsprechend aus:

“Die Ursachen der Krise sind vielfältig: Sie reichen von einer übermäßigen Verschuldung einzelner europäischer Staaten über Defizite in der Wettbewerbsfähigkeit, wirtschaftliche Ungleichgewichte und Konstruktionsmängel in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bis zu Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten.”

Kein Wort über die gerade erst wieder und stärker denn je aufgeflammte Kritik an den deutschen Exportüberschüssen, die ja auf die deutschen Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik zurückzuführen sind. Entsprechend heißt es zur Krisenbewältigung:

“Damit Europa dauerhaft einen Weg aus der Krise findet, ist ein umfassender politischer Ansatz erforderlich, der Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und eine strikte, nachhaltige Haushaltskonsolidierung mit Zukunftsinvestitionen in Wachstum und Beschäftigung in sozial ausgewogener Weise verbindet.”

Dass die Beteiligten der SPD diese radikal ideologische, menschenfeindliche und ökonomisch widersinnige Ausführung unterschrieben haben, vielleicht sogar daran mitgeschrieben haben, sollte die SPD-Basis ihr nicht durchgehen lassen. Soziale Ausgewogenheit ist unter diesen Vorgaben nicht zu verwirklichen. Auch damit kann der Koalitionsvertrag niemals einer der “kleinen Leute” sein, wie Gabriel vortäuscht. Weder hier, noch sonst irgendwo in Europa. Weiter heißt es:

“Die Krise im Euroraum hat Konstruktionsmängel in der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion offen gelegt.”

Auch das ist nicht wahr. Die Krise hat nicht Konstruktionsmängel offen gelegt, sondern, bei genauerem Hinschauen, dass Deutschland einen Abwertungswettlauf durch Lohndumping losgetreten hat, der weiter in vollem Gange ist. Der Koalitionsvertrag schreibt diese irrsinnige Politik auch noch fest.

Das ganze Kapitel zu Europa liest sich wie ein Horror-Katalog. Dass die SPD-Führung daran mitgewirkt und dies unterschrieben hat, zeigt nur, dass sie absolut nicht lernfähig ist.

Personalien

In den Nachrichten ist zu hören, dass die SPD dafür gesorgt hat, dass vor der Mitgliederentscheidung der SPD keine Personalentscheidungen bekannt gegeben werden. Das soll, so die SPD, verhindern, dass möglicherweise personenbezogen entschieden wird, und dafür sorgen, dass ausschließlich über die Inhalte des Koalitionsvertrags entschieden wird. Nun sollten die SPD-Mitglieder aber wissen – nichts zeigt dies deutlicher als der Koalitionsvertrag selbst –, dass sich eben mit jenen Inhalten konkret Personen verbinden, die schließlich diese Inhalte vorgeben. Und dieser Koalitionsvertrag trägt eindeutig die Handschrift der SPD-Agenda-Politiker, die sich nicht im Ansatz von der der Union unterscheidet, noch nie unterschieden hat, außer vielleicht, dass jene SPD-Politiker, wie Steinmeier, noch radikaler ticken als die Unions-Politiker. Gabriel ist ebenfalls ein ausgewiesener Agenda-Befürworter, so auch Schwesig, die meines Wissens nach im Wahlkampf-Team von Steinmeier 2009 war und somit mit für die historische Wahlniederlage damals verantwortlich zeichnet. Ebenso Oppermann.

Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Armin Laschet hat Recht behalten. Vor zwei Tagen auf den Koalitionsvertrag angesprochen, sagte er: “…es wird keinen Politikwechsel geben, es wird keine sozialdemokratische Handschrift geben…“.

Historische Chance für die SPD-Basis

Die SPD-Basis hat die historische Chance, über einen politischen Neuanfang nicht nur in der deutschen Politik, sondern auch in der SPD zu entscheiden. Bitte nutzt diese Chance. Sagt nein zu diesem Koalitionsvertrag. Hilfreich wäre dafür sicherlich, wenn die führenden Köpfe der SPD-Linken endlich einmal Rückgrat zeigten und für die Ablehnung dieses Koalitionsvertrages plädieren, ja werben würden. Ich persönlich würde, soweit möglich, jeder Einladung der SPD-Basis folgen, um den Koalitionsvertrag zu diskutieren.

Quelle: Der Koalitionsvertrag

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