FAZ/Patrick Welter/Streit um deutschen Exportüberschuss: Plädoyer für einen Leistungsbilanzausgleich bei der FAZ

Um als Volkswirt die Texte von Volkswirten zu lesen, die, weiß Gott wie, bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ein Beschäftigungsverhältnis gefunden haben, braucht man Nerven wie Drahtseile (siehe zuletzt hier und hier oder auch hier). Nun hat sich mit Patrick Welter ein weiteres Prachtexemplar direkt aus den USA zu Wort gemeldet. Patrick Welter ist aber, obwohl vor Ort, weit davon entfernt, sich von der Kritik des IWF und des US-Finanzministeriums an den deutschen Exportüberschüssen anstecken zu lassen (siehe dazu zuletzt hier). Wahrscheinlich hat er, bevor er sich vom beschaulichen Frankfurt am Main aufmachte, eine Art Grundimmunisierung von der FAZ-Wirtschaftsredaktion mit auf den Weg bekommen. Oder muss man diese etwa gar schon haben, bevor man die Redaktionsräume der FAZ überhaupt betreten darf? Jedenfalls kalauert Welter in seinem Text erst einmal mächtig drauf los. Das buchstäblich Dumme daran nur: Er meint es tatsächlich ernst.

Die Kanzlerin, so Welter, könne doch schließlich nicht “am Zollhaus stehen und die Ausfuhr stoppen? Soll die Regierung die Deutschen verpflichten, mehr ausländische Produkte zu kaufen? Dass sie weniger Kapital ins Ausland tragen und mehr für den Konsum ausgeben? Man muss sich die Konsequenzen der Forderung bis ins Extrem bildhaft vorstellen, um zu erkennen, wie bizarr das alles ist.”

Ich finde, dieses Niveau kann man getrost unkommentiert stehen lassen. Interessanter ist da schon diese Auffassung Welters:

“Im Gegensatz zu anderen gesamtwirtschaftlichen Größen, die Politiker und manche Ökonomen zum Ziel erklären, ist der Wert eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts nicht ersichtlich. Wachstum ist gut, weil es den Wohlstand aller hebt. Der Wert einer geringen Arbeitslosigkeit erklärt sich von allein. Eine geringe Staatsverschuldung ist gut, weil Kindern und Kindeskindern eine geringere Steuerlast auferlegt wird. Eine niedrige Inflationsrate ist gut, weil Geldwertstabilität den Menschen erlaubt, mit weniger Unsicherheit zu wirtschaften. Aber was ist an einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht wünschenswert?”

Weil die Antwort auf diese von Welter sicherlich rhetorisch gemeinte, aber eben nicht als eine solche zu nehmende Frage so auf der Hand liegt, ist es so krass, dass so etwas in einem Leitmedium steht, das immerhin für sich in Anspruch nimmt, hinter ihm steckten immer kluge Köpfe. So sehr die FAZ diesen Ruf für ihr Feuilleton verdient, so wenig verdient sie ihn für ihren Wirtschaftsteil. Zu groß ist das, um im Bild zu bleiben, Leistungsbilanzdefizit, das die Wirtschaftsredaktion gegenüber der des Feuilletons hat entstehen lassen. Daher verbinde ich mit der Beantwortung jener oben aufgegriffenen Frage Welters den dringlichen Wunsch an die FAZ-Herausgeber, dieses Leistungsbilanzdefizit doch bitte umgehend auszugleichen. In diesem Fall ginge dies, anders als bei den Leistungsbilanzdefiziten, um die es gleich gehen soll, sogar reibungslos durch eine einseitige Anhebung des Leistungsniveaus der Wirtschaftsredaktion. Um diesen sicherlich anspruchsvollen Anpassungsprozess zu unterstützen, wäre es vielleicht hilfreich, die Feuilleton-Redaktion solange als eine Art Treuhandanstalt für die Entwicklung der Wirtschaftsredaktion einzusetzen, bis das Leistungsbilanzdefizit der Wirtschaftsredaktion gegenüber der des Feuilletons ausgeglichen ist.

Die folgende Antwort auf die Frage Welters wäre ihm eventuell selbst eingefallen, hätte er sie eben nicht rhetorisch gemeint, sondern zum Anlass genommen, seine vorangestellten Behauptungen zu prüfen.

1. Behauptung Welters: “Wachstum ist gut, weil es den Wohlstand aller hebt.”

Nichts belegt jedoch gründlicher als eben der deutsche Leistungsbilanzüberschuss, dass das deutsche Wachstum eben nicht den Wohlstand aller hebt. Wäre dies der Fall, hätte Deutschland eine ausgeglichene Leistungsbilanz. Weil aber die Löhne und Gehälter in Deutschland über viele Jahre hinter die Produktivität zurückgefallen sind (die Wirtschaftsredakteure deutscher Leitmedien sind hiervon ausdrücklich ausgenommen, fallen aber nicht ins Gewicht), und sich zudem die Einkommen zugunsten hoher und sehr hoher Einkommen und Vermögen konzentriert haben, aus denen weniger konsumiert wird, wie jeder halbwegs geschulte Volkswirt weiß, fragt Deutschland ständig weniger nach, als es produziert. Das geht nur, wenn die übrige Welt in die Bresche springt, und die überschüssige deutsche Produktion nachfragt. Weil die in Mitleidenschaft gezogene Binnennachfrage in Deutschland aber aufgrund der aufgezeigten Einkommensentwicklung nicht nur dafür sorgt, dass nicht genügend eigene Produkte im Inland nachgefragt werden, die ja deswegen in die übrige Welt exportiert werden müssen, sondern auch dafür, dass die Deutschen nicht entsprechend Produkte der übrigen Welt nachfragen, die Deutschland ansonsten im Gegenzug importieren würde, erzielt Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss, dem ein entsprechendes Leistungsbilanzdefizit der übrigen Welt gegenübersteht. Der im Außenhandel erzielte Einnahmeüberschuss Deutschlands ist zwingend der Ausgabenüberschuss der übrigen Welt. Damit dieser Ausgabenüberschuss (Verschuldung) finanziert werden kann, wird Deutschland gegenüber der übrigen Welt zum Gläubiger. Kapital wandert in Höhe des Leistungsbilanzüberschusses/-defizits aus Deutschland in die übrige Welt, so dass Deutschland in der Kapitalbilanz ein Defizit, der übrigen Welt in der Kapitalbilanz ein Überschuss in gleicher Höhe entsteht. So ist die Zahlungsbilanz insgesamt immer ausgeglichen. Der Ökonom Gustav Cassel erklärte diesen Sachverhalt 1921 in einem Gutachten für den Völkerbund mit diesen Worten: „Denn wenn ein Land mehr von einem anderen kauft, als es an dasselbe verkauft, muss die Bilanz irgendwie bezahlt werden, sei es durch Ausfuhr von Wertpapieren oder durch Kredite von dem anderen Land.“ (hier zitiert nach Claus Köhler, Wirtschaftspolitische Ziele in der globalen Welt, Volkswirtschaftliche Schriften, Band 564, Berlin 2013)

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Weder hebt also das auf einer nicht verteilungsneutralen Lohnentwicklung* basierende Wachstum in Deutschland den Wohlstand aller in Deutschland lebenden Menschen, noch hebt es den Wohlstand der Menschen in der übrigen Welt. Denn letztere müssen sich ja in der Höhe gegenüber Deutschland verschulden, in der sie mehr von Deutschland einkaufen, als sie dorthin verkaufen können. Das bedeutet aber auch, dass die übrige Welt in dem Ausmaß auf Wachstum und Arbeitsplätze verzichten muss, in dem Deutschland von ihr weniger einkauft als an sie verkauft. Deswegen ist ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht wünschenswert. Deswegen heißt es auch im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft in § 1: “Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.” Und deswegen steht in § 4 desselben Gesetzes geschrieben: “Bei außenwirtschaftlichen Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, deren Abwehr durch binnenwirtschaftliche Maßnahmen nicht oder nur unter Beeinträchtigung der in § 1 genannten Ziele möglich ist, hat die Bundesregierung alle Möglichkeiten der internationalen Koordination zu nutzen. Soweit dies nicht ausreicht, setzt sie die ihr zur Wahrung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts zur Verfügung stehenden wirtschaftspolitischen Mittel ein.” Aufgrund der aufgezeigten Einkommens- und Vermögensentwicklung kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass die Bundesregierung die gegebene außenwirtschaftliche Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ohne Beeinträchtigung der in § 1 genannten Ziele mit binnenwirtschaftlichen Maßnahmen abwehren kann. Sie würde damit die anderen unter § 1 genannten Ziele nicht nur nicht gefährden, sondern fördern.

Damit wäre der rethorischen Frage Welters auch schon Genüge getan. Wir können jedoch deswegen hier noch nicht Halt machen, weil auch seine anderen Behauptungen nach Aufklärung schreien.

2. Behauptung Welters: “Der Wert einer geringen Arbeitslosigkeit erklärt sich von allein.”

Das ist vielleicht richtig, führt allerdings dann nicht weiter, wenn man die Voraussetzungen für eine geringere Arbeitslosigkeit insgesamt (also nicht nur in Deutschland) nicht versteht (siehe dazu meine Ausführungen zur 1. Behauptung Welters). Eine geringe Arbeitslosigkeit zu jedem Preis (Lohn bzw. Niedriglohn) und zu jeder prekären Arbeitsbedingung lässt zudem den Wert einer geringen Arbeitslosigkeit fallen (siehe dazu Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte).

3. Behauptung Welters: “Eine geringe Staatsverschuldung ist gut, weil Kindern und Kindeskindern eine geringere Steuerlast auferlegt wird.”

Dieses Niveau, ich muss es leider noch einmal betonen, verlangt einem Volkswirt wirklich Nerven wie Drahtseile ab. Ich hole also tief Luft, um auch diese Behauptung Welters, der tatsächlich einen Abschluss in Volkswirtschaftslehre hat, auf ihren Gehalt hin zu prüfen.

Was nämlich haben die Kinder und Kindeskinder von einer geringeren Steuerlast, wenn ihnen aufgrund der geringeren Staatsverschuldung zwingend auch ein geringeres Staatsvermögen gegenübersteht, das sich materiell beispielsweise in schlechter Infrastruktur und immateriell in schlechter Bildung niederschlägt? Jeder nicht vererbte Euro Schulden, auch das weiß jeder halbwegs geschulte Volkswirt, bedeutet zwingend auch einen Euro weniger vererbtes Vermögen. Genauso wichtig ist: Warum sollten für staatliche Investitionen wie Schulen und Infrastruktur nur die gegenwärtig lebenden Generationen Steuern zahlen, wenn doch auch die zukünftigen Generationen davon profitieren? Jeder Unternehmer finanziert seine Investition nach ihrer Amortisationszeit. Warum sollte der Staat mit dieser bewährten kaufmännischen Regel brechen? Die offensichtlich unausgegorene Idee von einer geringen Staatsverschuldung auf Teufel komm raus, so also, wie Welter sie in seinem Text vertritt, hat doch gerade über die vergangenen fünfzehn Jahre zu dem Investitionsrückstand bei der öffentlichen Infrastruktur geführt und viele andere missliebige gesellschaftliche Folgen gezeitigt – die den zukünftigen Generationen, ja selbst schon den jetzt lebenden noch teuer zu stehen kommen werden bzw. bereits jetzt teuer zu stehen kommen. Ob eine Steuer zur “Steuerlast” wird hängt eben an solchen Überlegungen, die Welter offensichtlich abgehen, und an der unter 1. aufgezeigten Einkommensentwicklung und -verteilung.

4. Behauptung Welters: “Eine niedrige Inflationsrate ist gut, weil Geldwertstabilität den Menschen erlaubt, mit weniger Unsicherheit zu wirtschaften.”

Was ist eine “niedrige Inflationsrate”? Nach der Europäischen Zentralbank (EZB) wie auch nach der Auffassung in anderen entwickelten Industriestaaten, auch in den USA, liegt eine wünschenswerte Inflationsrate, die Geldwertstabilität garantiert, bei jährlich zwei Prozent. Die deutsche Inflationsrate wie die des Euroraums liegen aufgrund der wirtschaftlichen Krisenverschärfung, die eben durch das Denk- bzw. Nicht-Denkgebäude, das auch Welter tief verinnerlicht hat, und dessen praktische Umsetzung eingetreten ist, mittlerweile weit unter dem Inflationsziel der EZB von “unter, aber nahe zwei Prozent”. Eine solch “niedrige Inflationsrate” aber erlaubt gerade nicht, “mit weniger Unsicherheit zu wirtschaften”, sondern erhöht die Unsicherheit, zum Beispiel die, die sich mit möglicherweise weiter fallenden Preissteigerungen oder sogar fallenden Preisen verbindet, namentlich Investitions- und Konsumzurückhaltung und die damit verbundene Gefahr einer weiteren Schwächung der wirtschaftlichen Aktivität und weiter steigender Arbeitslosigkeit.

Auch der gerade gestern vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte erneute Rekordexportüberschuss Deutschlands mit der übrigen Welt hat diese Unsicherheiten nicht genommen, sondern verstärkt. Sonst hätte Draghi doch vorgestern nicht den Leitzins senken müssen. Draghi hat auf einem Podium gegenüber Altkanzler Helmut Schmidt gerade noch einmal den deutschen Leistungsbilanzüberschuss ähnlich beurteilt und gerechtfertigt, wie Welter es in seinem Text getan hat. Draghi meint auch, dass die übrige Welt, vor allem die anderen Länder der Europäischen Währungsunion, dem deutschen Beispiel folgen sollten und können. Da aber diese Strategie auch im Jahr fünf nach Ausbruch der Finanz- und Eurokrise nicht aufgegangen ist, musste er vorgestern den Leitzins erneut senken. Weil aber Draghi, die EU-Kommission, die deutsche Bundesregierung und nicht zuletzt der deutsche Journalismus in geradezu kameradschaftlicher Weise nicht vom einmal eingeschlagenen Weg abweichen wollen, wird auch diese Leitzinssenkung nicht helfen. Es tut weh, aber man muss Draghi aufgrund seiner Äußerungen attestieren, dass auch er grundsätzliche volkswirtschaftliche Zusammenhänge nicht zu verstehen scheint.**

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*verteilungsneutral=die Löhne entwickeln sich entsprechend der Produktivität, kostenneutral, plus dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank, verteilungsneutral

**So auch die Deutsche Bundesbank, die es ebenfalls für “nicht angezeigt” hält, “Maßnahmen zur kurzfristigen Belebung der Binnennachfrage
in Deutschland zu ergreifen. Gefordert sind vielmehr politische Anstrengungen, den notwendigen Anpassungsprozess in den Krisenländern fortzuführen und einen tragfähigen institutionellen Rahmen für die Währungsunion insgesamt zu schaffen. Dann wird sich die Unsicherheit nachhaltig verringern, was eine Rückführung der deutschen Überschussposition unterstützt.” Sie verstößt damit meiner Auffassung nach, ebenso wie die Bundesregierungen seit Gerhard Schröders Kanzlerschaft, aufs Gröbste gegen das oben aufgegriffene Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft.


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