“Für mich wäre akzeptabel, wenn nicht nächste Woche der Mindestlohn sofort käme, sondern dass es vielleicht eine angemessene Übergangszeit gibt.” Das sagt nicht irgendein Chef der Arbeitgeberverbände, sondern der gerade erst gestern frisch gewählte IG-Metall-Vorsitzende, Detlef Wetzel. Diese Aussage Wetzels, die er heute früh im Interview mit dem Deutschlandfunk traf, durchzog dann die Nachrichten – gemeinsam mit dieser Meldung:
“Immer mehr Menschen in Deutschland von Armut bedroht
Trotz der gestiegenen Beschäftigung sind immer mehr Menschen in Deutschland von Armut bedroht. Zu diesem Ergebnis kommt der “Datenreport 2013″, den Statistiker und Sozialwissenschaftler in Berlin vorstellten. Demnach gab es 2012 mit 41,5 Millionen Erwerbstätigen so viele wie noch nie. Gleichzeitig sank das Arbeitsvolumen, weil es immer mehr Teilzeitstellen gibt. Das Armutsrisiko ist besonders für die Älteren gestiegen. Aber auch Jüngere sind überdurchschnittlich häufig von Armut bedroht. Insgesamt lag der Anteil der armutsgefährdeter Personen 2011 bei 16,1 Prozent. 2007 waren es noch 15,2 Prozent gewesen.”
Ob diese Menschen die Aussage des “Arbeitnehmervertreters” Wetzel “akzeptabel” finden? Mich jedenfalls hat die Meldung umgehauen. Nicht nur das ein Mindestlohn von 8,50 Euro schon heute nicht Existenz sichernd ist (der Niedriglohnschwellenwert der jedes Sozialismus unverdächtigen europäischen Statistikbehörde, Eurostat, beträgt 10 Euro 20 für Deutschland), nicht zuletzt, weil es die Gewerkschaften über Jahre versäumt haben, ihre Forderung an den Verteilungsspielraum anzupassen und vieles dafür spricht, dass sie ihre Forderung von vornherein zu niedrig angesetzt haben.
Oder meint der neue Chef der größten Einzelgewerkschaft nur die Mitglieder der IG-Metall vertreten zu müssen, deren Mehrzahl vielleicht nicht zu den immer mehr Menschen zählt, die in Deutschland von Armut bedroht sind? Vielleicht halten dann aber die IG-Metall-Mitglieder, die Malocher, die Basis, die Aussage Wetzels für ebenso wenig akzeptabel wie ich oder die immer mehr Menschen, die in Deutschland von Armut bedroht sind. Deswegen zunächst meine Empfehlung an diese IG-Metall-Mitglieder: Zeigt Eurem neuen Vorsitzenden was ökonomisch sinnvoll und was solidarische Arbeitnehmerschaft ist und lasst als Reaktion “für eine angemessene Übergangszeit” Eure Mitgliedschaft ruhen, zahlt also keine Beiträge. Als “angemessene Übergangszeit” könnte die Zeit gelten, die im Koaltionsvertrag von Union und SPD für die Einführung eines Mindestlohns angesetzt wird.
Vor zwei Wochen war ich auf einer Geburtstagsfeier. Dort saß ich zusammen am Tisch mit einem jungen Pärchen mit einem Baby. Beide arbeiten seitdem sie ihre Ausbildung absolviert haben im Dienstleistungssektor. Plötzlich waren wir im Gespräch beim Mindestlohn angelangt. Da erzählt mir der junge Mann: “Ich bin aus der Gewerkschaft ausgetreten. 15 Jahre war ich Mitglied. Was habe ich davon gehabt? Für das Geld bekomme ich jetzt eine Menge Strampler…” Mich hat das zutiefst betroffen gemacht. Nicht, dass er aus der Gewerkschaft ausgetreten ist, sondern so ganz konkret, ja geradezu unpolitisch dargelegt zu bekommen, wie diese junge Familie wie verrückt arbeitet, in Früh- und in Spätschichten und dennoch jeden Pfennig umdrehen muss, das Geld hinten und vorn nicht reicht. Das ist natürlich nicht die Aufsichtsrat-Welt des Herrn Wetzel. Es ist auch nicht die Aufsichtsratswelt des Armin Schild, der sich erst vor wenigen Tagen, ebenfalls im Deutschlandfunk, nicht minder inakzeptabel über den Mindestlohn geäußert hat (siehe dazu hier). Und vielleicht gibt es ja tatsächlich viele Funktionäre in der IG Metall, die meinen, sie seien nur für die Arbeitnehmer der Exportindustrie ihrer Branche zuständig und die anderen müssten halt noch etwas warten. Die aber, die das mit ökonomischen Verstand und aus gesellschaftspolitischer Verantwortung ablehnen, sollten diesen selbstgefälligen, denkfaulen Funktionären einmal die rote Karte zeigen. Und wo trifft es sie nun einmal empfindlicher als beim schnöden Mammon, den Mitgliedsbeiträgen. Wer nicht so empfindet, sollte wiederum darüber nachdenken, ob er seine Mitgliedsbeiträge nicht lieber gleich in die Hände der Kanzlerin legt. Die lässt sich nämlich auch dadurch leiten, dass es den Menschen erst in vier Jahren besser geht als heute:
“Maßstab für mich ist vor allen Dingen – und das leitet mich -, dass ich, soweit man die Zukunft überhaupt überblicken kann, eine Gewissheit habe, dass es der Koalitionsvertrag, den wir abschließen, ermöglicht, dass es den Menschen in Deutschland in vier Jahren besser geht als heute.”
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