Eine Apostelgeschichte zu Weihnachten? Nun, auch die Apostelgeschichte, entstanden zwischen 80 und 90 n. Chr., gäbe es ja wohl kaum, ohne das Ereignis, dem wir auch das heutige Weihnachtsfest verdanken. Sogar der Autor, dem die Apostelgeschichte zugeschrieben wird, Lukas, ist der des Evangeliums, in dem die Weihnachtsgeschichte nicht nur besonders schön beschrieben ist. Im Evangelium des Lukas wird die Geburt Jesus, anders als im Evangelium des Matthäus, fast nüchtern, historisch, ich wage es zu schreiben, säkular, in jedem Fall aber so erzählt, dass es auch heute so geschrieben sein könnte, wenn auch sicherlich um einige, unter anderem der damaligen christlichen Zeitrechnung geschuldeten Ungenauigkeiten korrigiert:
“In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.” (1)
In der mir vorliegenden, hervorragend erläuterten Einheitsübersetzung der Bibel heißt es dann auch, “dass er (Lukas, T.H.) allem genau nachgegangen sei, um die Verkündigung der Kirche historisch und theologisch als zuverlässig zu erweisen.” Und noch eine überaus interessante Anmerkung findet sich darin:
“Die Sonderüberlieferungen des Lukas (Gleichnisse vom barmherzigen Samariter, vom verlorenen Sohn, vom klugen Verwalter, vom Pharisäer und Zöllner u.a., T.H.) stehen im Dienst seiner theologischen Aussagen. Er zeigt Jesus den Heiland der Verlorenen, der sozial Entrechteten, der Frauen, der Zöllner und Sünder…Das Christusbild von Lukas und sein Aufruf zu sozialem Verhalten sind bis heute maßgebend für die christliche Vorstellung vom Menschen und vom rechten Verhalten in der Gemeinschaft.”
Entweder, und hiermit betreten wir auch schon wieder den Boden der Gegenwart, ist diese Einschätzung aus dem Jahr 1980 nicht mehr zeitgemäß, oder aber die Politikergeneration, die sich in weiten Teilen zwar christlich dünkt, folgt jener christlichen Vorstellung vom Menschen und vom rechten Verhalten in der Gemeinschaft schon seit geraumer Zeit nicht länger. Warum sonst hätte der Papst den Mächtigen dieser Welt gerade erst vorhalten sollen: “Diese Wirtschaft tötet!”? Operiert die Wirtschaft doch nicht im luftleeren Raum, jedenfalls dann nicht, wenn ihr die Politik mit gemeinwohlorientieren Gesetzen eine entsprechende Orientierung gibt.
Vielleicht ist dem Papst gar der Lukas der liebste, der in der Apostelgeschichte festhielt: “Die Gütergemeinschaft der Urgemeinde: 4,32-37 Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam…Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt. Denn alle, die Grundstücke oder Häuser besaßen, verkauften ihren Besitz, brachten den Erlös und legten ihn den Aposteln zu Füßen. Jedem wurde davon so viel zugeteilt, wie er nötig hatte.” (1)
Der Moralapostel freilich, und hiermit komme ich zum eigentlichen Gegenstand dieses im Vergleich zum bisher Zitierten zweifellos bescheidenen Beitrags, will von solchen Zuständen nichts wissen. Er taucht in der Bibel meines Wissens auch nicht namentlich auf. Vielleicht kommt er den darin von Jesus so kritisierten Pharisäern und Schriftgelehrten am nächsten: “Oh ihr Pharisäer! Ihr haltet zwar Becher und Teller außen sauber, innen aber seid ihr voll Raubgier und Bosheit…Weh auch euch Gesetzeslehrern! Ihr ladet den Menschen Lasten auf, die sie kaum tragen können, selbst aber rührt ihr keinen Finger dafür…” (1) Meistens weiß der Moralapostel selbst wenig bis nichts. Das muss er auch nicht, denkt er, er hat ja die Moral auf seiner Seite. Denkt er.
Um Moral und Materialismus ging es auch am 23. Dezember in der Sendung “Kontrovers” des Deutschlandfunks, die ihren Namen in diesem Fall tatsächlich auch verdiente (2). Aufhänger der Sendung, an der sich auch die Bevölkerung über eine kostenlose Telefonnummer oder über E-Mail beteiligen konnte – ein hervorragendes Sendeformat –, war eben jene Anklage des Papst Franziskus: “Diese Wirtschaft tötet!” Schon die Besetzung der Sendung war dabei in der heutigen Medienwelt keineswegs selbstverständlich: Sie war nämlich mit Prof. Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler an der Universität Köln, Hans-Olaf Henkel, ehemaliger Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie BDI und Wolfgang Thierse, SPD, ehemaliger Bundestags-Präsident und –Vizepräsident und Mitglied der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, wirklich kontrovers.
Ich habe es vor rund zwei Jahren, am 12. Dezember 2011, sehr bedauert, dass, anlässlich der Buchvorstellung der letzten Ausgabe der “Deutschen Zustände” in der Bundespressekonferenz, bei der der SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Thierse in gesalbten Worten die Laudatio sprach, dann aber flugs aufbrechen musste, keine Gelegenheit bestand, diesen ausgewiesenen Moralapostel nach seiner eigenen politischen Verantwortung für eben jene Verhältnisse, die das Buch so hervorragend aufzeigt und analysiert, zu befragen. Die hatte er nämlich, vornehm und erhaben wie er nun einmal ist, ausgeklammert, obwohl ihn ein eigenes Kapitel in eben jenem Buch mit der Nase drauf gestoßen haben müsste. Aber ein Mitglied des Deutschen Bundestages mit der Nase auf etwas zu stoßen, ist eben schon lange kein Garant mehr dafür, dass es auf das Gestoßene auch tatsächlich aufmerksam wird und sich gebührend damit befasst.
Am 23.12.2013 nun hat der Deutschlandfunk-Moderator Dirk-Oliver Heckmann im Rahmen der Sendung “Kontrovers” jenes Anliegen nachgeholt, indem er, eben zu jenem Thema, Wolfgang Thierse nach seiner politischen Verantwortung befragte, der zunächst, wie nicht anders zu erwarten, auszuweichen suchte, dann aber, als Heckmann lobenswerterweise nicht locker ließ, äußerst dünnhäutig reagierte. Thierse steht damit durchaus beispielhaft, wenn auch ein betont negatives Beispiel gebend, für eine Politikergeneration, die das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland rücksichtslos den Partikularinteressen von Arbeitgeberverbänden, Vermögenden und anderen, einer schmalen Oberschicht dienenden Organisationen und Einzelpersonen, darunter nicht wenige aus Steuergeldern finanzierte “Wissenschaftler”, opferte und zu weiten Teilen zerstörte, gleichzeitig aber über die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen moralisiert. Dagegen sind in meinen Augen ebenso gewissenlose Politiker aus Union und FDP oder auch des “rechten” Seeheimer Kreises der SPD, die dieselbe Politik mitgetragen haben, dazu aber auch stehen, geradezu aufrichtige Leute.
Dass dieses Thema den Menschen auf den Nägeln brennt, zeigten die Anrufe der Hörerinnen und Hörer. Nicht zuletzt deren zumeist kluge Wortbeiträge machten die Sendung hörenswert. Ich möchte mich jedoch im Folgenden auf das eingangs skizzierte Phänomen konzentrieren. Sich damit auseinanderzusetzen, erscheint mir noch wesentlich relevanter, weil es, unterschwellig und zumeist im Verborgenen bleibend, mehr gesellschaftlichen Schaden anrichtet, als ein Hans Olaf Henkel mit seiner brachialen, jeder sozialen Wirklichkeit entbehrenden Position, die aber durchsichtig und damit irgendwie, auf ihre Art, ehrlich ist…Beispielhaft für die Politikergeneration: Moralapostel Wolfgang Thierse wird dünnhäutig, sobald es um seine politische Verantwortung geht (vollständiger Beitrag nur im Abonnement)
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