Das wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein: Der Bundesfinanzminister, der, gemeinsam mit der Kanzlerin, eingekauften “Sachverständigen” und Arbeitgeberverbänden, mit kräftiger Unterstützung einschlägiger Medien, die deutschen Exportüberschüsse mit Zähnen und Klauen verteidigt, hat plötzlich Kreide gefressen und weist sein Ministerium an, den Leistungsbilanzungleichgewichten in der Europäischen Währungsunion (EWU) nun doch endlich einmal vorbehaltlos auf den Grund zu gehen. Die Aufgabe wäre gar nicht so anspruchsvoll gewesen, hätte man die bekannten theoretischen Zusammenhänge doch nur einmal gewissenhaft abklopfen und deren empirischen Gehalt mit den bekannten offiziellen Daten prüfen müssen. Die Frage, die das Bundesfinanzministerium (BMF) in seinem Monatsbericht Dezember 2013 in dessen Rubrik “Analysen und Berichte” in fett gedruckten Lettern stellte, klang jedenfalls vielversprechend: “Lohnpolitik – geeignet zur Korrektur von Leistungsbilanzungleichgewichten im Euroraum?” Dem Kenner der Materie allerdings mussten schon bei dem deutlich kleiner gedruckten Untertitel, “Ergebnisse von Simulationsrechnungen”, Zweifel am guten Willen und der Ernsthaftigkeit der Autoren – und wohl auch ihres Auftraggebers, des Bundesfinanzministers – kommen.
Diese Skepsis richtet sich nicht grundsätzlich gegen makroökonomische ökonometrische Modelle. Anders als jede ökonomische Theorie aber, die sich über klare, nachvollziehbare Zusammenhänge beweisen muss – was nicht automatisch gleichzusetzen ist mit den komplexen mathematischen Modellen, mit denen in der heutigen Wirtschafts-”Wissenschaft” Ökonomen oder gescheiterte Mathematiker versuchen (müssen), einen guten Ruf und berufliche Anerkennung zu erwerben, dabei aber in vielen, wenn nicht den meisten Fällen, den Anspruch aufgeben, die Wirklichkeit zu erklären und praktikable Lösungen für ökonomische und gesellschaftliche Probleme zu entwickeln –, bleibt bei ökonometrischen Rechenmodellen in der Regel vieles im Dunkeln. Man spricht deswegen auch von einer “Black-Box”.
Und in der Tat sind die Ausführungen der Autoren der Simulationsstudie des Bundesfinanzministeriums zweifelsfrei nicht so gefasst, dass sie nachvollziehbar wären. So beziehen die Autoren ihre Annahmen und ihre Analyse auf ein “Basisszenario”, ohne dieses genauer zu bestimmen. Dabei ist das verwendete Rechen-Model, ein “makroökonometrisches Weltwirtschaftsmodell” (NiGEM), ein international anerkanntes. Man kann damit evtl. also auch seriöse Berechnungen anstellen. Dagegen spricht allerdings die Angabe, dass das Modell zwar kurzfristig nachfragebestimmt ist. Aber “in der langen Frist wird der Output angebotsseitig über eine gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion bestimmt.” Eine Produktionsfunktion, die, wie im November erschienenen Monatsbericht des BMF über dieses Modell zu lesen ist, “den Output für die lange Frist im ´steady state´ (Gleichgewichtssituation) bestimmt.” Was in diesem Modell genau drin steckt, erfährt man aber auch dort nicht, obwohl das BMF bei der hier behandelten Analyse auf den Überblick zum NiGEM im November-Bericht verweist. Und leben wir nicht gerade in einer sehr ungleichgewichtigen Welt? Wenn das Modell wirklich so verlässlich wäre, müssten wir uns darüber hinaus ja auch keine Sorgen mehr über die Zukunft der wirklichen Wirtschaftsentwicklung machen. Denn das NiGEM würde dann ja schon die richtigen Prognosen ausspucken. Die Qualität der Konjunktur-Prognosen, die meines Wissens auch auf dem NiGEM basieren, müssen aber auch immer wieder an die wirkliche Wirtschaftsentwicklung nach oben oder nach unten angepasst werden. So arbeitet beispielsweise die Bundesbank mit NiGEM und liegt bei einer Wirtschaftsanalyse zu Japan angesichts der realen Entwicklung dort ganz offensichtlich daneben. Die Bundesbank kommt aber erwartungsgemäß zu dem von ihr seit jeher gepflegten, aber längst widerlegten “Strohfeuer-Argument”. Die Anbieter von NiGEM werben damit, dass “NiGEM is trusted by over forty prestigious organisations including the IMF, OECD, BoE and ECB and is open and transparent to both academic and peer review.” Die Konjunkturprognosen und Wirtschaftsanalysen der genannten Institute werden aber auch regelmäßig von der Wirklichkeit eingeholt.
Hinzu kommt, dass die Annahmen, die die Autoren des Bundesfinanzministeriums in ihrer Simulationsrechnung getroffen und transparent gemacht haben, nicht realistisch sind bzw. den Vorgaben der Europäischen Zentralbank widersprechen und in einem Teil der EWU, den so genannten Krisenländern, ein Deflationsszenario voraussetzen. Zwar herrscht in Ländern wie Griechenland aufgrund der Austeritätspolitik (staatliche Ausgabenkürzungen, Entlassungen, Lohnkürzungen) wirklich Deflation (die Preise sinken auf breiter Front und nachhaltig). Nur kann es – außer von deutschen “Ökonomen” – niemals gewollt sein, Deflation willentlich herbeizuführen. Die US-Notenbank kennt seit den 1930er Jahren keine größere Gefahr als die Deflation; die japanische Notenbank unternimmt derzeit alles, um aus der über ein Jahrzehnt währenden Deflation herauszuwachsen. Ausgerechnet die Ökonomen des Landes aber, in dem nicht zuletzt aus der Deflation der 1930er Jahre heraus Adolf Hitler hervorgegangen ist und die ganze Welt ins Elend stürzte, meinen aber, sich um die Wirtschaftsgeschichte und deren theoretische und empirische Grundlagen nicht kümmern zu müssen.
Die Autoren des BMF müssen sich also von vornherein die Frage gefallen lassen, warum sie kein Szenario simuliert haben, in dem zwar in Deutschland die nominalen Lohnstückkosten und mit ihnen die Preise stärker steigen als das Inflationsziel der EZB, die nominalen Lohnstückkosten aber auch in den Krisenländern steigen, allerdings weniger stark als es das Inflationsziel der EZB vorsieht, und auf diesem Weg ein Ausgleich der Wettbewerbsfähigkeit stattfindet, ohne Deflationsgefahren und voraussichtlich deutlich besser im Einklang mit dem Inflationsziel der EZB von „unter, aber nahe zwei Prozent“ stehend. Ein ehemaliger Staatssekretär des Bundesfinanzministeriums, der Ökonom Heiner Flassbeck, hat entsprechende Szenarien bereits vor längerer Zeit vorgestellt. Ein deutsches Bundesfinanzministerium darf es sich aber offensichtlich erlauben, Studien, die in das enge Korsett der eigenen Ideologie nicht hineinpassen, zu ignorieren.
Soweit die Ausführungen der Autoren überhaupt eine Prüfung zulassen, fällt meine Beurteilung der Analyse vernichtend aus. Die Autoren haben ganz grundlegende Voraussetzungen für das Funktionieren der Europäischen Währungsunion entweder nicht verstanden oder gezielt ausgeblendet. Man kann nur hoffen, dass der Bundesfinanzminister mit diesem Schmarrn nicht bei der EU-Kommission und dem von ihr wegen der hohen deutschen Exportüberschüsse eingeleiteten Prüfungsverfahren gegen Deutschland durchkommt. Es ist bezeichnend, dass bisher meines Wissens niemand dieses Machwerk aufgegriffen und sich damit auseinandergesetzt hat.
Die Einleitung der Analyse des Bundesfinanzministeriums zeigt immerhin, dass das Problem, das zuletzt besonders überzeugend das amerikanische Finanzministerium analysiert und benannt hat, im deutschen Finanzministerium angekommen ist. Das ist ein Fortschritt. Der Umgang damit lässt allerdings zu wünschen übrig, wie ich gleich aufzuzeigen versuche.
Vorher aber ist noch ein positiver Punkt hervorzuheben, der allerdings im BMF wiederum nicht die richtigen Schlussfolgerungen nach sich zieht. In der Analyse des Bundesfinanzministeriums heißt es nämlich: “Die Entgelte der Arbeitnehmer repräsentieren eine zentrale ökonomische Variable, die in einer komplexen und zugleich offenen Volkswirtschaft wie Deutschland auf vielfältige Weise nach
innen und außen wirkt.” Wir haben in diesem Zusammenhang immer wieder darauf verwiesen und aufgezeigt, dass die Arbeitnehmerentgelte das mit Abstand größte Aggregat der Volkswirtschaft sind, nicht nur in Deutschland, auch anderswo in der Welt, auch in den USA… Bundesfinanzministerium/Leistungsbilanzungleichgewichte/Eurokrise: Bundesfinanzministerium simuliert sich die Welt, so wie sie ihm gefällt (vollständiger Beitrag nur im Abonnement)
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