Rezension: Jugend ohne Gott – nur die Wahrheit aussprechen erlöst

“Denn Gott ist die Wahrheit.” Heißt es am Ende in Ödön von Horváths Roman Jugend ohne Gott. Der, der so denkt, ist der Lehrer, aus dessen Perspektive Horváth “den Menschen im faschistischen Staate” zeigt, wie Horváth es selbst einmal in einem Brief an Franz Theodor Csokor ausgedrückt hat. Eine Theaterfassung dieses Romans haben jetzt Tilmann Köhler und Meike Schmitz verfasst und in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin auf die Bühne gebracht.

Das Bühnenbild ist spartanisch – wie ein Klassenzimmer. Längst hat sich die herrschende Ideologie auch der Schulen bemächtigt. Denn längst gilt, “was einer im Radio redet, darf keiner im Schulheft streichen.” Genau vor dieser Situation steht der Lehrer, als er einem seiner Schüler den Satz, “Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul”, aus dem Aufsatz streichen will. Christoph Franken spielt den Lehrer. Lange Haare, fahrig, ungelenk, immer wieder einen Schultisch wie ein Schutzschild vor sich herschiebend, von Zweifel, Unsicherheit und Angst getrieben. Aber er hat auch ein Gewissen. Und das bringt ihn dazu, den Schüler bei der Rückgabe der Klassenarbeit doch noch mit dessen Satz zu konfrontieren. Mit allen Konsequenzen, die das in einem totalitären System mit sich bringt. Für denjenigen, der seinem Gewissen folgt und nicht dem System und dessen hörigen Untertanen. Für den Lehrer also. In Horváths Worten: “Wenn kein Charakter mehr geduldet wird, sondern nur der Gehorsam, geht die Wahrheit, und die Lüge kommt.”

Köhler und Schmitz haben sich eng an die Romanfassung gehalten. Und das tut dem Stück sehr gut. Die Enge des Systems, die schließlich darauf aus ist, jeden Einzelnen in die Enge zu treiben und dazu zu zwingen, sich selbst an der Treibjagd zu beteiligen, greift auch nach den Zuschauern. Fast könnte man meinen, auch das sei gewollt: Uns als bloße Zuschauer dieses Systems einzubeziehen. Das Stück birgt dabei durchaus auch komische Momente, die es vor allem dem vor Spiellust sprühenden Helmut Mooshammer verdankt, endet aber nicht in Klamauk wie zuletzt bei den ebenfalls am Deutschen Theater gespielten Geschichten aus dem Wienerwald.

Gelungen auch die durch wenige Veränderungen erzielten, teils fast schattenhaft anmutenden Wandlungen und Rollenwechsel der einzelnen Figuren durch immer dieselben Schauspieler, die ihre Rollen hervorragend ausfüllen (Christoph Franken, Thorsten Hierse, Anton von Lucke, Helmut Mooshammer, Harry Schäfer, Maike Schmidt, Barbara Schnitzler). Vielleicht ist auch dies, neben der Schauspielkunst, Regie und Dramaturgie, eine Erklärung dafür: “Die Proben, die ganze Entstehung des Stücks war von einer wunderbaren Atmosphäre getragen”, erzählte mir mit leuchtenden Augen eine Praktikantin am Deutschen Theater in einem kurzen Gespräch vor Beginn, nachdem sie in den Kammerspielen neben mir Platz genommen hatte. Jugend mit Gott gibt es auch, denke ich.

Der Höhepunkt liegt zweifelsfrei nicht in der endgültigen Klärung des Mordes an einem Schüler durch einen Schüler. Sie dient dem Roman nur als kriminologischer Spannungsbogen. Das gelingt auch der Theaterfassung. Die Zäsur des Stücks liegt in der Wahrheit, die der Lehrer sich nach langen inneren Zerreißproben entschließt auszusprechen, und in der psychologischen Wirkung, die aus Christoph Franken so wunderbar herausplatzt: “Ich fühle mich wunderbar leicht”, ruft er dem Präsidenten, dem Staatsanwalt und dem versammelten Gericht zu, vor das er nur als Zeuge geladen ist. Vor allem aber ruft er es selbst in sich wach. “Fürchten Sie sich vor Gott”, schallt es ihm drohend entgegen. Er aber, endlich erlöst von allen äußeren und inneren Zwängen, begegnet “dem allgemeinen Abscheu” der verlogenen Gesellschaft mit den Worten: “Nein, ich fürchte mich nicht mehr vor Gott.” Und die Wahrheit ist es dann auch, die das Stück auflöst. Sie steckt an. “Weil halt der Lehrer auch die Wahrheit gesagt hat,” spricht die jugendliche Angeklagte, aber unschuldige Eva.

Der Theaterabend weckt aber noch eine andere, breitere Dimension des Stücks. Zumindest erschließt sich diese denjenigen, die vorher oder nachher im Programmheft zu Jugend ohne Gott gelesen haben oder aber schnell genug den Schriftzügen folgen können, die sich da zu Beginn an der Bühnenwand hochhangeln. “Wenn man betrachtet, woraus totalitäre Systeme ihre Kraft bezogen haben, die Welt wenigstens für eine Weile nach ihren Vorstellungen einzurichten, dann war das zuallererst die Zerstörung von bestehenden Sozialbeziehungen”, wird Harald Welzer zitiert, bei dem es weiter heißt: “Und wahrscheinlich ist man zu romantisch, wenn man davon ausgeht, so etwas geschehe immer in Kopie historischer Vorläufer. Es könnte vielmehr sein, dass der heutige Totalitarismus ausgerechnet im Gewand der Freiheit auftritt: in jedem Augenblick alles haben und sein zu können, was man haben und sein zu wollen glaubt.”

Und selbst ohne diese Hilfestellung, das Stück Horváths in die Gegenwart zu holen, ist Jugend ohne Gott doch voller Aussagen, die der heutigen Welt nicht so fremd sind, so fremd sein können oder zumindest entsprechende Assoziationen wecken. Wann habe ich zuletzt “die Wahrheit” gesagt – in einer Situation, in der ich um meinen Ruf, um meinen Arbeitsplatz, um meine “sichere Stelle mit Pensionsberechtigung” fürchten musste, wie es gleich zu Beginn in Jugend ohne Gott den Lehrer umtreibt, wird sich der eine oder die andere vielleicht im Stillen gefragt haben. Und diejenigen, die es gewagt haben, werden vielleicht die Parallelen in den Reaktionen erkennen, mit der sie auch heute noch dafür bestraft werden. “Selbst wenn ich Ihnen so etwas sage, dürfen Sie mir so etwas nicht sagen.” Oder: “Das wird wohl nichts, solange Sie streitbar sind.” Um nur zwei Originaltöne eines Arbeitgebers gegenüber seinem Arbeitnehmer aus der heutigen Arbeitswelt wiederzugeben! Totalitarismus im Berufsalltag. Und in welchen Gesichtern, die morgens von so vielen ermüdeten, von Stress geplagten Körpern und Seelen zur Arbeit oder zur Bundesagentur für Arbeit geschleppt werden, ist dann auch schon jene Leichtigkeit abzulesen, die in Jugend ohne Gott aus dem Lehrer mit den Worten, “Ich fühle mich so leicht”, herausbricht? Die wenigen Gesichter, die diese Leichtigkeit und Ruhe ausstrahlen, vielleicht sogar lächeln und einen Gruß aussprechen, fallen auf in der Masse der angespannten Masken und gereizten Blicke, die an mir in der Früh vorüberziehen, irgendwie trostlos, wie ein Gefangenenzug in einem Straflager.

Der Zufall wollte es, dass am Tag der Premiere von Jugend ohne Gott auch die alte und neue Kanzlerin Premiere hatte und ihre neue Amtszeit mit einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag eröffnete. Sie hat ein weiteres Mal versucht, uns und ganz Europa auf “Wettbewerbsfähigkeit” einzuschwören.  In Jugend ohne Gott ist von einem Buch die Rede: “Es hieß: ´Über die Würde des menschlichen Lebens´ und ist streng verboten.” Der Kanzlerin muss man das nicht erst verbieten. Sie tut es aus freien Stücken nicht: “Über die Würde des menschlichen Lebens” reden, die ihrer Ideologie der Wettbewerbsfähigkeit zum Opfer fällt, hier und in ganz Europa. Und die deutsche Sozialdemokratie spendet ihr dafür Beifall und unterstützt sie darin tatkräftig. Und unternimmt die herrschende Politik etwa nicht auch alles, um die “Wettbewerbsfähigkeit” in die Klassenzimmer zu tragen, mit tatkräftiger Unterstützung von Wirtschaftsverbänden und Medien? Ist es nicht längst wieder schwer für einen Lehrer, etwas im Schulheft zu streichen, “was einer im Radio redet” oder, schlimmer noch, in einem Schulbuch für “Wirtschaftslehre” als Unterrichtsmaterial vorgegeben ist?

“Die drückende, würgende Not der Krise nagt an der Tatkraft der Jugend und pflanzt ihr immer tiefer den Gedanken ein: es ist mehr als ein Kerker, zu dem wir verurteilt sind, es ist lebenslänglicher Kerker.” Diese ebenfalls im Programmheft zitierten Sätze von Jura Soyfer aus dem Jahr 1931 könnten auch heute entstanden sein, in Griechenland oder in Spanien, wo die Arbeitslosigkeit – nicht allein die der Jugend, sondern insgesamt – heute höher liegt als 1931 in Deutschland, und wo viele verzweifelte Menschen durch Selbstmord ihrem Schicksal auf Erden zu entfliehen suchen. Oder in einer der millionen Familien, die hierzulande von Hartz IV ihr Elend fristen müssen. Deutschland ohne Gott. Europa ohne Gott.

In Jugend ohne Gott sieht der Lehrer das “Zeitalter der Fische” aufziehen. “Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches.” Der Deutsche Bundestag, ein riesiges Aquarium. Der Bundespräsident beschwört unterdessen die “Freiheit”, wirft Edward Snowden aber “puren Verrat” vor. Der aber fühlt sich vielleicht so, wie der Lehrer, nachdem er die Wahrheit ausgesprochen hat, “so leicht”. Viele, wenn nicht die meisten aber werden noch lange, vielleicht wieder zu lange denken, wie der Lehrer zu Beginn in Jugend ohne Gott: “Wenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle? Er kann sich nur heimlich ärgern. Und ich will mich nicht mehr ärgern! Korrigier rasch, du willst noch ins Kino!”

Die nächsten Aufführungen: 22. Dezember, 28. Dezember, 4. Januar, 8. Januar (Spielplan)


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