“Darf ich es als Weihnachtsgeschenk verpacken?”, die gutgemeinte Frage der Verkäuferin kam unerwartet. Im September. Da waren Spekulatius und Lebkuchen zwar schon im Angebot, die Stadt aber wehrte sich noch tapfer gegen Weihnachtsglitter und Glühweinstände. Noch bevor die Sommerzeit zurückgedreht war, kam die nächste Frage mit weihnachtlichem Hintergrund: ob ich eine Gans bestellen möchte. Spätestens da war wieder klar: der ganze Weihnachtszauber nimmt seinen Lauf. Alle Jahre wieder.
Weihnachten hat viel mit Wiederholung zu tun, ein Ritual. Auch die längst multireligiös geprägte, mehrheitlich säkulare Gesellschaft scheint sich jedes Jahr auf´s Neue zu übertreffen mit unerklärlich günstigen Weihnachtsschnäppchen, schrillen Weihnachtsmärkten, glänzender Weihnachtsdeko. Und so sehr es blinkt und gleißt und so wenig all dies mit der Geburt im Stall zu tun hat: Weihnachten in der Stadt lebt von der Erinnerung an ein Leben außerhalb urbaner Zentren, ein Hauch von Sehnsucht nach Bethlehem schwingt mit, mindestens aber die Erwartung, die Stadt möge ihr hektisches Stadtsein endlich einmal unterbrechen.
Die in den Schaufenstern inszenierte Weihnachtsromantik im Retrolook soll das Verlangen nach einer heilen Welt stillen, aber der Kunstschnee kann nicht überdecken, wo sie kaputt ist. Vielen verschattet die weniger schöne Erinnerung an enttäuschte Erwartungen das unweigerlich heranrauschende Fest. Auch wer sich Weihnachten verweigert, kann sich nicht entziehen, in der Stadt schon gar nicht. In brutaler Gleichzeitigkeit lebt alles dicht beieinander, der Traum von Weihnachten und der Kampf um Weihnachten, erwartungsfrohe Kinder mit leuchtenden Augen und zitternde Einsame oder Ausgestoßene, deren Verletzungen zu Weihnachten sich neu entzünden.
Und welche Rolle spielen die Kirchen? Sie versuchen nicht, sich zu Weihnachten neu zu erfinden. Wie an jedem Sonntag, wie an Ostern, Pfingsten oder jedem beliebigen Tag im Jahr stehen die Kirchen unübersehbar mitten in Stadt oder Dorf und erwarten Besuch. Sie drängen sich nicht auf, vor allem aber weisen sie niemanden ab. Wer kommt, der findet einen offenen Raum, der keinerlei Frömmigkeit erwartet, sondern vieles zulässt: das Bestaunen des alten Gemäuers, die Neugier auf Historisches, den Respekt vor dem Baudenkmal, die Freude an alter oder neuer, gewaltiger oder zarter Musik, Interesse an Ausstellungen, Ruhe für´s Gedenken, individuelles Pausieren, Meditieren, Lachen oder Weinen – oder ein Gebet.
So wie die Gesellschaft dem Einzelnen Freiheit und seinen Willen lässt, so überlässt sich auch der geweihte Raum geduldig all denen, die kommen: Christen und Feiertagschristen, Kirchensteuerzahler und Schutzsuchende vollbringen alljährlich am 24. Dezember ein kleines Wunder: Da ist nicht die Kirche in der Stadt, sondern viel Stadt in der Kirche. Auch in mehrheitlich glaubensfernen und religionsfremden Gegenden sind die Kirchen zu Weihnachten nicht schöner, weil mehr Kerzen brennen, Krippe und Baum aufgebaut sind, sondern weil sie von Menschen gefüllt sind: Es kommen Gemeindemitglieder, Kirchensteuerzahler, Ausgetretene, Mühselige und Beladene, Gewohnheitsbesucherinnen und Irrläufer, Neulinge, Beseelte und verlorene Seelen. Ihrer aller Leben hat keinerlei Berührungspunkt: die einen haben genug, die anderen zu wenig, die dritten gar nichts, und manch einer wird zuviel haben, ohne es zu wissen. An 364 Tagen im Jahr verbindet diese Menschen gar nichts, sie leben ihre Leben nebeneinander her, anonym oder auch in freundlicher Gleichgültigkeit, nachbarschaftlich oder isoliert. Am Heiligen Abend aber kommen sie freiwillig und hören gemeinsam eine uralte Geschichte. Lukas, die Auslegung der Pastorin oder des Pfarrers, Chorgesang und Orgelklang erreichen auch heute noch eine große Zuhörerschaft. Ob sie eine gemeinsame Botschaft mit hinaus in die Stadt trägt? Oder der Einzelne diesen oder jenen Gedanken in seinem Innern bewahrt? Wer weiß das schon. Sicher ist immerhin, dass sich die Verkäuferin mit ihrem Geschenkpapier auf die Dekoration beschränken muss und der Gänsezüchter auf Geschmacksfragen zurückgeworfen ist. Die christlichen Kirchen aber können Weihnachten und dem Zusammenleben einen Inhalt geben. Das ist alljährlich eine Chance von biblischer Dimension.
Dr. Jacqueline Boysen ist Studienleiterin für Zeitgeschichte und Politik an der Evangelischen Akademie zu Berlin. Vorher war sie über viele Jahre als Journalistin beim Deutschlandfunk tätig. Ihr Text ist zuerst erschienen im Kirchenfenster Dez. 2013 der Sophienkirche Berlin-Mitte.
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