“Es gibt ihn also doch.” Der Wachmann schaute vergnügt lächelnd durch die Glasscheibe seines Aufsichtsraums und maß durch sie hindurch den Mann, den er so anredete, und der ihm vom Gürtel an sichtbar gegenüber stand. Es war ein schwerer schwarzer Gürtel, der glänzte, wie die schwarzen Lederschuhe, in denen viele, wenn nicht die meisten Bundestagsabgeordneten hier ein und ausgingen. Hier, im Jakob-Kaiser-Haus des Deutschen Bundestages, Eingang Wilhelmstraße, direkt gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio.
In der Mitte des Gürtels prangte eine nicht weniger glänzende und nicht weniger schwere goldene Schnalle. Das Kostüm, das der Gürtel zusammenhielt, war allerdings nicht der blaue, graue oder anthrazite Zwirn, an den die Augen des Wachmanns beim männlichen Geschlecht, das ihn hier passierte, gewohnt waren, sondern ein strahlend roter Filz. Da bekommt das Wort Rotlichtmilieu doch eine ganz neue Bedeutung, grinste der Wachmann in sich hinein, traute es sich aber nicht auszusprechen. Wer weiß, wer sich hinter diesem Kostüm verbirgt, dachte er. Mit der Figur könnte es glatt die Bundeskanzlerin persönlich sein. Weißer Bart hin oder her. Ist vielleicht ihr Weihnachtskostüm, wer weiß. Möglicherweise nutzt sie die Zeit, um sich einmal ohne ihren Tross von Sicherheitspersonal zu bewegen. Unerkannt. Als Weihnachtsmann. Ihre ganz persönliche Art, die Frauen-Quote zu verwirklichen. Warum kommt sie dann aber hierher und bewegt sich nicht mal wirklich raus aus dem Regierungsviertel? Der Wachmann lugte vorsichtshalber noch am roten Kostüm vorbei, das sich da vor ihm aufbaute, und hielt Ausschau, ob Polizei in Uniform und Zivil draußen postierte, entdeckte aber niemanden und verwarf seinen Verdacht. Nein, wenn es die Kanzlerin wäre, wäre sie nicht hierhergekommen. Irritiert stellte er jedoch fest, dass er den Mann gar nicht hatte hereinkommen sehen.
Der Blick des Wachmanns war jetzt hinaufgestiegen bis zu den Augen des Mannes, der tatsächlich aussah wie der der leibhaftige Weihnachtsmann. Alles wirkte so echt. Nicht so, wie die übliche Kostümierung, die er sich selbst am Heiligen Abend immer übergeworfen hatte, solange seine Kinder noch an ihn glaubten, den Weihnachtsmann. Bei seinem Gegenüber saß alles maßgeschneidert und sah genauso natürlich aus, wirkte so selbstverständlich, wie der blaue Kittel der Putzfrau, die gerade ihren Dienst beendete und zu seiner Rechten durch den Ausgang das Haus verließ. Die Augen des Mannes, den der Wachmann, freilich ohne sich dessen bewusst zu sein, nun schon mit der frischen Neugierde eines Kindes betrachtete, schienen sich zu einem großen, wogenden Ozean zu öffnen. Sobald der Wachmann seinen Blick auf sie richtete, hatte er das Gefühl, darin zu versinken. Nicht in Seenot, nein. Es fühlte sich für ihn eher an wie das wohlige Hinabsinken in eine heiße Badewanne. Mehr noch: Als würde er in eine fremde, friedliche, warme, wohlige, sorgenfreie, selbstlose, vertrauensselige Welt eintreten. Augenblicklich bekam er Lust, in sie hinein zu tauchen. Nur die breite Nase, die wie ein Fels zwischen den beiden Augen des – nennen wir ihn ruhig gutgläubig und unserem jetzigen Kenntnisstand entsprechend erst einmal – Weihnachtsmanns stand, ließ den Blick des Wachmanns sich wieder lösen. Und da registrierte der Wachmann, dass der Weihnachtsmann jetzt auch ihn anschaute.
Wer ist dieser Mann, fragte sich der Wachmann, jetzt wieder bei sich, aber etwas benommen und schwindelig. Da hielt ihm der Weihnachtsmann etwas sehr Vertrautes hin, den blauen Bundestags-Hausausweis, den alle Mitarbeiter des Bundestags bei sich führen müssen. Während der Wachmann, seit vielen Jahren im Dienst, die Mitarbeiter sonst routinemäßig nach einem kurzen, kontrollierenden Blick passieren ließ, begann er den des Weihnachtsmanns nun genauer zu fixieren. Jetzt sehe ich endlich, mit wem ich es zu tun habe, frohlockte der Wachmann. Doch was stand denn da, an der Stelle, wo gewöhnlich MdB-Mitarbeiter/in oder Mitarbeiter der Fraktion stand? Ich bin für alle da, stand dort geschrieben. Und: Der Weihnachtsmann. Jetzt wurde dem Wachmann doch mulmig. Auf dem Ausweis stand auch nicht 17. WP oder 18. WP, WP für Wahlperiode, sondern: Alle Jahre wieder, 6. bis 24. Dezember. “Tut mir leid”, sagte der Wachmann, plötzlich misstrauisch geworden und dem Weihnachtsmann mit hartem Wachmann-Blick in die Augen schauend, in denen er jetzt keinen blauen Ozean und keine fremde Welt mehr zu entdecken vermochte. “Das ist ja wohl eine Fälschung. Es ist zugegeben eine gute Fälschung. Sie ist so gut, dass ich mich gezwungen sehe, den Ausweis einzuziehen.”
Der Wachmann sah die großen blauen Augen des Weihnachtsmanns auf sich ruhen, nachdem er so gesprochen hatte, und ihm fiel jetzt erst auf, dass dieser noch gar nichts gesagt hatte. Schon bekam er ein schlechtes Gewissen, ob seines harten, einschüchternden Tonfalls gegen den Weihnachtsmann, und für einen Augenblick schlug er verlegen seine Augen nieder, wohl auch, um dem Blick des Weihnachtsmanns auszuweichen. Da ließ ihn ein helles Klingeln aufhorchen, eines, wie er es zuletzt in seiner Kindheit meinte gehört zu haben. Schon war er wieder ganz der Wachmann und blickte auf. Doch als er seine scharfen Augen auf den Weihnachtsmann richten wollte, war dieser verschwunden. Sollte ich jetzt nicht besser eine Meldung machen, fragte sich der Wachmann. Nervös blickte er nach links, um zu sehen, ob seine Kollegen, die im Nachbarraum die Besucher kontrollieren, etwas mitbekommen hatten. Doch die waren noch nicht im Dienst. Ich habe wohl geträumt, dachte der Wachmann jetzt und entschloss sich, es dabei zu belassen. Da sah er einen roten Stiefel vor sich stehen. Nicht hinter der Glasscheibe, sondern direkt vor ihm. Prall gefüllt mit Süßigkeiten, hausgebackenen Keksen, Stollen, Mandeln und Nüssen. Er fühlte den kalten Schweiß, der sich auf seiner Stirn bildete und war froh, dass er saß. Und doch entschloss er sich, keine Meldung zu machen. Viel zu groß war seine Angst, für verrückt erklärt zu werden und seinen Job zu verlieren.
Doch da war noch etwas: Er wusste, das war wirklich der Weihnachtsmann. Und er hatte das Gefühl, er würde nicht der einzige sein, den er in diesem Haus beschenken würde. Aber hatte der Weihnachtsmann nicht auch eine Rute bei sich geführt? Doch, der Wachmann hatte sie genau gesehen. Sie hing, Furcht erregend, an seinem schweren, schwarzen, glänzenden Gürtel. Der Wachmann schaute auf die Uhr. 6 Uhr 30. Jetzt trudelten die ersten Mitarbeiter ein. Der Wachmann begann sich auf seine Arbeit zu konzentrieren und vergaß darüber den Weihnachtsmann. So vernahm er auch nicht das sich hinter seinem Rücken langsam entfernende, immer leiser werdende Klingeln.
Gibt es ihn also wirklich, den Weihnachtsmann? Und interessiert er sich gar für Politik? Hat er es hinein geschafft, in den Deutschen Bundestag? Und wenn ja, was hat er vor? Fortsetzung folgt (im Abonnement)
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