Alltag im Regierungsviertel: Programmkritik

Morgens, es ist noch sehr früh, sechs Uhr vielleicht. Ich unternehme mit meiner vierbeinigen Kollegin Hilka einen ersten Gang durch das Regierungsviertel. Noch ist es dunkel. Es ist Freitag. Eine Sitzungswoche des Deutschen Bundestages klingt aus. Um das festzustellen, benötigt man keinen Kalender. Die schwarzen Limousinen des Bundestagsfahrdienstes verschwinden pünktlich aus dem Straßenbild. Der Lärm der schweren Rollkoffer klingt zwar noch in den Ohren, aber sie wurden von ihren unnachsichtigen Besitzern bereits am Abend oder in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag laut klagend über die Fußwege in Richtung Hauptbahnhof geschleift. Die Besitzer dieser bedauernswerten Poltergeister sind zumeist Mitarbeiter des Deutschen Bundestages oder irgendwelche kleine Lobbyisten, die in Berlin noch nicht zu Hause sind, vielleicht nie zu Hause sein werden. Die Bundestagsabgeordneten dagegen nehmen wie selbstverständlich den Fahrdienst des Bundestages in Anspruch oder werfen sich eilig in ein Taxi. Was kostet die Welt? Auch führt der Weg hinaus aus der Stadt die Bundestagsabgeordneten zumeist zum Flughafen und nicht zum Hauptbahnhof. Obwohl Sie mit ihrer Bahncard 100, 1. Klasse, die die Steuerzahler ihnen zum Geschenk gemacht haben, einfach in jeden Zug steigen und zu jeder Zeit in jede Richtung reisen können. Erster Klasse. Möglichst weit weg von den Menschen, die sie mehrheitlich gewählt oder auch schon nicht mehr gewählt haben. Möglichst weit weg von überfüllten Abteilen, die den Abgeordneten ihre Misswirtschaft und falsche Prioritätensetzung in der Verkehrspolitik buchstäblich vor Augen führen könnten.

Ich bin mit meinen Gedanken schon am Schreibtisch, als mir auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vor dem ARD-Hauptstadtstudio, im Vorübergehen ein Mann auffällt. Er ist gerade dabei, in einen der beiden am Eingang zum ARD Infocenter Spalier stehenden Pflanzenbottiche, aus denen jeweils ein kleines grünes Bäumchen ragt, zu pinkeln. Nicht nur der männliche Hund braucht einen Baum, denke ich. Meine Hündin Hilka kann übrigens auf das Wort “Pieeeeeesch” hin pischern. Sie geht dann, gut erzogen wie sie ist, an den Straßenrand und tut das, was der Mann dort gerade getan hat. Vielleicht nicht ganz so wohlerzogen wie Hilka. In den Pflanzenkübel des ARD Hauptstadtstudios. Noch Tage später kann ich mich davon überzeugen, dass das Bäumchen prächtig gedeiht.

Vor allem aber frage ich mich: Ist das vielleicht eine durchaus angemessene Programmkritik an der ARD oder gar dem öffentlichen Rundfunk und Fernsehen insgesamt? Eine Generalabrechnung? Dann aber denke ich: Dieser arme Teufel hat sicherlich schon lange keinen Fernseher mehr gesehen, noch weniger in einen hineingeschaut. Doch deswegen ist er sicherlich kein armer Teufel. Ich habe seit zwanzig Jahren keinen Fernseher. Und ich bin vielleicht erst dadurch ein wirklich glücklicher Mensch geworden. Aber, wer weiß, vielleicht hätte diesen Mann gerade Fernsehen glücklich gemacht. Ihn von seinen Sorgen abgelenkt. Er war sicherlich einer der vielen Obdachlosen, die unter widrigsten Umständen in der Hauptstadt versuchen zu überleben. Kaum haben sie sich irgendwo niedergelassen, weiter oben an der Spree zum Beispiel, in Richtung Kanzleramt, sind ihre armseligen Behausungen auch schon wieder weggeräumt. Wie es ihnen wohl ergangen ist, frage ich mich jedes Mal? Und wie wohl die Ordnungshüter, zumeist selbst unterbezahlt, mit ihnen umspringen? Ich weiß es nicht. Gerade heute hat das Statistische Bundesamt bekannt gegeben, dass die Mieten in Berlin weit stärker gestiegen sind als im Durchschnitt der Bundesrepublik. Und muss ich etwa nicht selbst darum kämpfen, meine Miete rechtzeitig auf dem Konto zu haben?

Dann aber denke ich an die ungerechten, weil nicht nach Einkommen und Nutzung erhobenen und eingetriebenen Rundfunk- und Fernsehgebühren und interpretiere das Verhalten jenes Mannes als Protest dagegen. Das ist natürlich willkürlich. Doch nicht nur das, es ist auch feige. Denn den Mut, so meiner Unzufriedenheit über dieses Gebührenregime Luft zu machen, darüber, für jeden Deppen(dorfer) mit bezahlen zu müssen, hätte ich, das gebe ich zu, wahrlich nicht.

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Ihr Florian Mahler

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