Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin: Merkel atomisiert die Gesellschaft

“Und natürlich ist fern der großen Schlagzeilen auch in unserem persönlichen Leben viel geschehen”, las die Bundeskanzlerin aus ihrer Neujahrsansprache vom Teleprompter ab. Wer jetzt meinte, dass zu den “großen Schlagzeilen” die Massenarbeitslosigkeit in Europa gehört oder die steigende Arbeitslosigkeit in Deutschland oder die soziale Not von Millionen Menschen, die hierzulande und anderswo in Europa und der Welt schon seit Jahren keine Arbeit finden und weiter vergeblich danach suchen, oder der unerhörte Reichtum Weniger gegenüber der unerhörten Armut Vieler oder die vielen Kriege in der Welt, die häufig Ergebnis dieser sozialen Ungerechtigkeiten sind, die für viele immer auch materielle, aber auch politisch organisierte Unfreiheit bedeuten, der sah sich enttäuscht. Die Kanzlerin beschränkte die “großen Schlagzeilen” in Deutschland, Europa und der Welt auf ein Thema, die Flutkatastrophe, “die im Frühsommer in das Leben vieler Menschen an Donau, Elbe, Mulde und Saale brach”, und für die sie durchaus die passenden Worte fand: “Gerade erst waren die Folgen der gewaltigen Flut von 2002 beseitigt, da mussten viele erneut ohnmächtig zuschauen, wie ihr ganzes Hab und Gut weggeschwemmt wurde.”

Schnell wird deutlich, warum die Bundeskanzlerin sich auf diese “große Schlagzeile” beschränkte. Denn unmittelbar anknüpfend an ihre oben aufgegriffenen Worte zur Flut sagte Merkel: “Doch zugleich brach noch eine Welle ganz anderer Art los, eine überwältigende Welle der Hilfsbereitschaft. Sie zeigte besonders deutlich, was in unserem Land steckt. Eine Gruppe von Studenten in Passau mobilisierte über das Internet täglich ein paar Tausend freiwilliger Helfer und sorgte dafür, dass die Hilfe dorthin kam, wo sie gebraucht wurde. Das ist nur ein Beispiel von vielen.”

Es sind, wie in anderen Passagen Ihrer Rede noch deutlicher hervorsticht, die Einzelnen, denen die Kanzlerin die Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme zuweist. Die Bundeskanzlerin atomisiert die Gesellschaft. Klar, dass sie dieses für sie zentrale Anliegen kaum hätte vermitteln können, wenn sie von der Massenarbeitslosigkeit in Europa oder gar den Kriegen in der Welt gesprochen hätte. Arbeitslosigkeit und Krieg, soziale Gerechtigkeit und Frieden tauchen bei ihr gar nicht bzw. nur als historische Ereignisse auf:

“Im kommenden Mai können rund 375 Millionen Bürgerinnen und Bürger Europas ein neues Europäi-sches Parlament wählen – also genau 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges, 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges und 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, dem Anfang vom Ende der Teilung Deutschlands und Europas.

Europa wurde aus einem Traum weniger durch die Anstrengung vieler ein Ort des Friedens für Millionen.”

Und selbst da klingt es durch: Europa, ein “Traum weniger”, entstanden durch “die Anstrengung vieler”. Vieler Einzelner. Dass die Kriege, die sie anspricht, der Erste und der Zweite Weltkrieg, aber aus politischen und sozialen Ursachen heraus entstanden sind und aus der damit verbundenen Ohnmacht der vielen sich selbst überlassenen Einzelnen, das ist für die Bundeskanzlerin kein Thema, darf kein Thema sein, wenn man die Einzelne und den Einzelnen zum Protagonisten der Weltgeschichte und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Aufgaben auserkoren hat.

Und daran, dass die Kanzlerin dies den Menschen abverlangt, lässt sie keinen Zweifel:…Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin: Merkel atomisiert die Gesellschaft (vollständiger Beitrag nur im Abonnement)


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