Der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen fällt, neben der Bundestagsfraktion der Linken, angesichts einer übergroßen Koalition besondere Verantwortung in der politischen Diskussion und parlamentarischen Kontrolle zu. Der überwältigenden quantitativen Überlegenheit der Regierung kann man, neben der Einforderung stärkerer parlamentarischer Rechte für die Opposition, wohl am ehesten versuchen, durch qualitative Überlegenheit zu begegnen. Der Kompetenz in der Wirtschaftspolitik fällt dabei eine besondere Rolle zu: Nicht nur, dass in wirtschaftspolitischen Fragen in allen Parteien viele Leerstellen zu beobachten sind; auch ist die Lösung ökonomischer, sozialer und ökologischer Probleme ohne wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Kompetenz nicht ernsthaft vorstellbar, noch weniger überzeugend zu vermitteln. Am Wochenende haben die Grünen nach drei Tagen Klausur eine “Weimarer Erklärung” verabschiedet. Sie ist mit “KRITISCH, MUTIG, GRÜN – KONSEQUENT FÜR DIE ZUKUNFT” überschrieben. In dieser Erklärung werden viele wichtige Punkte angesprochen. Sie enthält jedoch gleich im ersten Absatz eine ebenso gravierende wie weitverbreitete Fehleinschätzung (kursive Hervorhebung, T.H.):
“Es droht sich mal wieder zu bewahrheiten, dass die schwersten politischen Fehler in den Zeiten guter Konjunktur gemacht werden – in Zeiten, in denen es besonders wichtig wäre über den Tag hinaus zu denken, statt tagespolitisch auf Sicht zu fahren.”
Dass die Grünen mit dieser Fehleinschätzung nicht allein sind, ist für diejenigen, die unsere Medienbeobachtung regelmäßig begleiten, kein Geheimnis. Gerade am Wochenende war in der Welt wieder von einem “insgesamt boomenden Arbeitsmarkt” zu lesen.
Eine Wirtschaft aber, die schon 2012 real nur um 0,7 Prozent gewachsen ist, und deren Zuwachsraten seit 2011 so deutlich gesunken sind, wie es die Graphik oben veranschaulicht, kann niemals Grundlage dafür sein, zu schreiben: “…in den Zeiten guter Konjunktur…”
Ein Arbeitsmarkt, in dem die Zahl der Arbeitslosen (Arbeitsangebot) höher ausfällt, als ein Jahr zuvor, und in dem gleichzeitig die Zahl der offenen Stellen (Arbeitsnachfrage) niedriger ausfällt, als ein Jahr zuvor, kann niemals ein “insgesamt boomender Arbeitsmarkt” sein. Das hohe negative Ergebnis aus der Differenz zwischen Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot spricht darüber hinaus Bände über die Chancen und das Kräfteverhältnis auf dem Arbeitsmarkt.
Eine solche Fehleinschätzung hat weitreichende Folgen: Sie könnte zur Schlussfolgerung verleiten, dass der Staat sich wirtschaftspolitisch getrost zurücklehnen und zurücknehmen kann. Würde die Politik dagegen erkennen, dass das Wirtschaftswachstum bereits seit einigen Quartalen nicht angemessen ist, um die Arbeitslosigkeit zu senken, sondern dass die Arbeitslosigkeit sogar steigt, müsste sie ganz andere Schlussfolgerungen ziehen. Sie könnte dann beispielsweise schlussfolgern, dass gerade jetzt auch konjunkturell ein guter Zeitpunkt ist, um die Energiewende mit zusätzlichen Ausgaben zu beschleunigen oder sozial verträglicher zu gestalten, weil sich dies positiv auf Wachstum und Beschäftigung auswirken würde. Die Opposition könnte gerade auch vor dem Hintergrund einer schwachen Konjunktur für das Vorziehen der von der Regierung erst 2017 vorgesehenen Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns plädieren, weil dieser die Lohnentwicklung befördern und damit wiederum Wachstum und Beschäftigung dienen würde. Vor dem Hintergrund der riesigen Kluft zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage könnten Grüne und Linke auch dafür plädieren, die Sanktionspraxis von Hartz IV zumindest auszusetzen, wie es die Grünen auch in ihrem Wahlprogramm gefordert haben. Auch das würde die Arbeitnehmerseite stärken und eine verteilungsneutrale Lohnentwicklung befördern.
Auch, wenn die Opposition diese Vorschläge angesichts der Kräfteverhältnisse im Parlament kaum umsetzen könnte, so würden die Menschen doch erkennen, dass es zwei Einschätzungen zur Konjunktur gibt, und dass aus diesen zwei unterschiedlichen Einschätzungen unterschiedliche, ja entgegengesetzte, alternative politische Entscheidungen resultieren können.
So kann eine so grundlegende Fehleinschätzung, wie die zur Konjunktur, tatsächlich darüber entscheiden, in welche Richtung Politik zielt – in die richtige oder in die falsche. Das gilt sowohl für die Politik der Regierung, als auch für die der Opposition.
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Ihr Florian Mahler
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