Endlich wagen Wissenschaftler die Entzauberung des Hartz-Mythos für das so genannte Zweite Deutsche Beschäftigungswunder.* Nach den pompösen “Feiern” zum Zehnjahres-Jubiläum der Hartz-Kommission mit den damaligen Akteuren – Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und Superminister Wolfgang Clement – ist dies wie ein Befreiungsschlag von dem Alptraum “Am deutschen Hartz-(Un)wesen soll Europa genesen.”
Dabei bedarf es keiner großen intellektuellen Anstrengungen oder aufwendiger empirischer Untersuchungen, um – wie die Studie feststellt- die entscheidende Rolle der Tarifparteien in der Bundesrepublik bei der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung “auszumachen”. Dadurch konnten die gravierenden Strukturumbrüche in der Wirtschaft seit Mitte der 1960er Jahre bewältigt werden. Auch die Deutsche Einheit mit der anschließenden Massenarbeitslosigkeit wäre ohne ihre Verantwortung in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nicht so “friedlich” verlaufen. Dabei mussten die gravierenden Fehlschläge in der Wirtschaftspolitik mit der massenhaften Vernichtung von Arbeitsplätzen ausgeglichen werden.
Allerdings war die damalige lohnpolitische Zurückhaltung der Gewerkschaften in den “Bündnissen für Arbeit” auf Betriebs-, Branchen- und Bundesebene ein viel zu hoher Preis für die tatsächliche und vermeintliche Beschäftigungssicherung. Die bitteren Folgen waren weitere Einbrüche bei Konjunktur und Beschäftigung mit einem Rekordanstieg der Arbeitslosigkeit. Dies wurde seit Anfang der 2000er Jahre durch die Riesterreformen, Agenda 2010 sowie die Hartzgesetze erheblich verschärft. Die Zahl der amtlich registrierten Arbeitslosen erreichte die 5 Millionen Grenze.
Ein “Stück tarifpolitischen Bodens” konnten die Gewerkschaften nach der Lehmann Pleite gut machen: Der Einsatz der Umverteilung von Arbeitszeit und Kurzarbeit hat dazu beigetragen, daß der gravierende Wirtschaftsrückgang ohne größere Beschäftigungseinbrüche überwunden wurde. Ebenfalls eine bedeutende Rolle haben die Sozialen Sicherungssysteme und ihre Selbstverwaltungen aus Vertretern der drei maßgeblichen Akteure – Regierung auf allen Ebenen und Tarifparteien – übernommen. Hierbei ist besonders die umlagefinanzierte antizyklische gesetzliche Sozialversicherung bei Arbeitslosigkeit, Erwerbsminderung und im Alter zu nennen. Sie haben mit der Verantwortung der Tarifparteien dazu beigetragen, dass Einkommen und Nachfrage aufrechterhalten sowie durch die Arbeitsmarktpolitik Arbeitslosigkeit verringert werden konnten. Dies kann nicht stark genug hervorgehoben werden, wenn die gesetzliche Sozialversicherung gegeißelt und der Generationenkonflikt geschürt wird.
Schließlich muss berücksichtigt werden, dass trotz aller Unterschiede in der Bundesrepublik eine differenzierte Struktur der regionalen Wirtschaft sowie von Groß-, Mittel- und Kleinbetrieben besteht. Außerdem ist es vor allem der grundsätzlichen Verantwortung der Tarifparteien zu verdanken, dass die betriebliche Berufsbildung jungen Menschen den Einstieg in Ausbildung und Beruf erleichtert – auch wenn es zu viele Unternehmen gibt, die sich verweigern und die Bundesagentur mit kostspieligen und weniger effizienten Arbeitsmarktprogrammen als “Ausfallbürge” eintreten muss. Der Bundesrepublik konnte somit überdurchschnittlich hohe Jugendarbeitslosigkeit erspart bleiben – wie sie in vielen anderen EU Ländern besteht – ganz abgesehen von der dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit in den südeuropäischen Krisenländern.
Es wäre hilfreich, wenn sich diese in der Studie dargestellten Zusammenhänge in der Politik sowohl der Bundesrepublik als auch der Europäischen Gemeinschaft durchsetzen und an die Stelle der einseitigen Mystifizierung der Hartz-Ideologie treten könnten. Dem tut auch keinen Abbruch, dass die Wissenschaftler in ihrer Studie folgern, wegen der bedeutenden Rolle der Tarifparteien bedürfe es keiner gesetzlichen Mindestlöhne. Dies wäre folgerichtig, wenn es überall in Wirtschaft- und Gesellschaft starke Tarif- und Betriebsparteien geben würde. Dies – so auch die Erkenntnis der Tarifparteien selbst und der Bundesregierung – ist jedoch zumindest seit der Deutschen Einheit nicht mehr der Fall. Deshalb sind auch für die Arbeitnehmer/innen in der Bundesrepublik gesetzliche Mindestlöhne unerlässlich.
Die GroKo hat hier mit ihrer Vereinbarung zur Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro eine richtige Weichenstellung vorgenommen. Jetzt kommt es allerdings darauf an, dass dies nicht durchlöchert und zeitlich verschoben wird, sondern möglichst umfassend und bald umgesetzt und vor allem erhöht wird, damit auch ein wirksamer Schutz gegen Armut bei Arbeit und im Alter möglich ist. Allerdings ergeben sich weitere Handlungsnotwendigkeiten aus den Erkenntnissen dieser Studie. Vor allem muss durch arbeits- und sozialrechtliche „Reregulierung“ Ausdehnung und Missbrauch prekärer Beschäftigung mit Niedrig- und Armutslöhnen und in der Folge Armutsrenten verhindert werden. Dies bleibt eine gemeinsame Aufgabe von Tarifparteien und Bundesregierung.
Siehe hierzu auch den Beitrag von Ursula Engelen-Kefer in “The International Economy“)
Prof. Dr. Ursula Engelen-Kefer ist Mit-Herausgeberin von Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung. Sie war von 1990 bis 2006 stellvertretende DGB-Vorsitzende und von 1984 bis 1990 Vizepräsidentin der damaligen Bundesanstalt für Arbeit. Von 1980 bis 1984 leitete sie die Abteilung Arbeitsmarktpolitik einschließlich der Internationalen Sozialpolitik beim DGB. Heute arbeitet sie als Publizistin in Berlin (www.engelen-kefer.de), lehrt an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit in Schwerin und leitet den Arbeitskreis Sozialversicherung im Sozialverband Deutschland. Im Vorwärts-Verlag ist Ende vergangenen Jahres ihr Buch Eine verlorene Generation? – Jugendarbeitslosigkeit in Europa erschienen.
*Siehe hierzu auch:
Zum Nachdenken: Zahlen, Graphiken und Zusammenhänge zur Agenda 2010 (im Abonnement)
Arbeitsmarkt: “Rekordhoch”? (im Abonnement)
Konjunktur/Deutschland: Was bestimmt die Erwerbstätigkeit? (im Abonnement)
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