Jahreswirtschaftsbericht/Bundestagsdebatte: Gabriels neue Bestimmung der Lohnentwicklung ist ein Fortschritt – reicht aber nicht aus

Der neue Wirtschaftsminister hat gestern im Deutschen Bundestag die Debatte um “Soziale Marktwirtschaft heute – Impulse für Wachstum und Zusammenhalt” mit einer Regierungserklärung eröffnet. Gegenstand der Debatte war der am Tag zuvor von Gabriel vorgestellte Jahreswirtschaftsbericht. Während Gabriels Ministerium sich im Jahreswirtschaftsbericht verbal nur für eine produktivitätsorientierte, also kostenneutrale Lohnentwicklung ausspricht (siehe dazu ausführlich hier), war Gabriel in seiner Regierungserklärung klarer.

Zwar erschloss sich bei genauerem Hinsehen – etwas, was dem Handelsblatt völlig abzugehen scheint, solange es nur irgendwie, irgendwo, irgendwann Signale für “Lohnzurückhaltung” herbeischreiben kann -, dass Gabriel neuerdings nicht nur die Produktivitätsentwicklung, sondern auch die Preissteigerung bei der Lohnentwicklung berücksichtigt wissen möchte. So ergibt ein Blick in die Tabelle der Jahresprojektion, dass die Lohnentwicklung exakt die Summe aus Produktivitätsentwicklung je Erwerbstätigen (BIP je Erwerbstätigen) und Verbraucherpreisindexentwicklung darstellt. In seiner Regierungserklärung aber sprach Gabriel diese Bestimmung der Lohnentwicklung auch explizit an. Er sprach von guten Löhnen, “die der Inflation und der Produktivität Rechnung tragen und den Spielraum für den Wohlstandszuwachs der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausschöpfen.”

Das ist gegenüber der bekannten Agenda-2010-Rethorik, die auch Gabriel bis gestern pflegte und die – wie man leider gleichzeitig feststellen muss – auch im Jahreswirtschaftsbericht erneut unmissverständlich mitschwingt, eine Zäsur. Sah sie doch immer vor, dass Produktivitätsfortschritte für Beschäftigung zu reservieren seien, die Löhne also nicht einmal den kostenneutralen Verteilungsspielraum ausschöpfen sollten. Der Unterschied ist derart wesentlich nicht nur für die deutsche Wirtschaftsentwicklung, sondern auch für die der Europäischen Währungsunion und die der Weltwirtschaft, dass es verwundert, dass die Gabriel im Bundestag direkt antwortende Sahra Wagenknecht, dies nicht aufgriff und begrüßte – um dann auf ein verbleibendes, wesentliches Manko aufmerksam zu machen: Die Orientierung an der erwarteten Inflation reicht nämlich im Rahmen einer Währungsunion nicht aus, bzw. ist sie immer noch der verkehrte, wenn auch gegenüber dem Zustand zuvor verbesserte Maßstab. Das zeigt allein schon die im Rahmen der Projektion der Bundesregierung erwartete Inflation von 1,5 Prozent. Das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank nämlich ist auf “unter, aber nahe zwei Prozent” festgelegt. Das mögen 1,9 Prozent sein, vielleicht auch noch 1,8 Prozent. Ganz gewiss aber nicht 1,5 Prozent. Deutschland ist seit Beginn der Währungsunion so geübt darin, das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank zu unterlaufen, und so stolz auf seinen Exportüberschuss, dass es dieses Inflationsziel völlig aus den Augen verloren hat, wenn es denn überhaupt jemals Gegenstand wirtschaftspolitischer Überlegungen war.

Die Einhaltung dieses Inflationsziels definiert aber nicht nur die vereinbarte Preis- und Geldwertstabilität in der Europäischen Währungsunion, sie ist auch Voraussetzung dafür, dass ein fairer Wettbewerb stattfindet und die Länder nicht über sinkende Lohnstückkosten, die die Preisentwicklung wesentlich bestimmen, in einen realen Abwertungswettlauf eintreten. Deutschland muss sich dies vorwerfen lassen. Das hat selbst das Bundesfinanzministerium in seinem Monatsbericht Dezember in einer Graphik ausgewiesen, freilich ohne entsprechende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Auch Gabriel scheint sich dieses Problems nicht bewusst zu sein, bzw. erkennt er es nicht an. Das zeigen die Ausführungen im Jahreswirtschaftsbericht zur Eurokrise. An ihnen bemerkt man, dass Gabriels begrüßenswerte Neuausrichtung auf eine verteilungsneutrale Lohnpolitik nicht konsistent ist. Damit wird die Bundesregierung aber dem zentralen wirtschaftspolitischen Problem, der Bewältigung der Eurokrise und ihrer sozialen Folgen, immer noch nicht gerecht.

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