Gestern habe ich eine “Süddeutsche Zeitung” geschenkt bekommen. Am Bahnhof Friedrichstraße, Berlin-Mitte. Erst wenige Tage zuvor bekam ich an exakt derselben Stelle einen “Tagesspiegel” in die Hand gedrückt. Ein neuer Ausdruck der Zeitungskrise? Wie dem auch sei: Ich schau auch einem geschenkten Gaul ins Maul! Und schon der Blick aufs Maul, die Titelseite, ließ mich Schlimmes befürchten: “Wir Scheinheiligen”, hieß es da in fett gedruckten Lettern. Und: “Die Empörung über Alice Schwarzer, Klaus Zumwinkel und all die anderen ist immer wieder groß. Zu Recht. Doch wer fährt eigentlich schwarz? Meldet die Putzfrau nicht an? Schummelt bei der Größe des Arbeitszimmers? Ein Report über ganz alltägliche Fehltritte”. Und, wie kommt das bei Ihnen an?
Bei mir läuteten jedenfalls sogleich die Warnglocken: Ah, hier fängt der Journalismus der Süddeutschen plötzlich an mit Gleichmacherei, wo sonst in der Süddeutschen doch unter der wirtschaftsredaktionellen Ägide von Marc Beise der Markt alles regelt. Und mit Spannung machte ich mich an die Lektüre, um eines, nur eines herauszufinden: Werden die Autoren, Jan Heidtmann und Joachim Käppner, auch nur mit einem Wort erwähnen, dass eine Alice Schwarzer bei Selbstanzeige straffrei ausgeht, ein gemeiner Ladendieb, Versicherungsbetrüger, Schwarzfahrer und Schwarzarbeiter oder Schwarzarbeit Beschäftigender aber wohl kaum?
Und, wie nicht anders zu erwarten – Schande über mich, sollte ich tatsächlich etwas überlesen haben! -, die Antwort auf jene Frage lautet: Nein.
Um Missverständnissen vorzubeugen. Ich bin der letzte, der irgendwelche Versicherungsbetrüger oder Schwarzfahrer “frei sprechen” möchte. Aber formulieren wir hierzu eine kleine Schwarzfahrer-Szene in Form eines Dialogs zweier Schwarzfahrer: “Bist auch schon mal schwarz gefahren?” “Klar, letzten Monat war das Geld besonders knapp, hat grad mal für Miete und Nahrungsmittel gereicht.” “Und hat´s bei Dir geklappt?” “Nö, bin erwischt worden. Und obwohl ich mich vorher noch selbst anzeigte, musste ich 60 Euro zahlen! Jetzt muss ich wohl ein paar Tage hungern.” “Aber: Das ist ja viel mehr als wir durch Unterlassung des Kaufes eines Tickets ´hinterzogen´ haben!” Und schon sind die beiden mitten in der Diskussion über, na Sie wissen schon: “Das ist ja wohl ein nicht zu vernachlässigender Unterschied zu Steuerbetrügern, die bei Selbstanzeige nicht nur straffrei ausgehen, sondern meines bescheidenen Wissens nach noch nicht einmal die gesamte hinterzogene Summe nachzahlen müssen!…”
Aber, aber, welcher gut bestallte Journalist der Süddeutschen wird denn so alltäglich denken! Tse, tse, tse. Das Gute daran, denke ich, selbst noch im Schlechtesten immer das Positive suchend: Ich habe die “Süddeutsche Zeitung” geschenkt bekommen!
Und darin wird lieber über einen Kamm geschoren: “So bilden Millionen Kleine das Herz einer Schummelgesellschaft, die Gemeinschaft der Scheinheiligen.”
“In Berlin”, so die Autoren, “befasst sich jedes dritte Gerichtsverfahren mit “Beförderungserschleichung”. Tja, liebe Autoren, das ist doch kein Wunder, wenn die Finanzbehörde nicht genügend Mitarbeiter hat, um die zahllosen Steuergroßbetrüger zu stellen und sich tausende rechtzeitig selbst anzeigen und damit einem Strafverfahren entgehen. Mitdenken, Sinn schenken!
Und diese Frage der Autoren hat hoffentlich auch Marc Beise gelesen: “Nur”, fragen Heidtmann und Käppner ja völlig zurecht, “wo ist die Grenze zwischen dem, was ein Staat noch aushält, und dem, was ihn kaputt macht?” In dem von Heidtmann und Käppner herbeigeschriebenen Kontext aber ist es der kleine Betrüger, der den Staat finanziell kaputt macht und nicht etwa der Millionenbetrüger und der Steuersenker (im Deutschen Bundestag) für Unternehmen und Reiche. Lieber alles auf die millionen Betrüger abwälzen und nicht auf die Millionenbetrüger. Wer so scheinheilig fragt, wie es Heidtmann und Käppner tun, bekommt natürlich auch noch bei den Steuergroßbetrügern die Kurve, dass diese am Ende doch wieder als Vobilder (!) dastehen:
“In diesem diffizilen Spiel zwischen Freiheit und Kontrolle kommt Uli Hoeneß, Alice Schwarzer und anderen wieder die Rolle zu, die sie schätzen: als Vorbilder. Nur nicht im Sinne des bodenständigen, tugendhaften Fußballmanagers und Wurstfabrikanten oder der ehr- und streitbaren Feministin. Sondern als Gefallene.”
Also wirklich, liebe Kollegen, meine Hochachtung. Damit haben Sie sich nun wirklich einen Platz in den heiligen Hallen der Heiligen verdient. Der Scheinheiligen.
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