“Ist Sigmar Gabriel ein Lohndrücker?“, fragt Mark Schieritz und greift damit eine journalistische Kapriole des “Handelsblatts” auf. Zunächst ist Schieritz zuzustimmen: Das “Handelsblatt” konstruierte – vorgestern als Vorabbericht zum gestern veröffentlichten Jahreswirtschaftsbericht – Sigmar Gabriel als Lohndrücker. Die Ironie dabei: Gabriels eigenes Ministerium muss der Handelsblatt-Redaktion den Jahreswirtschaftsbericht vorab zugespielt haben – wohl in der Erwartung positiver Presse. Endlich wurde dieses undemokratische Verhalten einmal ordentlich abgestraft: Wir haben bereits öfter das zur Gewohnheit gewordene Verfahren kritisiert, dass steuerfinanzierte, also von der Allgemeinheit finanzierte Ministerien und Forschungsinstitute ihre Ergebnisse vorab exklusiv an einzelne so genannte Leitmedien spielen. Das “Handelsblatt” hat dies wohl dazu genutzt, aus dem Jahreswirtschaftsbericht einen Bericht für seine Leser- und Anzeigenklientel zu machen: Der neue Wirtschaftsminister plädiert für Lohnzurückhaltung! Wenn das keine positive Nachricht ist. Das Dumme für Gabriel: Man hätte es ihm durchaus zugetraut. Sieht er doch bis heute die Agenda 2010 als Erfolg an, auch im gestern offiziell präsentierten Jahreswirtschaftsbericht. Was aber ist die Agenda 2010 anderes als ein Rezept für Lohndrückerei? Jetzt, wo der Jahreswirtschaftsbericht vorliegt, ist allerdings klar, das “Handelsblatt” hat sich einmal mehr als Zentralorgan der Arbeitgeberverbände und Vermögenden geoutet; es ist als Wirtschaftszeitung nicht ernst zu nehmen, sondern macht im Gegenteil eine höchst lächerliche Figur. Denn, wie Schieritz korrekt aus dem Jahreswirtschaftsbericht zitiert, heißt es dort:
Gute Arbeit muss sich einerseits lohnen und existenzsichernd sein. Andererseits müssen Produktivität und Lohnhöhe korrespondieren, damit sozial versicherungspflichtige Beschäftigung erhalten bleibt.
Dazu Schieritz:
Die Lohnentwicklung soll sich also an der Produktivität orientieren – ja woran denn sonst? Das Problem in Deutschland war ja, dass in den vergangenen Jahren die Zunahme der Löhne hinter der Zunahme der Produktivität (plus Zielinflation) zurückblieb.
Was Gabriel da fordert, ist nicht nur common sense, sondern eine ursozialdemokratische Position, die auch von den meisten aufgeklärten Gewerkschaftern geteilt wird.
Schon an dieser Stelle muss sich Schieritz jedoch vorwerfen lassen, seinerseits die zitierte Passage falsch zu interpretieren, nur unter umgekehrten Vorzeichen, mit denen es das Handelsblatt getan hat.
Denn Gabriel fordert ja eben nicht eine Zunahme der Löhne entsprechend der “Produktivität (plus Zielinflation)”, wie Schieritz schreibt, sondern eine gemäß der Produktivität. Das ist ein wesentlicher, ja, ein entscheidender Unterschied: Steigen oder fallen die Löhne mit der Produktivität, entwickeln sie sich für die Unternehmen kostenneutral. Das heißt für die Unternehmen ändert sich die Bedeutung des Lohns als Kostenfaktor nicht. Steigen oder fallen die Löhne mit der Produktivität plus der Zielinflation entwickeln sich die Löhne verteilungsneutral. Das heißt, dass sich der Lohn nicht nur neutral als Kostenfaktor für die Unternehmen entwickelt, sondern auch für die Arbeitnehmer, indem die (von der Europäischen Zentralbank mit dem Ziel der Preisstabilität) angestrebte Preisentwicklung berücksichtigt wird, und der Lohn so in keinem Fall real gedrückt wird. Das ist nicht nur im Sinne einer ökonomisch fundierten und sozial erwünschten “gerechten” Einkommensverteilung entscheidend; es ist auch entscheidend für die Beschäftigungsentwicklung: Fällt die Lohnentwicklung hinter die Produktivitätsentwicklung und das Inflationsziel zurück, entsteht Arbeitslosigkeit, wie wir an anderer Stelle ausführlich herausgearbeitet haben (siehe dazu zuletzt hier [im Abonnement]). Eine Erkenntnis, die sich bis zum klassischen Ökonomen David Ricardo zurückverfolgen lässt. Arbeitslos, werden nun einige Leser fragen, die nicht Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung abonniert haben, wir haben doch eine “Rekordbeschäftigung” gerade wegen der “Lohnzurückhaltung”? Das ist jedoch nur auf den ersten Blick richtig. Es ist nämlich eine steigende Beschäftigung, bei der sich immer mehr Beschäftigte ein gleich bleibendes Arbeitsvolumen (Arbeitsstunden) bzw. sogar sinkendes Arbeitsvolumen teilen müssen. Das wiederum ist mit einer deutlichen Verschlechterung und Zersplitterung der Beschäftigungsverhältnisse einhergegangen, wie wir an anderer Stelle ausführlich diskutiert haben.
Ausdruck dieser prekären Entwicklung ist auch das äußerst schwache Wirtschaftswachstum, das zuletzt nicht länger angemessen war, um die Arbeitslosigkeit zu senken.
Viel zu groß ist die Bedeutung des Lohns als mit Abstand größtes volkswirtschaftliches Aggregat für das Wirtschaftswachstum, als dass jene gesetzlich verursachte “Lohnzurückhaltung” (Agenda 2010) hätte an anderer Stelle kompensiert werden können. Nichts unterstreicht dies mehr als die Wachstumsschwäche Deutschlands trotz all der gleichzeitig erzielten Rekordexportüberschüsse. Darüber hinaus hat die mit der “Lohnzurückhaltung” verbundene Binnenmarktschwäche genau die Investitionsschwäche der deutschen Wirtschaft nach sich gezogen, die Gabriel zurecht in seinem gestern vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht problematisiert. Wenn er diesen Zusammenhang auch nicht erkennt oder nicht erkennen will. Immerhin aber will er die Gründe für die Investitionsschwäche laut Jahreswirtschaftsbericht untersuchen. Das kann man gegenüber den vorangegangenen Jahren seit der Agenda 2010 – wie das Abzielen auf eine wenigstens produktivitätsorientierte Lohnpolitik – als Fortschritt ansehen.
Eine verteilungsneutrale Lohnentwicklung aber ist im Rahmen einer Währungsunion noch aus einem anderen Grund relevant: Sie entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Währungsunion, die Einhaltung des Inflationsziels der Europäischen Zentralbank und damit darüber, ob die Europäische Währungsunion funktioniert oder nicht. Denn die Erfahrung zeigt, dass vor allem die so genannte nominale Lohnstückkostenentwicklung die Preisentwicklung bestimmt. Steigen die Löhne entsprechend der Produktivität plus dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank von “unter, aber nahe zwei Prozent”, ist dies der beste Garant dafür, dass sich auch die Preise entsprechend des Inflationsziels entwickeln. Ausgerechnet das von deutscher Seite aus so heftig gescholtene Frankreich hat dies seit Beginn der Währungsunion bis zum Ausbruch der Finanz- und Eurokrise bewiesen.
Schieritz aber schreibt weiter in seinem Text:
Niemand kann ernsthaft wollen, dass die Löhne dauerhaft schneller steigen sollen als die Produktivität, denn das wäre kein stabiler Zustand.
Damit schreibt er jedoch gerade einem instabilen Zustand das Wort, denn so muss aller Erfahrung nach die Lohnentwicklung dauerhaft hinter den Verteilungsspielraum zurückfallen und mit ihr die Preisentwicklung hinter das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank. Wer in diesem Punkt nicht klar ist, kann nicht für Klarheit sorgen.
Der Jahreswirtschaftsbericht weist übrigens für die Jahre 2012 und 2013 aus, dass die Produktivität gemessen am BIP je Erwerbstätigen gesunken ist. Nach der von Gabriel im Jahreswirtschaftsbericht getroffenen Lohnentwicklungsmaxime hätten die Löhne also entsprechend sinken müssen bzw., wählt man das BIP je Erwerbstätigenstunde als Berechnungsgrundlage, hätten die Löhne in 2012 nur um 0,5 und in 2013 nur um 0,2 Prozent steigen dürfen. Laut der Jahresprojektion des Jahreswirtschaftsberichts soll die Produktivität im laufenden Jahr um 1,2 bzw. 1,3 Prozent steigen. Die Inflation soll bei 1,5 Prozent liegen. Die Bruttolöhne- und Gehälter je Arbeitnehmer sollen in 2014 um 2,7 Prozent steigen. Daraus lässt sich schließen, dass die Bundesregierung von einer Lohnentwicklung entsprechend der Produktivität je Beschäftigten plus dem Anstieg der Verbraucherpreise ausgeht. Das spricht dafür, dass Gabriel sehr wohl nicht allein auf die Produktivitätsentwicklung abstellen möchte. Allerdings übersieht er dabei, dass die Lohnstückkosten die Preise bestimmen – bzw., wie im Jahreswirtschaftsbericht an anderer Stelle zu lesen ist, akzeptiert er eine geringere Preissteigerungsrate als sie das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank vorsieht, wenn er bzw. sein Ministerium schreibt:
Die Bundesregierung rechnet mit einem Anstieg der Verbraucherpreise von 1,5 Prozent im Jahr 2014…Da auch die Kapazitäten in Deutschland noch unterausgelastet sind und die Lohnstückkosten nur in geringem Maß zunehmen werden, ist gesamtwirtschaftlich keine nennenswerte Inflationsbeschleunigung zu erwarten.
Macht er also neben der Produktivitätsentwicklung die reale bzw. geschätze Inflation zum Maßstab, sorgt er dafür, dass die Preisentwicklung hinter das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank zurückfällt. Das ist weder ein Beitrag für eine stabile Preisentwicklung nach dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank noch ein Beitrag für die Überwindung der Eurokrise. Eine stabilitätsorientierte Lohnentwicklung würde stattdessen neben der Produktivitätsentwicklung ein Inflationsziel von “unter, aber nahe zwei Prozent” wählen. Ich halte hierfür 1,9 Prozent für angemessen. Die Jahresprojektion der Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht aber geht von einem Anstieg der Verbraucherpreise von 1,5 und von einem Anstieg der Lohnstückkosten von 1,7 Prozent aus.
Dabei ist, legt man 1,9 Prozent zugrunde, noch nicht berücksichtigt, dass sich Deutschland über einen langen Zeitraum seit Bestehen der Währungsunion aufgrund seiner Lohnentwicklung im Verhältnis zur Produktivität (Lohnstückkostenentwicklung) erhebliche Wettbewerbsvorteile verschafft hat, die – wie auch zuletzt das Bundesfinanzministerium in seinem Monatsbericht Dezember in einer korrekten Graphik ausgewiesen hat – auch durch die erheblichen Lohnstückkostensenkungen der von der Austeritätspolitik betroffenen Länder längst noch nicht ausgeglichen worden sind. Es wäre sicherlich spannend, vielleicht sogar nicht vergeblich, würden diese Zusammenhänge dem Wirtschaftsminister einmal näher gebracht. Sein Ministerium scheint sich dieser nicht bewusst zu sein oder aber zu meinen, sie ignorieren zu dürfen.
PS vom 16.02.2014: Mark Schieritz hat – wohl auf Reaktion auf diesen Beitrag und auf einen kurzen Austausch bei twitter (siehe dazu die ) einen “Update” unter seinen Artikel gesetzt:
“Update: Wenn ich von produktivitätsorientierter Lohnpolitik spreche, dann schließt das natürlich die Zielinflationsrate ein. Sonst wäre dieses Ziel auch nicht zu erreichen. Ich dachte eigentlich dass sei selbstverständlich.”
Damit aber wird Mark Schieritz weder seinen eigenen Ausführungen in seinem Artikel gerecht, noch meiner Kritik im obigen Beitrag, noch dem Jahreswirtschaftsbericht, in dem das Wort Zielinflation oder das Wort Inflationsziel nicht vorkommt (!) und in dem sich, wie oben in meinem Beitrag erläutert, die Lohnveränderung in der Jahresprojektion aus Produktivitätsentwicklung und Entwicklung des Verbraucherpreisindexes errechnet, nicht aus der Zielinflation der Europäischen Zentralbank; siehe dazu jetzt auch hier.
Siehe jetzt auch den Leserbrief vom 16.02.2014 von Prof. Dr. Claus Köhler, ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrats.
Florian Mahler
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