Gabriel schreibt über Grundwerte – und zeigt worunter ihre und seine Glaubwürdigkeit so sehr leiden
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Der Vorsitzende der SPD, Bundesminister für Wirtschaft und Energie und Vizekanzler, Sigmar Gabriel, hat einen Gastbeitrag für Die Welt geschrieben. Sein Thema: Grundwerte. Gabriel beschwört darin die vermeintlich gute alte westliche “Wertegemeinschaft”. Immerhin erwähnt Gabriel, dass diese Wertegemeinschaft nicht nur einmal gegen die hehren Grundwerte, “das universelle Versprechen der Freiheit und Gleichheit des Einzelnen, der Achtung der Menschenrechte und des Rechts auf demokratische Teilhabe” verstoßen hat. Merkwürdig allerdings, dass ihm dazu nur die Verfehlungen der USA – “ob in Vietnam oder in den 70er- und 80er-Jahren in Süd- und Lateinamerika” – einfallen, nicht aber die höchstrichterlich verurteilte, völkerrechtswidrige Beteiligung Deutschlands am Irak-Krieg oder Kunduz oder Kosovo. Warum ist der umtriebige Steinmeier nach seinem Amtsantritt eigentlich nicht zuerst nach Syrien geflogen und hat das Gespräch mit Assad gesucht, um diesen grässlichen Krieg möglichst schnell zu beenden und hierfür nichts unversucht zu lassen? Das chemiewaffenfähige Material kam immerhin, offensichtlich auch mit politischem Segen sozialdemokratischer Regierungsführung unter Steinmeier und Gabriel, aus Deutschland, ein Grund mehr also. Und wenn Gabriel darüber hinaus die “oftmals fehlende soziale Absicherung dieses individuellen Freiheitsanspruchs” schon nennt, warum sagt er nicht konkret: Hartz IV und die menschenverachtende, existenzgefährdende Sanktionspraxis. Weil er für all das mitverantwortlich zeichnet? Nichts kann wohl deutlicher machen, als das, was Gabriel schreibt, worunter die Verwirklichung jener berechtigten und wünschenswerten Grundwerte am meisten leidet: Unter der fehlenden Glaubwürdigkeit und der Überdosis Selbstgerechtigkeit – oder ist es etwa eine begrenzte Auffassungsgabe? – von Politikern wie Gabriel.

Besonders deutlich macht dies ein Absatz, der zugleich Gabriels derzeitiges Amt als Wirtschaftsminister berührt, wenn Gabriel schreibt:

“In den vergangenen Jahren hat uns eine beträchtliche Zahl internationaler Krisen heimgesucht, die – wie durch ein Wunder – der wirtschaftlichen Prosperität Deutschlands nichts anhaben konnten. Unsere Zahlen stimmen auch für dieses Jahr: 1,8 Prozent Wachstum und weiter zunehmende Beschäftigung, stabile Exportstärke und jetzt auch steigende Inlandsnachfrage porträtieren ein Land, dem es kaum je besser gegangen ist in seiner Geschichte. Die Deutschen sind denn auch gelassener geworden. Von der früher sprichwörtlichen ´German angst´ ist keine Rede mehr. Selbst die Dauerbeschallung mit dem Wort ´Krise´ in den Medien hat offenbar das Grundgefühl, dass es ganz gut läuft, nicht verändert.”

Das ist Wort für Wort ausgemachter Schwachsinn, was der dem Rang nach zweitwichtigste Politiker in Deutschland da von sich gibt.

Erstens, haben uns Krisen, allen voran die Eurokrise, nicht “heimgesucht”, sondern die deutsche Politik, vor allem die unter der SPD-Führung durchgesetzte Agenda 2010, hat sie maßgeblich mit herbeigeführt und vertieft sie mit der Austeritätspolitik bis heute.

Und was meint der Wirtschaftsminister, zweitens, mit “der wirtschaftlichen Prosperität Deutschlands”? Deutschland ist im vergangenen Jahr um real kaum messbare 0,4 Prozent gewachsen, das Jahr davor um ebenfalls kaum messbare 0,7 Prozent. Bei den 1,8 Prozent handelt es sich wiederum um eine Projektion für das laufende Jahr, die das Bundeswirtschaftsministerium herausgegeben hat. In der Tat ist die wirtschaftliche Aktivität seit Mai vergangenen Jahres wieder leicht aufwärts gerichtet. Das Wachstum ist aber nicht angemessen, um die Arbeitslosigkeit in Deutschland spürbar zu senken, geschweige denn Impulse für die Europäische Währungsunion zu setzen. Zur Arbeitslosigkeit in Deutschland schrieb die Bundesagentur für Arbeit in ihrem letzten Monatsbericht Februar: “Die Arbeitslosenquote auf Basis aller zivilen Erwerbspersonen belief sich im Februar auf 7,3 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahr hat sie um 0,1 Prozentpunkte abgenommen. Die saisonbereinigte Arbeitslosenquote blieb unverändert bei 6,8 Prozent. In Ostdeutschland war die nicht saisonbereinigte Quote mit 11,0 Prozent deutlich größer als im Westen mit 6,4 Prozent.” Glaubt Gabriel wirklich, dass die davon Betroffenen “denn auch gelassener geworden” sind? Worauf wiederum die zunehmende Beschäftigung basiert, nämlich auf wachsenden Teilzeitstellen und Nebenjobs, haben wir zuletzt aufgezeigt. Gabriel ist entweder ein Zyniker oder ein ausgemachter Dummkopf.

Gerade heute hat, drittens, das Statistische Bundesamt bekannt gegeben, dass im vergangenen Jahr die Reallöhne gesunken sind. Das ist zumindest keine gute Basis für eine “steigende Inlandsnachfrage”, berücksichtigt man, dass auch die Investitionen schließlich von einem steigenden Konsum, der sich aus steigenden Löhnen speist, abhängig sind (siehe dazu ausführlich hier). Vollständig durchgedreht erscheint vor diesem Hintergrund Gabriels Aussage, dass Deutschland ein Land sei, “dem es kaum je besser gegangen ist in seiner Geschichte”. Es gab Zeiten, da konnten sich die Menschen in Deutschland auf vernünftig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse verlassen, auf gute Renten, sie mussten sich nicht verschulden, um studieren zu können, sie mussten nicht über Obachlose stolpern und fassungslos in eine noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik dagewesene Kluft zwischen Arm und Reich sehen, sie mussten keine Angst haben, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in Hartz IV zu fallen, sie mussten keine Zusatzbeiträge für die Krankenversicherung bezahlen, bei freier und besserer und umfassenderer Grundversorgung, sie mussten keine Angst haben vor einer Außenpolitik, die sich massiv militarisiert hat und, wie die aktuellen Ereignisse zeigen, abgestumpft ist, und und und. All das haben die SPD und Sigmar Gabriel als Bundestagsabgeordneter und Minister maßgeblich zu verantworten.

Dass Gabriel es, viertens, als positiv begreift, dass “von der früher sprichwörtlichen ´German angst´ keine Rede mehr (ist)”, unterstreicht ja bloß, dass er nichts begriffen hat. Mit “German angst” ist “die typisch deutsche Zögerlichkeit” gemeint, sie steht für eine zurückhaltende Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands nach der Wiedervereinigung (siehe dazu auch hier). Sie steht in meinen Augen aber auch für eine mit Augenmaß für das Gemeinwohl ausgestattete Wirtschafts- und Sozialpolitik. Und da ist es, genau umgekehrt, ein extrem negativer Befund, dass in all diesen Politikbereichen die überlegte, vorausschauende German angst durch eine German assertiveness, eine “typisch deutsche Überheblichkeit” abgelöst worden ist. Man denke nur an das Verhalten deutscher Politiker, auch sozialdemokratischer Politiker, im Zuge der Eurokrise, den vorangegangen Sozialabbau und wirtschaftlichen Radikalismus, der mit der Agenda 2010 Einzug hielt, und schließlich an die einseitige, alte Feindbilder wieder aufleben lassende Politik gegenüber Russland. Es kann gar keinen Zweifel darüber geben: Dieser Minister, dieser Politiker hat selbst die Grundrechte immer wieder mit Füßen getreten, und mit seinem Gastbeitrag für Die Welt hat er es verbal erneut getan.

Wie kommt Gabriel schließlich darauf, dass “selbst die Dauerbeschallung mit dem Wort ´Krise´ in den Medien offenbar das Grundgefühl, dass es ganz gut läuft, nicht verändert (hat)”? Er kann nur sich selbst damit meinen, sein persönliches Grundgefühl. Man benötigt nicht einmal Umfragen, um zu wissen, dass er auch hier, was die Gesellschaft anbelangt, vollständig daneben liegt; man muss sich dafür nur in ein öffentliches Verkehrsmittel setzen, und den Menschen zuhören, oder sich im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis umhören. Man kann den von Gabriel zurecht eingeforderten Grundwerten wohl kaum einen schlechteren Dienst erweisen als Gabriel mit seinem Gastbeitrag für Die Welt und mit seiner Politik, die er jetzt schon so viele Jahre ausübt.

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