Gedanken zum 1. März

Diesen kleinen Blick in die Welt habe ich heute meinem Brief an die Abonnentinnen und Abonnenten von Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung, mit dem ich zum Anfang eines jeden Monats die PIN zum Öffnen und Lesen der im Abonnement erscheinenden Beiträge versende, vorangestellt.

Neuer Monat, neues Glück? Das entspricht durchaus meiner persönlichen Einstellung zum Leben. Die eigene Grundhaltung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass für viele Millionen Menschen in Deutschland und in Europa, um nur die nahegelegenste Geographie zu bemühen, auch der März, ja, selbst die nächsten Lebensjahre, kein Glück versprechen. Das gilt natürlich auch für Millionen Menschen in vielen anderen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern. Erst recht gilt es für die Menschen in den Ländern, in denen Krieg herrscht. Die Ursachen für diese schlimme Situation sind nicht etwa mangelnde Ressourcen. Gewiss, irgendwo in der Welt herrscht immer Ressourcenknappheit. Anders aber, als im vorindustriellen Zeitalter, muss Ressourcenknappheit nicht länger in den eigenen Landesgrenzen überwunden werden, erst Recht darf sie nicht zur Herrschaft und Ausbeutung anderer Länder dienen. Zentrales Merkmal der Industrialisierung war die Überwindung des stofflichen Kapitalmangels (keiner hat dies unter Rückgriff auf die Industrialisierungsgeschichte und Entwicklungs- und Wirtschaftstheorie klarer herausgearbeitet und analysiert als Wolfgang Schoeller, siehe u.a.: Modernisierung oder Marginalisierung, Investierbarer Überschuss und kulturelle Transformation als Grundlagen der Entwicklung), der Aufbau einer Industrie, aus der heraus sich über Prozess- und Produktinnovationen die riesigen Verteilungsspielräume und Entwicklungspotenziale entwickelt haben, die uns heute zur Verfügung stehen, die wir aber nicht zur angemessenen Fortentwicklung und Weiterverbreitung dieses Fortschritts nutzen. Stattdessen hat sich eine geistlose Klasse aus Politikern, Unternehmensführern, Wissenschaftlern und Journalisten an die Spitze unseres Landes und anderer Länder geschwungen und ein Eigenleben entfaltet, das kaum noch Raum und Zeit lässt, um über den Lauf der Welt und dessen Ursachen nachzudenken. Die “normalen” Menschen sind dabei längst aus dem Blickwinkel geraten und zur politischen und medialen Manövriermasse degradiert worden. Nicht erst nach dem gestern von der evangelischen und der katholischen Kirche vorgelegten “Sozialwort” muss man auch den Spitzen dieser Organisationen absprechen, ein Ohr für die Sorgen und Nöte der Menschen zu haben. Ein besonders schockierender Befund. Wir werden uns in einem eigenen Beitrag damit versuchen auseinanderzusetzen. Ein anderes Beispiel: Am 15. Februar habe ich eine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten angetreten. Ein altgedienter Gewerkschafter noch dazu. Da ich mir nicht einmal länger die Krankenkasse leisten kann, weil sich Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung leider immer noch nicht trägt und die Gesetzgebung zu den Sozialversicherungen für eine systematische Verarmung kleiner Selbstständiger sorgt, indem sie ihnen über eine völlig unrealistische Mindestbeitragsbemessungsgrenze unverhältnismäßig hohe Beiträge abverlangt und sie so in die Armut treibt, musste ich mir eine zusätzliche berufliche Tätigkeit suchen. Schon in mein Bewerbungsschreiben hatte ich dem SPD-Bundestagsabgeordneten geschrieben: “…Da ich Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung natürlich weiter betreiben und etablieren möchte, wäre ich auch an einer Teilzeitstelle interessiert. Ich wäre, da ich nur fünf Minuten vom Bundestag entfernt wohne, nicht einmal angewiesen auf einen festen Arbeitsplatz in einem Bundestags-Büro. Ich würde mich freuen, wenn ich Ihre Arbeit im Deutschen Bundestag unterstützen könnte…” Im Bewerbungsgespräch habe ich dies dann erneut offen angesprochen und wir waren uns einig über die Synergie-Effekte, die das für die Arbeit des Bundestagsabgeordneten für seine Arbeit im Ausschuss für Wirtschaft und Energie haben würde. Gab es also tatsächlich noch Selbstverständliches, das heute freilich als Wunder angesehen werden muss: Einen Politiker, der an Kontroversen und Sachverstand interessiert ist – auch, wenn es die eigene Partei, die SPD, betrifft, die ich ja schließlich nie geschont habe? Der Einstieg ging sich dann auch gut an. Dann aber, am dritten Tag, stellte mich eben dieser Abgeordnete aus heiterem Himmel, noch dazu am Fahrstuhl auf dem Weg zu einer Ausschusssitzung, in völlig irrwitzigem Ton vor die Wahl, nicht länger über Themen, die seine politische Arbeit betreffen, zu schreiben oder die Arbeit zu verlieren. Das hätte natürlich das Ende von Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet. Ich kann ja schließlich nicht plötzlich nur noch Theaterrezensionen schreiben – und selbst die haben ja häufig genug Bezugspunkte zur wirklichen Politik, Ökonomie und Lebenswelt. Ich habe dem Abgeordneten darauf hingewiesen, auch darauf, dass wir das ganz anders vereinbart hatten, und dass ich für seine Stelle eine andere unterschriftsreife Stelle abgesagt habe, worüber er vorher bereits informiert war; auch ein weiteres Bewerbungsgespräch bei einer Bundestagsabgeordneten der Grünen hatte ich nach seiner Zusage abgesagt, weil es mir nicht liegt, nach einer Zusage noch auf verschiedenen Hochzeiten zu tanzen, um noch eine etwaig bessere Stelle für mich herauszuschlagen. Und ich habe dem Abgeordneten hierzu noch einmal ein Gespräch angeboten, aber deutlich gemacht, dass ich ansonsten meine Arbeit sofort beenden müsste. Am Nachmittag desselben Tages, ich saß passenderweise gerade mit einem altgedienten Sozialdemokraten beim Kaffee, der es nicht fassen konnte, erhielt ich einen Anruf nicht von ihm, sondern von der Mitarbeiterin, Kollegin: wie wir das denn mit dem Schlüssel und dem Ausweis machen würden, fragte sie. Ich sagte, dass ich diese natürlich auf demselben Weg zurückgeben werde, wie ich sie bekommen hätte. Lange Rede, kurzer Sinn, dieser Abgeordnete steht mit seinem Verhalten sicher nicht allein, und er steht in meinen Augen für den intellektuellen und politischen Verfall, dem wir nicht zuletzt jenen politischen und gesellschaftlichen Konformismus verdanken, der unter anderem das Abstimmungsverhalten bei Hartz IV, der Teilprivatisierung der Rente, der Europa-Politik oder der zunehmenden Militarisierung der Außenpolitik, um nur vier zentrale Politikbereiche zu nennen, und die dahinter stehende Denkfaulheit und Unterordnung möglich gemacht hat (siehe dazu hier und hier). Das bereits erwähnte “Sozialwort” der Kirchen reiht sich in diesen Kanon nahtlos ein, was allein deswegen nicht Wunder nimmt, weil sich die Protagonisten hier teilweise die Klinke in die Hand geben und diese allesamt in Verhältnissen leben, die sich seit langem weit, allzu weit von den Lebensumständen vieler Menschen entfernt haben. Unter diesen Verhältnissen ist es schon fast überraschend, dass sich nicht noch mehr Menschen längst von der Politik abgewendet haben, als dies ohnehin schon seit langem der Fall ist. Und umso mehr fallen Persönlichkeiten auf, auch im Politik-, Wissenschafts- und Medienbetrieb, die sich diesem Konformismus noch nicht gebeugt haben und versuchen, den Themen selbständig auf den Grund zu gehen und ihre Stimme erheben. In den Parteien und im etablierten Wissenschafts- und Politikbetrieb scheint mir dafür kaum noch Platz zu sein. Ein Tatbestand, der, wenn er stimmt, längst an den Grundfesten unserer Demokratie rüttelt. Wenn sich die etablierte Politik jetzt über die erschreckende Zunahme radikaler Parteien und Bewegungen beklagt und darüber – wie zuletzt zum Beispiel Martin Schulz (SPD) – die Drei-Prozent-Klausel für die Europawahl meint verteidigen zu müssen, die das Bundesverfassungsgericht jetzt gekippt hat, hat sie mit ihren Warnungen zwar Recht; es spricht jedoch wiederum für ihren moralischen und intellektuellen Verfall, dass sie nicht erkennt, dass es ihre (Agenda- und Austeritäts-)Politik war und ist, deren Ergebnisse, vor allem die unerträgliche Massenarbeitslosigkeit und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit, jenen Parteien und Bewegungen überhaupt erst eine Basis gibt. Mit diesem Denkanstoß möchte ich meine kleine Momentaufnahme schließen.

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