Korruptionsskandale treiben Ministerpräsident Erdoğan zunehmend zu polizeistaatlichen Maßnahmen – Von Hakki Keskin

Der Tod des 15-Jährigen Berkin Elvan führte zu landesweiten Massenprotesten, an denen Hunderttausende teilnahmen. Berkin starb nach neun Monaten im Koma in Folge eines Tränengasgeschosses, mit dem ihm die Polizei am Kopf getroffen hatte.

Die Proteste zeigen aber auch die Wut gegen öffentliche gewordene Korruptionsskandale, an denen Erdoğan und vier seiner Minister und ihre Söhne beteiligt gewesen sein sollen.

Die Korruptionsskandale sind seit dem 17. Dezember 2013 in der Türkei das beherrschende Thema bei den Massenveranstaltungen im Rahmen der bevorstehenden Kommunalwahlen am 30. März. Hierbei geht es um insgesamt weit über 100 Milliarden Euro. Dies entspricht mehr als den gesamten türkischen Exporteinnahmen des vergangenen Jahres. Der Verdacht steht im Raum, dass Erdoğan und sein Sohn Bilal direkt in die Korruptionsskandale verwickelt sind.

Die Oppositionsparteien berufen sich auf Erkenntnisse und Beweise der ermittelnden Staatsanwälte und Polizeichefs sowie abgehörte Telefongespräche zwischen Erdoğan und seinem Sohn. Die Oppositionsparteien und der Großteil der Bevölkerung verlangen eine reibungslose Aufklärung durch die Gerichte. Als Reaktion wurden jedoch hunderte zuständige Staatsanwälte, Richter und mehr als 5500 Ermittlungsbeamte und Polizisten durch Amtsenthebungen und Versetzungen in weit entfernte Landesteile verlegt. Die neu eingesetzten Staatsanwälte ließen laut Presseberichten die seit 15. Dezember 2013 ermittelten Beweismaterialien vernichten.

Laut mehrerer Telefongespräche vom 18. Dezember zwischen Erdoğan und seinem Sohn Bilal sollen sich in dessen Haus mehr als eine Milliarde Dollar befunden haben und Erdoğan seinen Sohn auffordern, dieses Geld aus dem Hause zu schaffen. Während der Ministerpräsident von einer manipulierten Montage spricht, beharrt Oppositionsführer Kiliçdaroğlu auf Echtheit, die er von Fachleuten überprüfen ließ. Oppositionelle fordern Erdoğan seit langem vergeblich auf, die Telefonate bei den dafür spezialisierten Einrichtungen prüfen zu lassen.

Erdoğan befindet sich in der Tat in der bisher schwierigsten Lage seiner elfjährigen Amtszeit. Viele seiner Behauptungen auf seinen Massenkundgebungen und in Fernsehsendungen, mit denen er bei religiös orientierten Wählern auf Stimmenfang geht, erwiesen sich nachweislich als falsch. Seine Glaubwürdigkeit wurde darüber stark erschüttert.

In dieser Lage versucht Erdoğan sich dadurch zu retten, indem er die Justiz und die Geheimdienstorganisation mit neuen Gesetzen unter die absolute Kontrolle der Regierung bringt. Mit neuen Versetzungen und Stellenbesetzungen versucht die Regierung die Polizei regierungstreu zu gestalten. Ebenfalls mit neuen Gesetzen und Verordnungen versucht er die sozialen Medien im Internet – twitter, YouTube und Facebook – gegebenenfalls zu verbieten und so die Pressefreiheit weiter einzuschränken.

In einem abgehörten Telefonat verlangt er von seinem ehemaligen Justizminister Sadullah Ergin, dafür zu sorgen, dass Aydin Doğan, Inhaber eines regierungskritischen Medienunternehmens, bei dem laufenden Prozess nicht freikommt. Erdoğan hat erstaunlicherweise die Echtheit dieses Telefonats bestätigt und erwidert, was denn dabei sei, wenn er “seinen Justizminister auffordert, sich um diesen Prozess zu kümmern.” Allein dies zeigt, welches Verständnis Erdoğan von der Gewaltenteilung hat.

In einem Telefonat hat Erdoğan wegen eines kritischen Berichts den Inhaber der Zeitungen Milliyet und Vatan massiv beschimpft und verlangt, den bekannten Journalisten Derya Sazak zu kündigen, was auch unmittelbar geschah.

Auf diese Weise wurden hunderte namhafter Journalisten in den letzten Jahren entlassen. Manche von ihnen sind jedoch heute bei neugegründeten regierungskritischen Zeitungen und in Fernsehanstalten tätig, die zunehmende Beachtung erfahren.

Es war Ziel der Regierung Erdoğans, vor allem die Justiz und die Medien unter eigene Kontrolle zu bringen. Erst vor kurzem wurde bekannt, dass Ministerpräsident Erdoğan seinen Vertrauten, Verkehrsminister Binali Yıldırım, beauftragt hat, von vermögenden Geschäftsleuten je 100 Millionen Dollar zu besorgen, damit die Zeitung Sabah und der Fernsehkanal atv gekauft werden können. Tatsächlich wurden dafür 630 Millionen Dollar von Bauunternehmen bereitgestellt, und in Folge wurden beide Medien absolut regierungstreu. Den großzügigen “Spendern” sollen im Gegenzug bei staatlichen Ausschreibungen Aufträge im Werte von rund 44 Milliarden Dollar angeboten worden sein.

In einem anderen abgehörten Telefonat, dessen Echtheit ebenfalls durch Erdoğan bestätigt wurde, verlangt er von dem Unternehmensvorsitzenden Metin Kalkavan, den Auftrag für den Bau eines Kriegsschiffes nicht an den Industriekonzern Koç zu geben, obwohl die Ausschreibung bereits zu Gunsten von Koç entschieden war. Daraufhin wurde der Auftrag an Koç annulliert.

Heute ist ganz eindeutig, dass Erdoğan sich in allen Bereichen direkt einschaltet, um überall die Lage in seinem Sinne zu gestalten. Den Korruptionsvorwürfen gegen seine Regierung und ihn begegnet er mit der Behauptung, das Ganze sei “eine Verschwörung gegen seine Regierung, gegen das Land und gegen ihn selbst”, vor allem unter Beteiligung ausländischer Kräfte. Hierbei greift er mit allen Mitteln die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fetullah Gülen an. Gülen habe einen “Parallelstaat im Staat errichtet”, der Justiz und Polizei unterwandert, so Erdoğan. Und das, obwohl er und seine Regierung bis zum Korruptionsskandal Ende vergangenen Jahres mit der Bewegung Gülens Hand in Hand und sehr eng zusammengearbeitet hatte. In unzähligen Reden haben er und seine Minister die Bewegung Gülens stets gelobt.

Die sehr gut und sicherlich mit viel Geld organisierten und mit der Kunst der Demagogie Erdoğans beherrschten täglichen Massenveranstaltungen zu den Kommunalwahlen, die von zahlreichen Fernsehanstalten live und in vielen Wiederholungen übertragen werden, kommen offensichtlich bei einem Drittel der Bevölkerung weiterhin gut an. Dennoch, Erdoğan wird bei diesen Wahlen ganz erheblich an Stimmen verlieren. Laut neuer Umfragen glauben rund 70 Prozent der Befragten an Korruption durch die Regierung. Etwas weniger sind der Meinung, dass die Regierung Einfluss auf die Justiz ausübt.

Hakki Keskin

Prof. Dr. Hakki Keskin war von 2005 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und ist Ehrenvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

 

 

 

 

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