Da ist sie wieder, die “Chefkorrespondentin für Wirtschaftspolitik” der Welt, Dr. Dorothea Siems. Unter der Überschrift “Regulierungswut – Diesen Mindestlohn wird Deutschland teuer bezahlen” wütet sie gegen die sich abzeichnende Mindestlohnregelung der Großen Koalition. Freilich nicht, wie man es von einer ökonomisch alphabetisierten Person erwarten würde, gegen die anvisierten zahllosen Ausnahmeregelungen, die späte Einführung und die schon jetzt nicht existenzsichernde Höhe von 8,50 Euro, sondern gegen den Mindestlohn schlechthin. Warum muss ich bei Dorothea Siems bloß immer an Rosa Klebb denken, gespielt von der wunderbaren Lotte Lenya, jene Agentin in “Liebesgrüße aus Moskau”, die in einem letzten Versuch, Bond aus dem Weg zu räumen, als Zimmermädchen verkleidet und mit einer giftigen Schuhspitze ausgerüstet zur Tat schreitet? Zum Glück wird auch unsere Agentin gegen den Mindestlohn, Dorothea-Rosa-Klebb-Not-Everything-Is-As-It-Siems, am Ende scheitern. Dennoch sind ihre Absurditäten es uns wert, sie in Folge 2, 2014, unserer beliebten Reihe, Not everything is as it Siems, zu präsentieren (Folge 1, siehe hier).
Siems geht gleich im ersten Absatz aufs Ganze, wenn sie schreibt (kursive Hervorhebung, T.H.):
“Der Mindestlohn wird nicht durchlöchert. Selbst den schärfsten Gegnern innerhalb der Union ist inzwischen klar, dass es nur noch darum geht, an der einen oder anderen Stelle minimale Ausnahmen etwa für Praktikanten ohne Berufsabschluss, Erntehelfer, Minderjährige oder ehrenamtlich Beschäftigte durchzusetzen.”
Allein die von ihr aufgezählten Ausnahmen – im Gespräch sind weitere, gravierende Ausnahmeregelungen – als minimal zu bezeichnen und daraus zu schließen, der Mindestlohn werde nicht durchlöchert, zeigt, für was sie den durchschnittlichen “Welt”-Leser am liebsten verkauft: für dumm.
Diese Wertschätzung lässt sie gleich im nächsten Absatz noch einmal aufflammen. Denn das, was Siems als “kurze Gnadenfrist” für Branchen begreift, die Lohnuntergrenze weiterhin zu unterschreiten, erstreckt sich immerhin noch über zwei Jahre, bis zum 1. Januar 2017. Erst dann soll der Mindestlohn laut Koalitionsvertrag “uneingeschränkt” gelten (siehe hierzu hier).
Nach dieser, unsere Erwartungen an Siems mehr als erfüllenden Ouvertüre, konzentriert sie sich in ihrem verbleibenden Requiem auf den Mindestlohn darauf, gegen staatliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt zu schmettern. Freilich nur, wenn diese Eingriffe die Arbeitnehmer vor Lohnwillkür der Unternehmen schützen, und nicht, wie im Fall von Hartz IV, wenn sie die Arbeitnehmer zum Abschuss freigeben. Letzteres geht für Siems schon in Ordnung. Schließlich habe Hartz IV ja einen “Jobboom” ausgelöst, so Siems, mit dem Mindestlohn aber drohe “eine neue Frostperiode”. Siems meint ihren Unsinn dabei mit Hilfe der so genannten Wirtschaftsweisen stützen zu können:
“Die Wirtschaftsweisen sehen rund fünf Millionen Beschäftigte vom Mindestlohn betroffen.”
Was deren Prognosen wert sind, hat jedoch gerade gestern das Handelsblatt veröffentlicht: Nichts. Die einseitig angebotsorientierte Ideologie der so genannten Wirtschaftsweisen geht jedoch konform mit der von Siems und dürfte maßgeblich für deren schlechte Prognose-Qualität verantwortlich zeichnen. Dagegen scheint sich selbst die nicht weniger marktradikale Bundesbank noch einen Funken Realitätssinn bewahrt zu haben bzw. der Konsequenzen der von ihr eingeforderten Wirtschaftspolitik bewusst zu sein. Was nun den angeblichen “Jobboom” anbelangt, hilft jedem – außer unserer Dorothea-Not-Everything-Is-As-It-Siems und einigen Wirtschaftsweisen natürlich – die folgende Graphik auf die Sprünge (Hintergrund):
So gesehen, ist es natürlich fast amüsant, wenn Siems schreibt, rund fünf Millionen Beschäftigte wären vom Mindestlohn “betroffen”, als würden sie Schaden durch ihn erleiden – wenn es nicht so zynisch wäre.
Aber der Zeitungs-Pinocchio Siems “hat immer noch nicht fertig”:
“Anders als in den USA oder Großbritannien, wo die gesetzliche Lohnuntergrenze so niedrig angesetzt wird, dass lediglich eine sehr kleine Gruppe der Arbeitnehmer dieses Minimum tatsächlich bekommt, geht man hierzulande gleich in die Vollen. Im Verhältnis zum mittleren Lohn katapultieren sich die Deutschen mit dem geplanten Niveau von 8,50 Euro schlagartig an die Spitze der Industrieländer.”
Meint Siems – und unterschlägt dem Welt-Leser das Mindestlohn-Niveau in Frankreich, Luxemburg und anderen Industrieländern (siehe hierzu auch die Graphik Monatliche-Mindestlöhne) und auch, dass sich Obama gerade dafür einsetzt, den Mindestlohn in den USA ordentlich anzuheben. Und dann die “Logik” von Siems im oben zitierten ersten Satz: “…wo die gesetzliche Lohnuntergrenze so niedrig angesetzt wird, dass lediglich eine sehr kleine Gruppe der Arbeitnehmer dieses Minimum tatsächlich bekommt…” Nehmen wir also an, es käme in Deutschland eine Mindestlohnregelung von 3,50 Euro statt 8,50 Euro heraus. Natürlich bekämen dann weniger Beschäftigte den Mindestlohn als bei 8,50 Euro, weil viele auch für zum Beispiel 6 Euro arbeiten müssen – oder für 7,75 Euro, wie jüngst erst von der Großen Koalition für die Fleischindustrie noch für hoch genug empfunden, um in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz Aufnahme zu finden. Wenn Siems so argumentiert, sagt sie jedoch nichts anderes, als dass sie solche Hungerlöhne in Ordnung findet.
Schrecklich ist für Siems dagegen die Vorstellung, der Mindestlohn könne auf zehn Euro steigen. Da müsste er aber längst stehen, hätten die verschlafenen Gewerkschaften und die SPD dafür Sorge getragen, ihre ursprüngliche Mindestlohnforderung Jahr für Jahr dem gewonnenen Verteilungsspielraum anzupassen, was sie evtl. mit der Nase darauf gestoßen hätte, dass ihre Mindestlohnforderung von vornherein zu niedrig angesetzt war (siehe Graphik unten; Hintergrund). Denn der vom europäischen Amt für Statistik, Eurostat, für Deutschland festgestellte Niedriglohnschwellenwert liegt deutlich darüber. Eine mögliche Erhöhung des Mindestlohns sieht der Koalitionsvertrag aber “erstmals zum 10. Juni 2017 mit Wirkung zum 1. Januar 2018″ vor.
Bei solch “Kampfeswillen” der Gewerkschaften und der SPD erscheint die Sorge von Siems gänzlich ungerechtfertigt, die Gewerkschaften und die SPD, als deren “verlängerter Arm” (Siems), würden in der von ihr kritisierten Mindestlohnkommission den Mindestlohn “stets zu hoch ansetzen” (Siems). Hier erscheint viel eher die bereits an anderer Stelle geäußerte Sorge berechtigt, dass es zu zu starken Kompromissen zugunsten der Arbeitgeber kommt. Dafür sprechen auch die bis jetzt bekannt gewordenen Ausnahmeregelungen für den Mindestlohn, sollten die Arbeitgeberverbände sich damit gegenüber dem Gesetzgeber durchsetzen (siehe dagegen alternativ zu einer Mindestlohnkommission: Der Mindestlohn als sinnvolles Instrument gesamtwirtschaftlicher Steuerung).
Siems aber fürchtet:
“Dadurch gerät das Kräfteverhältnis in der Wirtschaft aus dem Lot.”
Was für Siems das Lot ist, ist allerdings die bedingungslose Auslieferung der Arbeitnehmer an die Arbeitgeber, wie es eben das System Hartz IV vorsieht und zur Not auch mit existenzgefährdenden Sanktionen durchsetzt. Anders ist die miserable Lohnentwicklung, anders sind die prekären Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland ja gar nicht zu erklären. Das aber interessiert Siems offensichtlich nicht, solange sie mit ihrer giftigen Schreibspitze auf einer sicherlich gut dotierten Planstelle beim Springer Verlag sitzt.
Erste Schlussfolgerung: Würde ein Erntehelfer so Spargel stechen wie Siems Artikel schreibt, wäre es ganz schnell vorbei mit dem guten Essen. Wer würde auch auf die Idee verfallen, Spargel mit einem Fleischwolf ernten zu wollen! In dem Fall wären 8,50 Euro tatsächlich zu viel des Guten.
Zweite Schlussfolgerung: Wer die Welt verstehen will, sollte sie nicht lesen.
Hintergrund:
Der große Mindestlohn-Schmu (vollständiger Beitrag nur im Abonnement)
Mindestlohn als sinnvolles Instrument gesamtwirtschaftlicher Steuerung (vollständiger Beitrag nur im Abonnement)
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