“Sozialwort” der Kirchen: Wie der Priester im Gleichnis vom barmherzigen Samariter

“Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.” (Lk, 10,30-31)

Man nehme eine Portion Ifo-Institut, eine Portion DIW, eine Portion IW, eine Portion IMK, kurzum etwas von allen geistigen, nicht selten auch geistlosen Ergüssen der als führend angesehenen deutschen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institute, inklusive deren geschwurbelten Wortschöpfungen und generell den Menschen abgewandten, sperrigen, sich wissenschaftlich dünkenden Sprache, mische etwas aus den Parteiprogrammen der CDU, der CSU, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen darunter und gebe etwas von den Forderungen und dem Weltbild der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände hinzu, ergänze eine Prise christliches Glaubensbekenntnis, und fertig ist das “Sozialwort” des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz. Wie das klingt und welchen Geist das atmet, macht gleich der zweite Absatz des Vorwortes deutlich, das Nikolaus Schneider, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, und Robert Zollitsch, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, gezeichnet haben (kursive Hervorhebung, T.H.):

“Angesichts der Herausforderungen von Globalisierung, der Finanz- und  Wirtschaftskrisen, wachsender Umweltprobleme, des demographischen Wandels und zunehmender sozialer Ungleichgewichte wird unsere gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft deutlich. Dazu bedarf es – sowohl mit Blick auf die globale Dimension als auch auf die nachfolgenden Generationen – des sozialen Ausgleichs und eines fairen Miteinanders sowie der Bewahrung der Schöpfung.”

Fühlen Sie sich angesprochen? Nein? Na, dann besteht ja doch noch Hoffnung, und wir müssen den Glauben nicht gleich ganz verlieren. Wenn sich auch bereits mit den oben zitierten Sätzen eine gravierende Frage stellt, nicht an uns, sondern an die Kirchenvertreter:

Wie nämlich kann man auf die Idee verfallen, dass angesichts “der Finanz- und Wirtschaftskrisen” und “zunehmender sozialer Ungleichgewichte” “unsere gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft” deutlich wird? Haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, etwa die Finanzmärkte dereguliert, sie per Gesetz entfesselt? Haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, die Agenda 2010, das damit einhergehende Lohndumping, die Rentenkürzungen und Teilprivatsierungen der Sozialversicherungen, die Senkung des Spitzensteuersatzes, der Unternehmenssteuern, das Aussetzen der Vermögenssteuer zu verantworten und damit die “zunehmenden sozialen Ungleichgewichte”, also die unerhörte Ansammlung von Vermögen für einige Wenige auf der einen Seite und die grassierende Armut und Existenzangst für Millionen auf der anderen Seite verursacht? Ich jedenfalls nicht. Und Sie denke ich auch nicht. Verantwortlich dafür ist natürlich in erster Linie die Politik. Und selbst wenn Sie die dafür verantwortlichen Parteien – CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP – gewählt haben sollten: Hatte ihnen nicht zumindest Gerhard Schröder etwas ganz anderes im Wahlkampf versprochen? Und haben Ihnen die anderen Parteien mit tatkräftiger Unterstützung durch Werbeagenturen  – von Ihren und meinen Steuergeldern finanziert – nicht etwas ganz anderes vorgegaukelt? Sehen Sie. Wenn die Spitzenvertreter beider Kirchen sich aber schon gleich zu Beginn scheuen, diejenigen beim Namen zu nennen, die für das, was sie zurecht, aber keineswegs konkret und nur sehr bedingt monieren, verantwortlich zeichnen, sondern dafür die Gesellschaft als Ganzes verantwortlich machen, dann verstellen sie sich und ihren Leserinnen und Lesern gleich zu Beginn den Weg zu einer “gerechten Gesellschaft”. Vielleicht will sich die Kirche damit aber auch bloß selbst aus ihrer Veranstaltung stehlen: War sie es doch, die der Regierung Schröder für die Verkündung der menschenverachtenden Hartz-Gesetze den Französischen Dom zur Verfügung gestellt hat! Hierzu hielt Pfarrer Stephan Frielinghaus in seinem Gemeindebrief in eben jener Kirchengemeinde vor nicht allzu langer Zeit in bewundernswerter Aufrichtigkeit fest, “dass die Veranstaltung zur Bekanntgabe der sogenannten Hartz-Gesetze nicht vom Veranstaltungsmanagement akquiriert worden ist. Sie fand vielmehr auf Betreiben des damaligen Präsidenten der Evangelischen Akademie, Robert Leicht, bei uns statt – und hat uns Hohn und Spott in der Presseberichterstattung (´Höhere Weihen für Hartz IV´) eingetragen, damals, und jetzt nach zehn Jahren noch einmal. Unsere Kirchen predigen auch dann, wenn gerade keine Gottesdienste in ihnen stattfinden, jede auf ihre Weise… Das tun sie aber nur, wenn man sie lässt und ihre Integrität nicht verletzt oder beschädigt. Es bleibt mein Anliegen, dass wir das stets mit bedenken, auch in Zeiten knapper Kassen, wenn wir darüber entscheiden, welche Veranstaltungen bei uns durchgeführt werden dürfen und welche nicht.”

Und haben Sie seitdem auch nur einmal den Aufschrei eines kirchlichen Spitzenvertreters über die sozialen und wirtschaftlichen Folgen jener Gesetzgebung gehört? Ich nicht. Jene kirchlichen Spitzenvertreter halten ja selbst durchaus ehrlich in ihrem “Sozialwort” fest, dass sie sich die ganzen Jahre mit Papieren die Zeit vertrieben und vielleicht auch ein gutes Gewissen damit gemacht haben. So heißt es im ersten Absatz des Vorwortes (fette Hervorhebung, T.H.):

“Auf den Tag genau vor 17 Jahren, am 28. Februar 1997, haben der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz das Gemeinsame Wort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit veröffentlicht. Seitdem haben sich beide Kirchen, wie es gute Tradition ist, immer wieder mit Denkschriften, Erklärungen und Impulstexten zu konkreten politischen Fragen, aber auch zu Grundsatzthemen der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland zu Wort gemeldet.”

Trägt das etwa nicht geradezu biblische Züge? “Weh Euch Gesetzeslehrern!”, ruft Jesus ihnen zu, “Ihr ladet den Menschen Lasten auf, die sie kaum tragen können, selbst aber rührt ihr keinen Finger dafür.” (Lk, 11,46 – Worte gegen die Pharisäer und die Schriftgelehrten: 11,37-54)

Und auf die Bibel beruft sich das “Sozialwort”. Unter der Überschrift “Orientierung aus christlicher Verantwortung” wird aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter zitiert, in dem es heißt: “Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.” (Lk, 10,25) Die Autoren zitieren daraus die Frage des Gesetzeslehrers, der Jesus auf die Probe stellen wollte: “Wer ist mein Nächster?” (Lk, 10,29) Anstatt aber wie Jesus konkret zu werden, flüchten sich die Autoren des “Sozialwortes” in ihrer Interpretation ins “Universale”:

“Wer mein Nächster ist, hängt nicht von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Kultur oder von der Herkunft aus einem bestimmten Kontinent ab. Das Gebot der Nächstenliebe gilt vielmehr universal. Wenn wir heute über Fragen der Wirtschaft nachdenken, dann bildet die gesamte Menschheitsfamilie unseren  Verantwortungshorizont.”

Wer würde dem nicht zustimmen! Und tatsächlich erscheint dies ein mögliches, wenn nicht das einzige Motiv, von dem sich die Autoren – bewusst oder unbewusst – haben leiten lassen: Zustimmung. Zustimmung von allen Seiten. Wenn aber alle Seiten mit der Nächstenliebe ernst machen wollten, hätte das “Sozialwort” nicht geschrieben werden müssen. Außer eben aus “guter Tradition” heraus. Nein, wenn man glaubhaft für mehr Nächstenliebe plädieren und diese einfordern möchte, muss man auch diejenigen benennen, die sie mit Füßen treten. Das hat Jesus im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter getan. Nur “der, der barmherzig an ihm gehandelt hat”, an dem ausgeraubten, halb tot liegen gelassenen Mann, der, der zu ihm ging, ihm Öl und Wein auf seine Wunden goss und sie verband, ihn auf sein Reittier lud, ihn zu einer Herberge brachte und für ihn sorgte, der hat Nächstenliebe geübt. Die Autoren des “Sozialwortes” aber ähneln in meinen Augen eher dem Priester, der zufällig denselben Weg ging, wie der ausgeraubte, halb tot liegengelassene Mann, der diesen zwar sah, aber weiterging. (Lk, 10,30)

Leider wird es im sich daran anschließenden Text nicht besser. Ich gebe Ihnen zur eigenen Beurteilung im Folgenden nur einige Zitate aus dem “Sozialwort” an die Hand und stelle diesen einige Fragen und Kommentare zur Seite:

“Insbesondere die Finanzmärkte müssen sich wieder in Richtung einer dienenden Rolle wandeln.”

Warum nur “in Richtung” einer dienenden Rolle?

“Es war die durch mathematisch-ökonomische Modelle suggerierte Illusion der Beherrschbarkeit auch größter Risiken, die als eine wesentliche Ursache für die Finanz und Wirtschaftskrise der Jahre 2007–2009 gesehen werden muss.”

Warum “muss” das so gesehen werden? Es gab bereits genügend warnende Beispiele weltweit für die Untauglichkeit und Gefährlichkeit jener Modelle. Die Politik hätte also gewarnt sein müssen! Und selbst, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre: Rechtfertigt die Risikolosigkeit die gesetzliche Legitimation für eine sinnlose Spekulation, die der Realwirtschaft Ressourcen entzieht und eine ungleiche Vermögensbildung voraussetzt, die in ihrem Ausmaß ihrerseits erst durch die Gesetzgebung, also die Politik, ermöglicht wurde? Hier wird politische Verantwortung auf ein mathematisch-ökonomisches Modell abgeschoben, also politische Verantwortung gleichermaßen vernebelt bzw. ausgeblendet.

Was dann in dem mit dem Allgemeinplatz “Gemeinsame Verantwortung heißt, wirtschaftliches Wachstum in den Dienst für den Menschen zu stellen” überschriebenen Kapitel folgt, ist das Malen einer Welt, wie sie sein sollte. Das ist nicht neu, nicht originell, nicht konkret, nicht hilfreich, vor allem aber greift es nicht die Verhältnisse und die Akteure an, die für die unsoziale Wirklichkeit verantwortlich zeichnen.

“Gemeinsame Verantwortung heißt, die soziale Marktwirtschaft nachhaltig weiter zu entwickeln.”

Das impliziert, dass wir eine soziale Marktwirtschaft haben, denn was nicht da ist, kann ja schwerlich weiter entwickelt werden. Wir haben aber keine soziale Marktwirtschaft! Wer das nach über zehn Jahren Agenda 2010 nicht erkannt hat, bedarf eines “Sozialwortes”, sollte aber keines verfassen.

Dass die Autoren dies tatsächlich noch nicht erkannt haben, zeigt sich gleich anschließend darin, dass sie eben jene menschenverachtenden “Reformen” (Agenda 2010) auch noch loben, deren Maßnahmen nicht davor zurückschrecken, Arbeitslose, die schon per Gesetz dazu gezwungen sind unter dem Existenzminimum zu leben (Hartz IV), mit Sanktionen noch darunter zu drücken:

“Der Gesetzgeber hat in den letzten zehn Jahren zahlreiche Schritte unternommen, um das Wirtschafts- und Sozialsystem an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Gerade die Finanzmarktkrise und die europäische Staatsschuldenkrise haben deutlich gemacht, wo diese Reformpolitik Früchte trägt, aber auch, wo noch Defizite liegen.”

Was für “Früchte” jene “Schritte” tragen, und wer diese pflückt, davon ist keine Rede! Das ist ein Skandal! Wirklich. Unerträglich ist das. Und an welche “veränderten Rahmenbedingungen” das “Wirtschafts- und Sozialsystem” “angepasst” (eine ganz schlimme Beschönigung, Verharmlosung) wurde, wird ebenfalls nicht genannt. Wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich sogar, gehen die Autoren stillschweigend davon aus, dass es die “Globalisierung” war, die das alles erzwungen hat. Warum aber haben wir dann andere Länder mit diesen “zahlreichen Schritten” erst richtig unter Druck, Wettbewerbsdruck, gesetzt und tun dies heute noch, ja, bekennt sich die Politik sogar ganz offen dazu und empfiehlt anderen Ländern es uns nachzutun?

Anstatt sich, wie es das Gleichnis des barmherzigen Samariters vorlebt, um die geschundenen Opfer jener Politik zu bemühen, konzentriert sich die Kirche – nein, das wäre nun wirklich ungerecht -, konzentrieren sich die Autoren und Spitzenvertreter der Kirchen auf die Haushaltskonsolidierung, als wären sie die “Troika” höchst persönlich, und als gäbe es nicht die Millionen durch Sozialkürzungen und Massenentlassungen “nieder geschlagenen”, “halb tot liegen gelassenen”, die ihrer Hilfe bedürften (Lk, 10,30). So schreiben die Autoren:

“Die europäische Krise zeigt, dass eine solche Kultur der Verantwortung nicht zuletzt auch von den Regierungen und Parlamenten selbst im Hinblick auf eine nachhaltige Haushaltspolitik zu fordern ist.”

Und sie gehen noch weiter, noch radikaler vor, in ihrer irrwitzigen Interpretation der Eurokrise:

“Die Krisenjahre haben auch gezeigt, dass es Deutschland besser als anderen Industrieländern gelungen ist, sich auf die Herausforderungen der Globalisierung einzustellen. Trotz eines ungünstigen weltwirtschaftlichen Klimas hat sich die deutsche Volkswirtschaft positiv entwickelt; der Wohlstand unseres Landes konnte erhalten bleiben.”

Härter kann man die Tatsachen und Zusammenhänge nicht verdrehen, wirklich nicht. Nicht einmal eine Merkel oder ein Gabriel könnten dies besser. Es ist diesen Kirchenvertretern jedoch tatsächlich gelungen, diesen beiden das Wasser zu reichen. Es ist allerdings kein Weihwasser. Sondern Teufelszeug.

Richtig müsste es im ersten Satz heißen: Weil Deutschland meinte, sich mit Lohndumping (Agenda 2010, Hartz IV, Rentenkürzungen etc.) den Herausforderungen der Globalisierung stellen zu müssen, hat Deutschland maßgeblich die Eurokrise mit hervorgerufen, weil es gegenüber seinen Handelspartnern in der Eurozone real abgewertet, seine Waren mit unfairen, unsozialen Mitteln billiger gemacht hat. Das konnte nur gelingen, weil andere Industrieländer innerhalb und außerhalb der Europäischen Währungsunion diesem schlechten Beispiel nicht folgten und daher mehr Nachfrage auf Deutschland richteten, als umgekehrt (Stichwort: Leistungsbilanzungleichgewichte).

Dass die verantwortlichen Kirchenvertreter offensichtlich nicht dazu in der Lage sind, die soziale Dimension jener Politik und ihrer Folgen zu erkennen, sich nicht einmal in die davon betroffenen Menschen hierzulande und anderswo in der Welt einzufühlen, ist die eine Sache, die für sich genommen am meisten erschreckt. Hätte hier etwa nicht das Wort Jesus aus dem Evangelium des Matthäus Orientierung geben können? “Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten…An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen.” (Mt, 7,18-30)

Dass die verantwortlichen Kirchenvertreter nicht die ökonomischen Zusammenhänge auch nur im Ansatz verstehen, ist die andere Sache. Hier habe ich nicht schlecht gestaunt, als ich, eben im Zusammenhang mit dem “Sozialwort”, erfuhr, dass kein geringerer als Gustav Horn, seines Zeichens Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts IMK, die Kammer für soziale Ordnung der evangelischen Kirche leitet!

“Zugleich”, heißt es dann weiter, “dürfen wir aber nicht die Augen davor verschließen, dass nicht alle Menschen in unserem Land an diesem Wohlstand teilhaben. Wie in den meisten OECD-Ländern, so hat auch in Deutschland in den letzten 30 Jahren die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zugenommen. Offensichtlich ist es noch nicht hinreichend gelungen, eine Antwort darauf zu finden, wie unter den Bedingungen der Globalisierung ein gerechter und fairer sozialer Ausgleich in der Sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts organisiert werden kann.“

Das durfte natürlich nicht fehlen: Das kleine moralische Anhängsel, nicht die Augen zu verschließen. An Antworten darauf, “wie unter den Bedingungen der Globalisierung ein gerechter und fairer sozialer Ausgleich” organisiert werden kann, mangelt es jedoch seit Jahren, seit Jahrzehnten nicht. Wenn man aber die zentrale Ursache dafür, dass auch in Deutschland die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zugenommen hat, die Agenda 2010, lobt und dann auch noch aus der Vermögenskonzentration der vergangenen zehn Jahre auf die vergangenen 30 Jahre ausweicht, kann oder will man offensichtlich nicht erkennen, worin die Wurzel des derzeitigen Übels liegt. Das ist dann aber auch das einzige, was “offensichtlich” ist.

Es folgt hieran anknüpfend erneut eine ganze Kette von Allgemeinplätzen, die, neben der fehlenden Kritik an den herrschenden Verhältnissen, einfach auch ein erschreckendes intellektuelles Niveau offenbaren:

“Diejenigen, die heute in prekären Arbeitsverhältnissen leben oder aus anderen Gründen keine private Vorsorge treffen können, haben ein hohes Risiko, im Alter in Armut zu leben. Wir müssen deshalb darüber nachdenken, wie wir die Solidarität über die Generationen hinweg in Zukunft sicherstellen und organisieren wollen. Das bedeutet im Kern die Herausforderung, den gefährdeten Menschen durch Qualifizierung und Befähigung die Beteiligung am regulären Erwerbsleben zu ermöglichen. Angesichts gewachsener sozialer Ungleichheit darf aber nicht übersehen werden, dass gerechte Teilhabe auch eine Frage von Einkommen und Vermögen ist. Beteiligungs- und Verteilungsgerechtigkeit gehören zusammen.”

Es wird nicht hinterfragt – nicht einmal kritisiert -, dass Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen leben. Wie auch, wenn man zuvor unreflektiert die Agenda 2010 gelobt hat. Da liegt es natürlich auch fern, die private Vorsorge zu kritisieren oder auch nur zu hinterfragen. Die Autoren sind ganz offensichtlich Gefangene der herrschenden Ideologie und können sie daher nicht hinterfragen. Sie benötigen ein “Sozialwort”, dringend! Aber selbst eines schreiben, können sie mit diesem Gedankengebäude, was eine Politik befürwortet, die zutiefst asozial ist, nicht. Stattdessen um dieses Gedankengebäude ein wenig herum zu moralisieren, muss inhaltlich wie moralisch buchstäblich ins Leere gehen.

Ein schlimmes Kapitel ist auch das mit „Gemeinsame Verantwortung heißt, die Staatsfinanzen zu konsolidieren“ überschriebene.

Darin wird noch einmal das bereits oben kritisierte Verständnis der Eurokrise wiederholt und ausgeführt:

“Auch mit Blick auf die Europäische Union bleibt die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte eine dringliche Aufgabe. Diese Notwendigkeit wird durch die derzeitige Finanzkrise im Euro-Raum unterstrichen.”

Und dann dieser Satz:

“Sozialethisch kritisch zu bewerten ist jedenfalls, dass die Sparer zur Zeit besondere Belastungen tragen müssen.”

Damit können doch wohl nur die niedrigen Zinsen gemeint sein, die Sparer in Deutschland derzeit für ihr Vermögen erhalten. Haben die Kirchen wirklich keine größere Sorge als diese “besonderen Belastungen”? Das ist wirklich traurig. Wie radikal dagegen ist doch Jesus, wenn er den Habenden entgegenruft: “Verkauft Euer Habe und gebt den Erlös den Armen!” (Lk, 12,33)

Dann heißt es wieder, und das ist wirklich im doppelten Sinne Schwindel erregend (kursive Hervorhebung, T.H.):

“Wir sehen mit großer Sorge, dass in einigen Euro-Ländern die Ausgabenkürzungen zur Haushaltskonsolidierung zu schweren sozialen Verwerfungen geführt haben. Insbesondere die in manchen Krisenländern drastisch gestiegene Arbeitslosigkeit, vor allem auch unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ist für die betroffenen Gesellschaften und ganz Europa eine auf Dauer nicht tragbare Belastung.”

Was heißt “auf Dauer”? Die Arbeitslosigkeit ist hier und jetzt, genauer seit fünf Jahren schon eine nicht tragbare Belastung für jeden Einzelnen, der von ihr betroffen ist. Und wie kann man der Haushaltskonsolidierung das Wort reden, dann aber über die Folgen klagen? Es passt nichts zusammen. Das ist in meinen Augen den Kirchen noch nicht einmal vorzuwerfen. Obwohl es schon verwundert, wie deren Spitzenvertreter sich hier winden, anstatt eine eigenständige Analyse vorzulegen. Ich erkläre mir dies wie oben bereits angedeutet damit, dass die Autoren Gefangene der herrschenden Ideologie sind. Warum aber konzentriert sich die Kirche nicht auf die Opfer, warum wäscht sie ihnen im übertragenen Sinne und im Sinne von Papst Franziskus nicht die Füße und moralisiert gegen die Verantwortlichen? Warum machen sich die Spitzenvertreter der Kirchen nicht zu den Fürsprechern der Armen, der Arbeitslosen, und fordern Rechte für diese ein, zum Beispiel die Abschaffung der menschenunwürdigen Hartz IV-Sanktionen, oder warum gehen sie nicht demonstrativ hin zu den Armen und Verlorenen in Griechenland und anderswo, auch hierzulande, und rücken sie in den Blick der Öffentlichkeit und der Politik? Nichts davon. Stattdessen akademische Allgemeinplätze, Zweideutigkeiten, Anbiederung in alle Richtungen. Das ist nicht nur lächerlich. Es ist unmoralisch. Erst recht, wenn man die Bibel als Maßstab nimmt. Und das sollte man doch von der Kirche erwarten dürfen. Schon ein Laie wie ich, der sich aber seit längerem in den “Stoff” hineingelesen hat, ohne einer Kirche anzugehören, sondern aus historischem, literarischem und generellen Interesse am Unbekannten, immer nach Erklärungen und Handlungsmöglichkeiten suchend, wird da schnell fündig und kommt ins Staunen.

Und so geht es munter bzw. müde weiter im “Sozialwort”, das bei seinem Inhalt genommen das Gegenteil von dem ist, was es verspricht:

“Zwar löst eine gerechte Steuerpolitik keineswegs alle haushaltspolitischen Probleme, sie würde aber erheblich zu einer größeren Akzeptanz der weiterhin erforderlichen Sparmaßnahmen beitragen.”

Eine gerechte Steuerpolitik, damit die unsozialen “Sparmaßnahmen” auf größere Akzeptanz stoßen. Und wieder wird sich nach allen Seiten abgesichert:

“Bei allem notwendigen Bemühen um eine Haushaltskonsolidierung darf die Lösung der europäischen Krise nicht auf dem Rücken von Millionen von Menschen ausgetragen werden, die sie nicht verursacht haben. Insgesamt ist ein Schuldenabbau, der vor allem auf Kosten der sozial Schwachen und auf Kosten notwendiger Zukunftsinvestitionen geht, aus ethischer Sicht nicht hinnehmbar.”

Das Kapitel zum “demographischen Wandel” steht ebenfalls ganz im Ritus der Agenda-Politik. Hier ein Beispiel (kursive Hervorhebung, T.H.):

“Um eine zu starke Absenkung des Rentenniveaus zu vermeiden, wurden außerdem die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre notwendig.”

So auch das Kapitel zur “Beteiligung an Erwerbsarbeit”:

“In Deutschland hat sich der Arbeitsmarkt in den letzten Jahren trotz der Wirtschafts- und Finanzkrise positiv entwickelt. Zu dieser positiven Entwicklung trug die Sozialpartnerschaft in Deutschland, die in der Tarifautonomie sowie in der betrieblichen Mitbestimmung und der Unternehmensmitbestimmung ihre institutionellen Grundlagen findet, maßgeblich bei. Die Arbeitslosigkeit, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit, ist deutlich gesunken. Auch die Sockelarbeitslosigkeit konnte abgebaut werden. Die Gesamtzahl aller Arbeitsverhältnisse hat einen Höchststand erreicht, auch wenn sich das Arbeitsvolumen, z. B. durch die zunehmende Teilzeitarbeit, nicht erhöht hat. Dazu haben die Arbeitsmarktreformen der letzten zehn Jahre beigetragen.”

Wiederum kann man an dieser Stelle nur attestieren: Diese Kirchenvertreter entsprechen voll und ganz dem Priester im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, aus dem hier noch einmal zitiert sei. Jesus: “Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.” Die Räuber aber sitzen heute im Deutschen Bundestag. Und noch einmal: Wenn man schon der eigenständigen Analyse nicht mächtig ist, sondern stattdessen nur Vorgesetztes nachplappert und als gegeben hinnimmt: Warum dann nicht wenigstens – als Kirche – sich für die Opfer stark machen, sie in den Blick der Öffentlichkeit und der Politik rücken? Das eine geht wohl nicht, ohne das andere! Denn die Ideologie macht offensichtlich blind gegenüber den Opfern, die sie fordert. Noch ein Beispiel, das erschüttert:

“Die Arbeitsmarktreformen und der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre haben auch dazu geführt, dass viele Menschen den Einstieg in den Arbeitsmarkt gefunden haben. Dieser Einstieg wurde für viele erst durch einen Niedriglohnbereich und atypische Beschäftigungsformen möglich. Deshalb müssen Politik und Wirtschaft nun bewerten, ob es sich um die Verfestigung prekärer Beschäftigungsverhältnisse handelt oder tatsächlich um eine Brücke zu Normalarbeitsverhältnissen.”

Wer solche Kirchenvertreter hat, braucht wahrlich keine Arbeitgeberverbände oder Bertelsmann-Stiftung mehr. Letztere haben aber offensichtlich auch gegenüber den Kirchen-Spitzen ganze Arbeit geleistet.

In meinen Gedanken zum 1. März habe ich bereits nach dem ersten Überfliegen des “Sozialwortes” festgestellt: “Nicht erst nach dem gestern von der evangelischen und der katholischen Kirche vorgelegten ´Sozialwort´ muss man auch den Spitzen dieser Organisationen absprechen, ein Ohr für die Sorgen und Nöte der Menschen zu haben.”

Nach der genaueren Lektüre des Textes, sehe ich mich leider in meinem Urteil bestätigt. Hoffnung allein weckt, dass die Kirchen das “Sozialwort” als Diskussionsgrundlage verstanden wissen wollen. So heißt es im Vorwort:

“Wir fordern alle Interessierten auf – seien es engagierte Christen und Verbände innerhalb unserer Kirchen oder Einzelpersonen und gesellschaftliche Gruppen, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen – sich an der Diskussion über unsere gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft zu beteiligen.

Zeitgleich mit der Veröffentlichung dieses Textes am 28. Februar 2014
wird unter der Adresse www.sozialinitiative-kirchen.de eine Homepage
freigeschaltet, auf der dieser Text diskutiert und kommentiert werden
kann. Einzelkommentare von Personen, aber auch größere Stellungnahmen
von Gruppen und Verbänden sind dort möglich und erwünscht. Sie
können sich sowohl auf einzelne Kapitel als auch auf den Gesamttext
beziehen.”

Wohlan.

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