Pflichtlektüre: Oxford-Ökonom geht hart mit Austeritätspolitik ins Gericht und liest Deutschland Leviten – in einer IWF-Publikation

“Finance & Development” ist eine vierteljährlich erscheinende Publikation des IWF. Vor einigen Jahren bekam ich sie regelmäßig auf dem Postweg zugesandt, bis ich sie gelangweilt abbestellte. Jetzt aber wurde ich auf einen Beitrag aufmerksam, der zum Besten zählt, was ich seit geraumer Zeit zur Eurokrise gelesen habe. Erschienen ist er in “Finance & Development”. Verfasst hat ihn der Oxford-Ökonom und Historiker Kevin Hjortshøj O’Rourke.

O´Rourke wählt für seine Analyse einen Ausgangspunkt, den weder die Bundesregierung noch die heimische Wirtschaftswissenschaft wohl jemals zum Ausgangspunkt wählen werden, von dem aus wir die Eurokrise aber immer wieder beleuchtet haben: die Massenarbeitslosigkeit. Eine weitere Parallele zu unseren Analysen: O´Rourke vergleicht den Istzustand von Euro-Ländern mit der Ausgangslage zum Zeitpunkt vor Ausbruch der Krise und zeigt auf, wie weit die Europäische Währungsunion (EWU) noch von jenem Ausgangsniveau entfernt ist. Und noch eine Parallele zu unseren Analysen: Er vergleicht die Entwicklung in der EWU mit der in den USA, wo auch nicht alles Gold ist was glänzt, aber doch eine Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt erkennbar ist.

O´Rourke findet es verstörend, dass die Europäer offensichtlich so an die Arbeitslosenzahlen gewöhnt seien, dass sie diese nicht länger als schockierend empfinden würden (Europeans are so used to these numbers that they no longer find them shocking, which is profoundly disturbing.). Das aber ist in meinen Augen nicht richtig: Die Arbeitslosenzahlen haben die Verantwortlichen in Europa von Beginn an nicht gestört! Sie haben die sozialen Folgen schlichtweg ignoriert, weil sie von Beginn an nur ihrer Ideologie ausgeglichener Staatshaushalte frönten.

Und noch ein Fehler unterläuft O´Rourke, wenn er schreibt, dass der Euro deswegen eine schlechte Idee gewesen sei, weil der Währungsraum zu groß und unterschiedlich gewesen ist, woraus periodische reale Wechselkursanpassungen resultieren müssten. Hätten sich, nachdem das Wechselkursverhältnis der nationalen Währungen zum Euro einmal hergestellt war, alle an das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) gehalten, wären diese Divergenzen, wie wir sie bis heute beobachten können, jedoch nicht entstanden. Mit seinem Verweis auf fehlende Mobilität des “Faktors Arbeit” erweist sich O´Rourke als Neoklassiker. Das macht ihn, anders als deutsche Wirtschaftswissenschaftler, aber nicht blind gegenüber dem Notwendigen, wenn er zum Beispiel problematisiert, dass es keinen Mechanismus gebe, der dafür sorge, dass Ressourcen zum Ausgleich von Ungleichgewichten innerhalb des gemeinsamen Währungsraums transferiert werden. Das ist die klassische Aufgabe eines Zentralstaats in meinen Augen: Entwicklungsunterschiede in armen und reichen Regionen zu überwinden. Man denke nur an die deutsche Wiedervereinigung oder an ein Land wie China, das sich in einem ganz anderen Entwicklungsstadium befindet. Solch Punkte O´Rourkes machen den Text so wichtig. Und auch diese Einsicht, die ja gleichsam den IWF mit kritisiert, der ja als Teil der so genannten “Troika” für eben jene prozyklische Krisenpolitik mit verantwortlich zeichnet (Hervorhebung, T.H.):

“And with no federal budget to smooth asymmetric shocks, procyclical austerity, which exacerbates rather than ameliorates recessions, has been the policy weapon of choice during this crisis—whether imposed by the markets or by euro area politicians and central bankers. Mass unemployment in the periphery is exactly what theory would predict in such circumstances.

O´Rourke bleibt darüber hinaus nicht bei der ökonomischen Analyse stehen, wenn er “Heuchelei und Mobbing” der Bürokraten in Europa angreift, deren demokratische Legitimation hinterfragt und die langfristigen politischen Folgen vorhersieht:

“This will have long-term political consequences. Despite the understandable desire of European bureaucrats to regard such matters as water under the bridge, hypocrisy and bullying remain unpopular with ordinary voters. Small, vulnerable countries have had a painful lesson in European realpolitik that they will not soon forget.”

In klaren Linien zieht O´Rourke die Parallelen der Situation und der Politik in der EWU zur Situation und Politik während der großen Depression der 1930er Jahre. Auch das haben wir in unseren Analysen immer wieder theoretisch und empirisch aufgezeigt. Auch das ein klarer Kontrapunkt zur offiziellen Politik des IWF und zur Politik der EU-Kommission und der Bundesregierung. O´Rourke spricht dabei unmissverständlich die kontraproduktive Haltung Deutschlands an, wenn er von einem Konsens außerhalb Deutschlands (outside of Germany) schreibt.

O´Rourke gibt sich trotz all dieser Widrigkeiten als klarer Euro-Befürworter zu erkennen, macht aber gleichzeitig deutlich, dass man eine solche Position je weiter die Zeit fortschreite immer weniger überzeugend vertreten könne (These are all arguments for “more Europe” rather than less. I and many others have made such arguments over the past five years. But as time goes on, it becomes more difficult to do so with conviction.)

Das Krisenmanagement seit 2010 sei “schockierend armselig” gewesen. Die Politik sei insgesamt ein Ausdruck “schreiender Inkompetenz” (outright incompetence). Thank you Mr. O´Rourke!

Weiter thematisiert O´Rourke legale, politische und ethische Fragen und geht dabei auch hart mit der Politik der EZB ins Gericht.

In Richtung Deutschland schreibt O´Rourke:

“The longer this crisis continues, the greater the anti-European political backlash will be, and understandably so: waiting will not help the federalists. We should give the new German government a few months to surprise us all, and when it doesn’t, draw the logical conclusion. With forward movement excluded, retreat from the EMU may become both inevitable and desirable.”

Warum hat Deutschland nicht solche Wirtschaftswissenschaftler oder nur wenige, die, wie Heiner Flassbeck zum Beispiel, kaum durchdringen, auch aufgrund einer des Hinterfragens und Analysierens weitgehend unfähigen medialen Monokultur.

Kein Zweifel, so O´Rourke abschließend, der Niedergang des Euro wäre eine große Krise. “Wir sollten uns das nicht wünschen.” Als Historiker aber endet O´Rourke mit dem Satz, dass, wenn der Euro schließlich aufgegeben würde, würden Historiker in fünfzig Jahren von heute an gerechnet sich zuallererst fragen, wie es dazu kommen konnte, dass der Euro überhaupt eingeführt wurde (“If the euro is eventually abandoned, my prediction is that historians 50 years from now will wonder how it ever came to be introduced in the first place.”).

Noch ist die letzte Chance, den Euro zu retten, in meinen Augen nicht vertan. Unsere politische Klasse, man denke nur an Schäuble, aber auch an Marin Schulz, oder an Merkel, aber auch an Juncker, lässt diese Position, das gebe ich zu, als zweckoptimistisch erscheinen.

Quelle: Whither the Euro?

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