Der Titel klingt vielversprechend, wenn auch etwas gespreizt: “Die Ökonomik im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Alte und neue Perspektiven im Licht des jüngsten Methodenstreits.” Und auch der Name des Herausgebers, Heinz D. Kurz, lädt zur Lektüre ein. Jedenfalls diejenigen, die seine Herausgabe von David Ricardos Grundsätzen der Politischen Ökonomie und der Besteuerung in der Übersetzung von Gerhard Bondi aus dem Jahr 1994 gelesen haben oder ihn aus Artikeln in Zeitungen kennen, in denen es ihm stets gelingt, den großen wirtschaftshistorischen und -theoretischen Bogen auch über einen kleinen Raum zu spannen. Und ein weiterer erfahrener und – durchaus eine Seltenheit unter renommierten deutschen Ökonomen – undogmatischer Wirtschaftswissenschaftler und Autor, Jürgen Kromphardt, ist unter den Verfassern. Welche Studierenden der Wirtschaftswissenschaften kennen sie schließlich nicht, seine “Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus”? – Um ehrlich zu sein: Ich fürchte allzu viele! Und doch enttäuscht das Buch, das im Rahmen der “Schriften des Vereins für Socialpolitik” im Berliner Duncker & Humblot Verlag erschienen ist.
Ein Grund dafür ist sicherlich der Ausgangspunkt, den sich die Veranstalter für die bereits im Mai 2010 stattgefundene, 31. Jahrestagung des Ausschusses für die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften (Dogmenhistorischer Ausschuss) des Vereins für Socialpolitik gewählt haben. Aus sechs überarbeiteten Fassungen der dort gehaltenen Vorträge speist sich das vorliegende Buch. Das ist vielleicht schon das erste Manko: Ein Buch erst fast vier Jahre später erscheinen zu lassen. Es muss jedoch kein Manko sein, geht es doch um ein Grundsatzthema, das uns vermutlich noch lange begleiten wird. Der Ausgangspunkt aber, den sich die Veranstalter und Autoren gewählt haben, wird selbst für Kenner längst Schnee von gestern sein. Für mich war er nicht einmal zum Erscheinungsdatum von größerem Interesse. Den Ausgangspunkt bilden nämlich zwei im Jahr 2009 erschienene, sich widersprechende Aufrufe renommierter Ökonomen. Unter dem einen standen Namen wie – ich musste nachschauen – Rudolf Hickel, Joachim Starbatty, um nur die zwei bekanntesten zu nennen. Unter dem anderen standen Namen, die kaum einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sein dürften. Doch selbstverständlich füllen die Verfasser und Unterzeichner beider Aufrufe tonnenweise Fachmagazine. Dass wir sie dennoch nicht kennen, verrät vielleicht mehr über den Stand der deutschen Wirtschaftswissenschaft als die Texte der Aufrufe, die wahrlich ebenfalls kein Ruhmesblatt sind.
Kromphardt misst den Aufrufen zwar deutlich mehr Bedeutung bei, sonst hätte er sie wohl nicht zum Gegenstand seines Beitrags gewählt, der mit “Der jüngste Methodenstreit: Alter Streit mit neuen Akzenten” überschrieben ist. Allerdings führt er durchaus gekonnt aus, warum meines Erachtens diese Aufrufe gerade nicht die ihnen zugesprochene Bedeutung verdienen. Es geht schlussendlich um den falschen Abgrenzungsversuch von theoretischer und angewandter Wirtschaftswissenschaft, von Theorie und Praxis. Mit Verweis auf ein Werk des Ökonomen Carl Menger (1883) hält Kromphardt hierzu fest: “Menger trennt mithin zwischen der Theorie der Volkswirtschaft, der historischen Wissenschaft von der Volkswirtschaft und der praktischen Wissenschaft von der Volkswirtschaft.” Diejenigen, die das alles nicht auseinanderhielten, würden nach Menger “das Wesen” der jeweiligen Volkswirtschaftslehre nicht verstehen.
Gekonnt arbeitet Kromphardt die methodologischen Schwächen dieses Ansatzes von Menger heraus, der sich aber nichtsdestotrotz in der Lehre und an den Wirtschaftsforschungsinstituten weiterhin großer Beliebtheit erfreut. Dabei wusste schon Ricardo, wie der Herausgeber Heinz. D. Kurz in der oben erwähnten Werkausgabe festhält: Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. Diese Erkenntnis aber, die ja nichts anderes besagt, als dass eine vernünftige Praxis nicht ohne die theoretische Erklärung von ökonomischen Zusammenhängen auskommt, deklariert den ganzen “Methodenstreit” als überflüssig. Jene Art “Methodenstreit” war und ist lediglich dazu geeignet, weltfremden Ökonomen ein akademischen Rückzugsgebiet offen zu halten. Eigentliche Erkenntnisgewinne, Fort- oder Neuentwicklungen von Methoden, die der Praxis neue theoretische, praxisrelevante Erkenntnisse bescheren, bringen sie nicht hervor.
Eine fruchtbare ökonomische Auseinandersetzung fußte dagegen in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften stets darauf, dass verschiedene Ökonomen denselben praktischen Gegenstand unterschiedlich theoretisch zu erklären versuchten bzw. zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangten. Die Auseinandersetzung Ricardos mit Malthus ist hierfür nur ein berühmtes Beispiel, ein ganz anderes die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion der 1920er Jahre (bevor die Ideologen einen Schreck bekommen: die umfangreichste Forschung, ohne die jene Debatte wohl nie das Licht der westlichen Öffentlichkeit erblickt hätte, stammt von renommierten amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern!), ein weiteres, leider nicht so berühmtes Beispiel ist, wie Keynes und Kalecki fast zeitgleich aber doch auf sehr unterschiedlicher theoretischer und methodischer Grundlage zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangten; Kalecki, der Keynes in gewisser Weise vorweg nahm und der theoretisch stringentere von beiden ist, setzte sich wiederum gleichermaßen analytisch wie kritisch mit Keynes Methode und Theorie auseinander. Diesen Auseinandersetzungen wohnt ein wissenschaftliches Niveau inne, das sich in der herrschenden deutschen Wirtschaftswissenschaft schon lange nicht mehr findet, vielleicht zuletzt bei so unterschiedlichen Vertretern wie Wolfgang Stützel und, noch weiter zurückblickend, Friedrich List. Nie wären die Genannten auf die unsinnige Idee verfallen, der eine habe sich um die Praxis zu kümmern, der andere um die Theorie und noch ein anderer um die Geschichte.
Dogmengeschichtlich ist es darüber hinaus gewinnbringend, die Entwicklung der Theorie und ihres jeweiligen Gegenstands mit eben der Entwicklung des Gegenstands selbst und seines historischen Entstehungskontextes in Verbindung zu bringen, zu analysieren, zu begreifen. Viele Missverständnisse, viele vermeintliche Streitpunkte zwischen so genannten “Schulen” erledigen sich darüber zumeist von selbst. Davor aber verschließen viele Neoklassiker wie Keynesianer, um nur die zwei bekanntesten “Schulen” zu nennen, gleichermaßen die Augen.
Darüber hinaus gilt: Die “Ökonomen”, die heute nur abstrakten mathematischen Modellen frönen, sind natürlich zu nichts nutze. Sie verwechseln offensichtlich Mathematik mit Theorie. Vielfach sind es auch gescheiterte Mathematiker, die erst mit der Promotion ins Fach Volkswirtschaftslehre gewechselt sind und kein theoretisches Gerüst zur volkswirtschaftlicher Analyse besitzen. Abstrakte Überlegungen und Modelle aber rundheraus abzulehnen ist ebenso unnütz. Das alles ist ökonomischer Kindergarten, der aber unter hoch dotierten Professoren in Deutschland auf große Anerkennung stößt. Mir ist ein vergleichbarer Extremismus aus der angelsächsischen Welt nicht bekannt.
Insofern kann ich mich durchaus mit der Beurteilung Kromphardts anfreunden, der nach einer differenzierteren Analyse seinen Text mit den Worten schließt: “Schließlich ist nicht zu übersehen, dass ein genaueres Eingehen auf die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Argumentation beim ersten und beim jüngeren Methodenstreit gut getan hätte.”
Zu welchen Verirrungen ein konstruierter Methodenstreit führen kann, zeigt im Anschluss daran aber Michael Wohlgemuth. Interessanter als die darin geübte Unterscheidung zwischen österreichischer Schule und Neoklassik erscheint mir in dem Text von Wohlgemuth, dass er, sicherlich ungewollt, die Praxisuntauglichkeit beider Theorien belegt. So zeigt Wohlgemuth den ganzen Irrsinn der Idee des Wettbewerbs auf, die der “österreichischen Schule” zugrundeliegt, wenn er Hayek mit den Worten zitiert: “…Aber welche Güter knapp oder welche Dinge Güter sind, oder wie knapp oder wertvoll sie sind, ist gerade einer der Umstände, die der Wettbewerb entdecken soll: es sind jeweils die vorläufigen Ergebnisse des Marktprozesses, die den einzelnen sagen, wonach es sich zu suchen lohnt”.
Wohlgemuth kommt nicht darauf, das kritisch zu hinterfragen – wofür wir ihm erkenntnistheoretisch dankbar sein sollten -, sondern erklärt: “Der ´relevante Markt´, auf dem sich Wettbewerbshandlungen vollziehen, ist somit kein gegebener Möglichkeitsraum, der seitens eines Beobachters objektiv vorgegeben werden könnte. Seine Grenzen werden vielmehr immer wieder im Marktprozess verändert und sind somit einer der ´Umstände, die der Wettbewerb entdecken soll´. Zu diesen Umständen gehört etwa auch das Wissen darüber, wer welche Güter am günstigsten herstellen kann…Jeweils geht es um vorläufige Ergebnisse menschlicher Problemlösungsversuche…” Die Neoklassik, so Wohlgemuth, würde dagegen Irrtümer oder Fehleinschätzungen von vornherein ausschließen. Und darin hat er recht. Was ihm aber offensichtlich nicht in den Sinn kommt, dass beide Theoriestränge auf die eine oder andere Art längst erfolgreich die Politik erobert haben und die Menschen sich aufgrund entsprechender Gesetzgebungen permanent in eine Welt gestellt sehen, die sie den “vorläufigen Ergebnissen des Marktprozesses” aussetzt und zu ständiger Suche zwingt, diese Suche sich aber leider allzu häufig nicht lohnt. Zum Glück ist da ja aber noch die Neoklassik, die einfach annimmt, dass sich die Suche lohnt.
Wohlgemuths Artikel zeigt eindrucksvoll, dass sich nicht erst heutige, hoch angesehene Ökonomen in diesen praxisuntauglichen Theorien verlieren, sondern auch diejenigen, die sie entwickelt haben. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur ökonomischen Klassik und zu ihren merkantilen Vorgängern: Ihre herausragenden Vertreter haben immer ein praktisches Problem vor Augen gehabt, das sie theoretisch zu lösen versuchten. Hierüber gab es immer noch und gibt es bis heute genug zu streiten, methodisch, theoretisch und historisch, immer zusammengedacht, versteht sich. Das gilt auch für Theoretiker wie Preobrashenski und Bucharin, Keynes und Kalecki, List oder Stützel, um nur an die oben angezeigten großen Debatten bzw. Werke in der Volkswirtschaftslehre anzuknüpfen. Was aber die oben aufgegriffenen Passagen von Hayek und Wohlgemuth deutlich machen ist nicht nur, dass diesem Strang der Wirtschafts-”Wissenschaft” der praktische Gegenstand verloren gegangen ist, sondern die daran Beteiligten diesen durch einen hypothetischen Gegenstand ersetzt haben. Wohlgemuth: “Jeweils geht es um vorläufige Ergebnisse menschlicher Problemlösungsversuche, um ´Hypothesen´, die auf falliblem Wissen beruhen, dessen Richtigkeit sich im Wettbewerbsprozess erst noch herausstellen muss.” Das aber ist ökonomische Esoterik, keine Wissenschaft.
Auch die anderen Autoren – mit Ausnahme von Peter Rosner (man sollte allerdings bei einem Buchpreis von über 70 Euro erwarten dürfen, dass es eine deutsche Übersetzung des Textes bietet) – greifen sich Themen isoliert heraus, die, so eng gefasst, nicht geeignet sind, die Wirtschaftswissenschaft voranzubringen. Das liegt in meinen Augen vor allem daran, dass sie Trennlinien ziehen, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Theorie und Ökonometrie, zwischen einer eher mathematisch ausgerichteten und einer eher hermeneutischen Wirtschaftswissenschaft, bzw. entsprechende theoretische Auseinandersetzungen oder Abhandlungen durch diese Folie analysieren. Unter welchen historisch-ökonomischen Voraussetzungen aber jene unterschiedlichen Denkweisen, Methoden, Theorien entstanden sind, wird nicht deutlich. Das aber gleicht dem Fahren eines gut gefederten und schallisolierten Hochpreissegment-PKWs über jahrhundertealtes Kopfsteinpflaster. Man merkt es gar nicht und fährt einfach drüber hinweg. Jetzt muss man sich nur noch die Verkehrsschilder wegdenken und schon hat man “theoretisch” freie Fahrt. Oder, anders ausgedrückt, wie es in der Einleitung des Buches durchaus vielsagend heißt: “Der lokale Organisator Harald Hagemann sorgte für ein intellektuell beflügelndes Ambiente im sonnendurchfluteten Wasserschloss von Hohenheim.” Dort mag der Inhalt des Buches auch hinpassen, der realen Welt, in der den Menschen das Wasser immer häufiger bis zum Hals steht und dunkle schwarze Wolken den Alltag verdunkeln, erweist es keinen Dienst.
Schriften des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Die Ökonomik im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Alte und neue Perspektiven im Licht des jüngsten Methodenstreits, Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXVIII, herausgegeben von Heinz D. Kurz, 194 Seiten, Berlin, 2014, Druckausgabe: 74,90 Euro; E-Book: 67,90 Euro, Druckausgabe & E-Book: 89,90 Euro.
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