Alltag im Regierungsviertel: Mindestlohn – deutsche Gewerkschaften im Irgendwo

Gestern war es einmal wieder soweit. Meine vierbeinige Kollegin und ich streiften mittags durch das Berliner Regierungsviertel. Den Schiffbauerdamm hinauf, von der S-Bahn-Station Friedrichstraße kommend.

Vor der Luisenstraße stoße ich auf ein Grüppchen, das vor einem Bus mit der Aufschrift “Mindestlohnexperten” steht. Sie scheinen im Aufbruch begriffen. Da ich hier zuhause bin, weiß ich natürlich sogleich, worum es geht. Kommt man nämlich aus der entgegengesetzen Richtung sieht man neuerdings ein riesiges Transparent, das die gesamte abschließende Wand des Endhauses einnimmt. Eine “rote Kelle”, wie sie den Rasern im Straßenverkehr vertraut sein dürfte, zeigt darauf an: “Kein Lohn unter 8,50 Euro/H”.

Auf der facebook-Seite der “Mindestlohnexperten” ist dazu zu :

“Mindestlohn-Experten Deutschland Tour 2014: Wir kommen zu dir, in deine Stadt!

Heute haben Michaela Rosenberger von der NGG und Frank Bsirske von ver.di den Startschuss für die Mindestlohn-Tour gegeben. Die beginnt noch im Mai und führt durch ganz Deutschland. Vor Ort klären Euch Menschen über die Nachteile der Schlupflöcher auf, die selbst von den Ausnahmeregelungen bedroht sind. Weitere Infos dazu folgen!”

Frank Bsirske ist schon weg. Schade. So begnüge ich mich, den verbliebenen Anwesenden im Vorbeigehen zu sagen: “Sie wissen aber, dass 8,50 Euro nicht existenzsichernd sind.” “Irgendwo müssen wir ja anfangen”, erhalte ich zur Antwort. Ich sage, mich noch einmal umdrehend: “Das stimmt. Aber von 8,50 Euro hätten die Gewerkschaften sich schon längst fortbewegen müssen.”

Schon 2010, als die Gewerkschaften begannen 8,50 Euro Mindestlohn zu fordern, lag dieser unter dem von Eurostat für Deutschland festgestellten Niedriglohnschwellenwert. Seitdem haben die Gewerkschaften ihre Mindestlohnforderung nicht dem gestiegenen Verteilungsspielraum angepasst. Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.

Und tatsächlich bekommt die “rote Kelle” so für mich eine ganz eigene Bedeutung. Sie wirkt wie ein Symbol dafür, dass die Gewerkschaften es nicht fertig gebracht haben, ihre – noch zudem von Beginn an wohl zu niedrig angesetzte – Forderung von 8,50 Euro dem seitdem Jahr für Jahr fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Verteilungsspielraum anzupassen. Eine traurige Bilanz. Sie zeugt nicht eben von Mindestlohnexpertise.

Und an diesem Transparent muss ich nun jeden Tag vorbei. Eine Zumutung. Ich bin dann erst einmal weiter, auf die Wiese vor der Schweizer Botschaft. Da kann sich Hilka immer so richtig austoben. Meine Mittagspause ist ihre Mittagssause.

Apropos Schweiz: Die Schweizer stimmen am 18. Mai über einen einheitlichen Mindestlohn ab. Er soll nach den Vorstellungen der Gewerkschaften dort bei umgerechnet 3.250 Euro liegen. Gut, dass ich keinen Neid kenne. Aber die Schweizer gefallen mir so oder so, seitdem ich 2009 mit meiner damaligen vierbeinigen Kollegin, sie ist mittlerweile leider im hohen Alter verstorben, zu Fuß durch die Schweiz gewandert bin. Just in dem Jahr, als der Lohndrücker – er ist ein Anhänger der Agenda 2010 – und Finanzmarktliberalisierer, ach ja, und Sozialdemokrat ist er dem Hören und Sagen und eigenen Bekunden nach auch noch, Peer Steinbrück, den Eidgenossen mit der Kavallerie drohte. Die Schweizer haben uns dennoch wohlwollend aufgenommen, von jung bis alt.

2009, zu Fuß durch die Schweiz. Bald auch ein Mindestlohnparadies?

Und schon damals ging es beispielsweise den Krankenschwestern – hierzulande ein klassischer Niedriglohn-Beruf -in der Schweiz wohl deutlich besser als in Deutschland. Als ich eine solche nach dem Weg zu einer Herberge fragte, die ich für die Nacht ansteuern wollte, entwickelte sich sogleich eine angeregte Unterhaltung. Prompt lud sie mich ein bei ihr und ihrer Freundin zu nächtigen, gemeinsames Kochen und Kinobesuch inklusive. Beide Krankenschwestern. Und von dem Lebensstandard, der bei ihnen herrschte, können hiesige Krankenschwestern wohl nur träumen. Und, wenn es nach den deutschen Gewerkschaften geht, werden sie wohl auch auf unabsehbare Zeit weiter davon träumen müssen.

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