Prof. Dr. Joachim Ragnitz ist Volkswirt und stellvertretender Leiter der Dresdner Niederlassung des ifo Instituts. Am 4. Mai erschien in der “Welt am Sonntag” ein Artikel zu den “Kosten” der deutschen Einheit. In der Online Ausgabe der “Welt” war dies noch am selben Tag unter der Überschrift “Ost-Förderung – Deutsche Einheit kostet 2.000.000.000.000 Euro” nachzulesen. Der Deutschlandfunk und andere Medien griffen diese Botschaft auf (siehe dazu in der Einleitung hier). Ich habe den Ansatz der Beteiligten, auf die sich die “Welt” bezieht (das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung [DIW], das Dresdner ifo Institut und der Forschungsverbund SED-Staat), wiederum noch am selben Tag kritisch aufgegriffen (siehe ebenda, vollständiger Beitrag nur im Abonnement). Als schließlich noch ein Streit zwischen Joachim Ragnitz und Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat über die Höhe der “Kosten” der Einheit ausbrach, habe ich dies zum Anlass genommen, noch einmal in einem für alle Leserinnen und Leser kostenfrei verfügbaren Artikel meine grundsätzliche Kritik an dem Ansatz der beteiligten Forscher zu formulieren (siehe hier). Gestern nun hat Joachim Ragnitz auf meine Kritik reagiert und der Redaktion seinerseits Erläuterungen zum Thema gesendet, die wir mit seinem Einverständnis unten wiedergeben. Sie sind auch mit Ergebnis eines längeren E-Mail-Dialogs, der sich gestern zwischen uns über das Thema entwickelte. Ich bedanke mich auch an dieser Stelle für diesen Gedankenaustausch. Denn es ist genau diese Diskussionskultur, die Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung sich wünscht und befördern möchte – gerade, wenn die Auffassungen so grundsätzlich auseinandergehen. Sie soll zum Nachdenken anregen und zur Prüfung der eigenen Positionen. Die Überlegungen von Joachim Ragnitz haben mich in diesem Fall zwar in meiner zuvor formulierten Kritik eher bestätigt. Aber zu einer guten Diskussionskultur gehört in meinen Augen immer auch, unterschiedliche Auffassungen, sind sie einmal ausgetragen, stehen lassen zu können. Wichtig ist nur, dass die Auseinandersetzung die Überlegungen den Leserinnen und Lesern wie den Diskussionsteilnehmern selbst besser verständlich macht, damit sie sich ein vollständigeres Bild vom diskutierten Gegenstand machen können.
Unten nun die Erläuterungen von Joachim Ragnitz (ABL steht für alte Bundesländer; NBL steht für neue Bundesländer); ich habe gegenüber einigen Aussagen von ihm immer noch Einwände, die aber zum einen bereits in meinen zuvor dargelegten Überlegungen enthalten sind; zum anderen laden die Erläuterungen von Joachim Ragnitz ja eventuell noch andere Ökonomen ein, den Gegenstand an dieser Stelle weiter zu diskutieren. Ich bin Joachim Ragnitz sehr dankbar für seine Erläuterungen, und dass er sich auf diesen Gedankenaustausch eingelassen hat, was ihn in meinen Augen als Wissenschaftler auszeichnet.
Florian Mahler
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Lieber Herr Hild,
Ihre Kritik zielt offensichtlich darauf ab, dass ich (gilt sinngemäß dann auch für Schroeder und das DIW) die üblichen Zahlungsbilanzzusammenhänge nicht berücksichtigt hätte. Es gilt natürlich: Kapitalimport (also Transfers nach Ostdeutschland)=Leistungsbilanzdefizit der Ost-Länder. Letzteres wäre die DIW-Zahl. Dem muss zwangsläufig ein Kapitalexport=Leistungsbilanzüberschuss der übrigen Welt gegenüberstehen; da haben Sie natürlich recht mit Ihrer Kritik. Dieser Kapitalexport ergibt sich – was Westdeutschland angeht – aus den Transfers (erbracht durch in ABL erwirtschaftete Steuern/Beiträge+Defizite des Staates), also Einnahmen, die der Staat dort generiert, aber nicht dort ausgibt, sondern nach NBL transferiert. Diesem Kapitalexport steht wiederum – rein saldenmechanisch stimmt das immer – ein Leistungsbilanzüberschuss gegenüber, also Güter und Dienstleistungen, die von NBL in ABL gekauft werden. (in der Realität müsste man jetzt noch das Ausland einbeziehen, aber das verkompliziert es nur und ändert nichts an den grundlegenden Überlegungen).
Das aber heißt: Kapitalimport (NBL)=Kapitalexport (ABL) und in genau gleicher Höhe auch LB-Defizit (NBL)=LB-Überschuß (ABL). Oder, mit anderen Worten: NBL bekommt Geld, auf das ABL vorher verzichtet hat, kauft dafür Güter in ABL, die dort produziert werden, aber nicht konsumiert werden können. Es gibt somit keinen positiven BIP-Effekt in D insgesamt, sofern man von irgendwelchen keynesianischen Multiplikatoreffekten einmal absieht, aber eine Umverteilung (Geldströme und Güterströme) von ABL nach NBL. Insoweit kann man durchaus auch von “Kosten” sprechen, weil der Westen ja nun (in der Realsphäre) auf etwas verzichten muss. Das sähe anders aus, wenn man Multiplikatorprozesse unterstellt, aber ob diese tatsächlich eintreten, kann man ja auch in Zweifel ziehen (der typische Exportmultiplikator aus dem Keynesianischen Grundmodell ignoriert ja den primären Einkommensentzug, der eintritt, wenn der Staat sich via Steuern die Mittel besorgt, die dem Kapitalexportüberschuss=Güterexportüberschuss zugrundeliegen).
Die beschriebenen Zusammenhänge sind im übrigen in früheren Studien von mir zum Thema schon mehrfach dargelegt worden (z.B. in Dietrich/Ragnitz/Rothfels, Wechselbeziehungen zwischen Transfers, Wirtschaftsstruktur und Wachstum in den neuen Bundesländern, IWH-Sonderheft 1/1998 sowie Blum/Ragnitz/Freye u.a., Regionalisierung öffentlicher Ausgaben und Einnahmen, IWH-Sonderheft 4/2009).
Als “Kosten der Einheit” kann man diese Transfers natürlich nicht bezeichnen (und dieser Begriff wurde so wohl auch nur in der Presseberichterstattung verwendet): Die Transfers aus dem Westen kommen ja dem Osten zugute; das Geld bleibt insoweit im Lande. Aus gesamtdeutscher Sicht ist das also “kostenneutral”. Von “Kosten” kann man also bestenfalls reden, wenn man eine rein westdeutsche Sicht zugrundelegt. Darüber sollte man nach 25 Jahren allerdings eigentlich hinweg sein.
Schöne Grüße
J. Ragnitz
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