“Zinsentscheid der EZB: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen”, hat der ausgebildete Volkswirt und Journalist Christian Rickens seinen Kommentar zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) auf Spiegel online überschrieben. Rickens kennt und versteht jedoch noch nicht einmal den Kapitalismus, dessen Ende er sich anschickt, herbeizuschreiben, wie die folgenden Aussagen von ihm belegen.
Rickens schreibt (kursive Hervorhebung, T.H.):
“Im Jahre sieben nach Ausbruch der Finanzkrise ist es langsam Zeit für die Frage: Was, wenn die vermeintliche Ausnahme in Wahrheit die Regel ist? Wenn es sich bei der Kombination aus niedrigen Zinsen, niedrigem Wachstum und niedriger Inflation, die weite Teile Europa seit 2008 ebenso im Griff hält wie die USA und Japan, um die neue Normalität handelt? Wenn das seit Jahrzehnten praktizierte westliche Wirtschaftsmodell, sich immer niedrigere Wachstumsraten mit immer höheren Staatsschulden zu erkaufen, an seinem Schlusspunkt angelangt ist?”
Der kursiv hervorgehobene Satz verkehrt die Wirklichkeit geradezu in ihr Gegenteil: In Wirklichkeit haben die politisch Verantwortlichen in der Europäischen Währungsunion (EWU) gerade nicht “immer niedrigere Wachstumsraten mit immer höheren Staatsschulden” erkauft, sondern mit einer Politik, die gerade einseitig auf sinkende Staatsschulden setzt. Der vornehmlich über staatliche Ausgabenkürzungen angestrebte Defizit- und Schuldenabbau der öffentlichen Haushalte, hat die ohnehin schwache Wirtschaftsentwicklung nach Ausbruch der Finanz- und Eurokrise erst richtig in die Depression getrieben. Wir haben dies erst vor zwei Tagen auch empirisch nachgezeichnet (siehe dazu hier, vollständiger Beitrag nur im Abonnement). Rickens verkennt zudem, dass die USA und Japan, bei allen auch in diesen Länder zu verzeichnenden Schwierigkeiten, deutlich höhere Wachstumsraten erzielten als die EWU. Diese unterschiedliche Entwicklung zeigt sich besonders ausgeprägt seit 2011, dem Jahr, indem die politisch Verantwortlichen in der EWU auf die oben skizzierte, extrem restriktive Wirtschaftspolitik zu setzen begannen (“Rettungsschirme”), während die USA und Japan eine gegenteilige, expansive Wirtschaftspolitik verfolgten (siehe dazu auch hier, vollständiger Beitrag nur im Abonnement). Das unter jenen restriktiven Bedingungen in der EWU und dem daraus resultierenden niedrigen Wirtschaftswachstum schließlich auch die Staatsschulden weiter angestiegen sind, kann nicht verwundern: Die Staatseinnahmen sinken aufgrund der schwachen bzw. rückläufigen wirtschaftlichen Aktivität, und selbst die Staatsausgaben lassen sich bei allem Radikalismus, den die Regierenden hierbei an den Tag gelegt haben und weiterhin an den Tag legen, nur bedingt senken, wollen die Regierungen nicht noch stärkere Proteste von den drangsalierten Menschen riskieren.
Wenn Rickens schreibt:
“Das negative Vorzeichen (ein negativer Einlagezins seitens der EZB für die Geschäftsbanken, T.H.) würde zum sichtbaren Symbol für eine Realität, die in Wahrheit längst eingetreten ist. Denn nach Abzug der mageren Inflationsrate, bedeuten auch die jetzigen EZB-Zinssätze bereits Monat für Monat Kapitalvernichtung.”
Dann übersieht er, dass die eigentliche “Kapitalvernichtung” ganz woanders stattfindet: Der durch die staatlichen Ausgabenkürzungen und Lohnsenkungen verursachte Nachfrageausfall hat die Kapazitätsauslastung der Unternehmen gesenkt und hält sie davon ab zu investieren, sei es, weil die Banken ihnen aufgrund der unsicheren Entwicklung keinen Kredit geben, sei es, weil die Unternehmen gar keinen Grund darin sehen, bei ohnehin nicht ausgelasteten Kapazitäten und einer unsicheren Wirtschaftsentwicklung, verursacht nicht zuletzt durch den weiter forcierten Konsolidierungskurs, zu investieren. Wenn aber alle ihr Geld zusammenhalten, weniger ausgeben, als sie einnehmen, also sparen, wie es erst gestern der Chef des Sparkassenverbandes, auch ein Volkswirt, stellvertretend für viele Verantwortungsträger erneut eingefordert hat, dann stellt sich zuallerst die Frage, wer denn diese Ersparnisse aufnehmen soll? Wer diese Frage zu beantworten weiß, ist der Aussichtslosigkeit der gegenwärtigen Situation schon ein gutes Stück näher gekommen. Wer aber wie Rickens nicht einmal Ursache und Wirkung richtig unterscheiden kann, dem wird das wohl kaum gelingen.
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