Der folgende Beitrag von Martine Orange ist am 19. August 2014 in der Pariser Online-Zeitung Mediapart.fr erschienen. Der französische Originaltitel lautet: “Crise économique: l’urgence du débat et de l’imagination”. Der Artikel erschien fünf Tage vor der Frangy-Rede des französischen Wirtschaftsministers Montebourg, die zu dessen Entlassung aus dem Amt führte. Martine Orange ist Mediapart-Wirtschaftsredakteurin. Gerhard Kilper hat ihren Text vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Änderungen im deutschen Übersetzungstext wurden von der Autorin autorisiert.
Die Debatte ist beendet, bevor sie überhaupt begonnen hat. Denn Ministerpräsident Manuel Valls schließt noch vor der morgigen ersten Ministerrunde nach der Sommerpause für die in einen Schockzustand verfallene Regierung jeden Wechsel des eingeschlagenen Regierungskurses aus. “Die Politik, die der Präsident verfügte, benötigt für greifbare Resultate Zeit. Eine Kursänderung ist ausgeschlossen. Der beschlossene Pakt gesellschaftlicher Verantwortung mit geplanter Absenkung der Arbeitskosten um 40 Mrd. Euro wird jetzt in Kraft gesetzt…“ warnte Valls in einem Interview mit dem Journal de Dimanche am 17. August 2014. Gleichzeitig sprach er einigen linken Kabinettsmitgliedern für deren „unverantwortliche Äußerungen” seine Missbilligung aus.
Die eingeschlagene Linie der Regierungspolitik ist also unabänderlich fest gezurrt, ungeachtet der von Deflation und Ansteigen der Arbeitslosigkeit geprägten wirtschaftlichen Situation. Denn: was einmal verabschiedet und der EU-Kommission als Beschluss vorgelegt wurde, muss eingehalten werden. Da die weiteren Stabilitätspakt-Verpflichtungen, besonders die Absenkung des Budgetdefizits, nicht einzuhalten sind, fühlt sich die Regierung verstärkt unter Druck, abgegebene Versprechen zur Arbeitskostensenkung und zur Ausgabenreduktion einzuhalten. In den Fluren der Regierung kursiert die Meinung, zumindest die versprochene Arbeitskosten-Absenkung müsse für Frankreichs Glaubwürdigkeit eingehalten werden.
Ökonomen haben eigentlich schon alles gesagt, wie man diesen von liberaler Ideologie geprägten Plan einzuschätzen hat. In seinen Le Monde- Meinungskolumnen prangerte der Ökonom Philippe Askenazy schon ab April den Verantwortungspakt als riesigen Transfer, als systematisch betriebene Gießkannenberieselung zugunsten der Unternehmen an. Der Transfer werde in Gang gesetzt, ohne sich vorher um konkrete Zielsetzungen oder um Gegenleistungen gekümmert zu haben. Im Unternehmensbereich böten sich naheliegende Überprüfungs- und Neufestsetzungsmöglichkeiten an, so für begünstigende Nischen mit – nach Feststellung der Steuererhebungsbehörde – einem Volumen von jährlich 150 Mrd. Euro.
Die Regierung hätte trotz der Klagen der Unternehmen über Gewinnmargen und Finanzierungsmöglichkeiten zumindest verlangen können, staatliche Finanzhilfen nicht Aktionären zugute kommen zu lassen. Bei der Mittelverwendung scheinen Unternehmen völlig freie Hand zu haben. Nach einer Studie von Henderson Global Investors stiegen die ausgeschütteten Dividenden europäischer Gesellschaften im zweiten Trimester dieses Jahres um 20% im Vergleich zur gleichen Periode des Vorjahres an und übertrafen die Summe von 115 Milliarden Euro. Dabei stehen französische Unternehmen mit einer 30%-igen Ausschüttungs-Steigerung an der Spitze.
Niemand macht sich groß Illusionen über das Schicksal des Verantwortungs-Paktes. Für viele ist der Pakt gestorben, bevor er überhaupt mit Leben erfüllt wurde. Der Arbeitgeberverband Medef antizipiert sein Scheitern schon und erklärt, die Maßnahmen der Regierung genügten nicht. Pierre Gattaz, Medef-Präsident, legte jetzt einen neuen Maßnahmenforderungskatalog vor. Nach dem Motto des “immer mehr” wurde nichts vergessen: Öffnung der Geschäfte sonntags und abends, Abschaffung der Transaktionssteuer und aller Lohnnebenkosten für Lehrlinge, Absenkung der Kapitalanlagen-Besteuerung, Revision vereinbarter Sozialstandards, Vereinfachung von Abläufen im sanitären und Gesundheitsbereich und natürlich Subventionen für den Bausektor. Nach Medef würde die Umsetzung des Maßnahmenkatalogs 400 000 bis 680 000 neue Stellen schaffen. Obwohl der Arbeitgeberverband schon Inhalte seines neuen Forderungskatalogs durchsickern ließ, wird so getan, als ob man vor einer endgültigen Festlegung noch zögere. Der Verband überlegt, den Forderungskatalog erst auf der für den 27. und 28. August vorgesehenen Medef-Sommeruniversität vorzulegen.
Das Eingeständnis, in diesem Jahr noch nicht die Budgetdefizit-Ziele einhalten zu können, bringt die Regierung unter Druck. Leute in gesellschaftlichen Leitungsfunktionen setzen auf die EU-Kommission. Diese solle die Regierung zur Ordnung zu rufen und sie zur Umsetzung der berühmt-berüchtigten „strukturellen Reformen“ zwingen, für deren Verabschiedung man sich bisher noch nicht endgültig entscheiden konnte. Ohne Erwähnung schon beschlossener Reformen verlangen einige Ökonomen, Frankreich müsse den “Mut aufbringen”, das zu tun, was Spanien und Portugal schon realisierten. Sie verlangen einen “guten” Austeritätsplan mit zwingenden Einschnitten bei Löhnen, Renten, Sozialleistungen, Leistungen im Gesundheitswesen und Bildungsbereich, sowie die Abschaffung des bestehenden Arbeitsrechts. Das benötige Frankreich, um für vergangene Sünden zu büßen und auf den rechten Weg zu gelangen.
Die EU-Kommission scheint diese Analyse zu teilen, auch wenn sie das nicht offen sagt. Mario Draghi, der Präsident der europäischen Zentralbank äußerte schon, sollte Italien zum dritten Mal seit der Finanzkrise einen Rückfall in die Rezession erleiden, könne es nur mit sich selber ins Gericht gehen. Denn zu diesem Rückfall könne es nur kommen, weil Italien bisher nicht die erwarteten “strukturellen Reformen” beschlossen und umgesetzt habe (wahrscheinlich sieht Draghi die Lage Frankreichs genauso). Der Präsident des italienischen Ministerrates, Matteo Renzi, erwiderte ihm, hätte er seine Arbeit als Zentralbanker korrekt erledigt und entsprechend seinem Mandat die vereinbarte Inflationsrate von 2% eingehalten, wären die zu lösenden Aufgaben für Italien und ganz Europa sehr viel leichter.
In einer Zeit, in der die ganze Eurozone in einer deflationären Spirale gefangen ist, loben europäische Repräsentanten in höchsten Tönen weiterhin den Erfolg ihrer Politik. Wenn ihnen alle Fakten nicht Recht geben, verdrehen sie zur Verteidigung ihrer seit sieben Jahren durchgesetzten orthodoxen Politiklinie die Realität. Trotz aller Zahlen, die jeden Monat immer deutlicher eine Verlangsamung der wirtschaftlichen Aktivitäten belegen, wird nun seit Monaten ohne Ende die Rückkehr des Wirtschaftswachstums in Europa angekündigt. Doch die Zahlen der letzten Woche belegen: die ganze Eurozone befindet sich inzwischen durch Stagnation im Zustand wirtschaftlicher Lähmung. Die deutsche Volkswirtschaft als europäisches Vorzeigemodell steht nicht besser da als die italienische und schrumpfte im dritten Trimester um 0,2%. Eine Erklärung für die vorhersehbare Kontraktion der Eurozonen-Wirtschaftsleistung ist auch schon vorbereitet: geopolitische Risiken, der Krieg in der Ukraine und die Spannungen mit Russland.
Sackgassen und mögliche Lösungswege
Es scheint unmöglich, öffentlich anzuerkennen, Europa habe nun schon seit so langer Zeit wirtschafts- und finanzpolitisch den falschen Weg eingeschlagen. Notfalls stimmt die EU-Kommission, wie zurzeit, Lobgesänge auf Spanien an, für sie der Beweis, dass Austeritätspolitik günstige Wirkungen zeitigt. Das Land kommt wieder auf die Beine, die Wirtschaft ist im zweiten Trimester um 0,6% gewachsen. Doch welche Bedeutung hat ein solches Wachstum, wenn das Bruttosozialprodukt nach drei Jahren Austeritätspolitik um mehr als 10% geschrumpft ist? Wie soll man die Wohltaten eines 25%-igen Falls von Löhnen und Renten auf den Beschäftigungsgrad erklären, wenn 25% der Bevölkerung arbeitslos sind? Kann man von Erfolg sprechen, wenn 53% der Jungen arbeitslos und manche von ihnen zum Exil verdammt sind? Oder wenn die Schattenwirtschaft nach Schätzungen schon 20% aller wirtschaftlichen Aktivitäten des Landes ausmacht – mit allem was dies für gesellschaftliche Spaltung, für Gewalt, Drogen und Gesetzlosigkeit (“Gesetz der Stärkeren”) bedeutet?
Sind solche Verhältnisse das versprochene europäische Modell: strukturelle Massenarbeitslosigkeit begleitet von einer Mafia-Wirtschaft? Wahr ist, dass sich die EU-Kommission damit abzufinden scheint. Um eine besseres Bild von den wirtschaftlichen Aktivitäten ihrer Mitgliedsländer zu vermitteln, empfiehlt sie, auch Einkommen aus Drogengeschäften und Prostitution in die jährliche BIP-Rechnung mit einzubeziehen. Italien, Belgien und England haben schon angekündigt, sich diesem Rechenmodus ab dem Jahr 2015 anzuschließen.
In einem bitteren Leitartikel schrieb die New York Times: “Niemand braucht sich wundern, dass die Wirtschaft der Eurozone wieder einmal dabei ist, unterzutauchen. Das ist ein leicht vorhersehbares Resultat falscher Politik, auf die sich die Regierenden Europas versteift haben – trotz aller Beweise, dass die Mittel ihrer Politik falsch sind.”
In den USA machen sich die Verantwortlichen wegen des möglichen wirtschaftlichen Crashs in Europa große Sorgen und weisen bei jeder Gelegenheit auf die Notwendigkeit eines Kurswechsels der europäischen Politik hin. Die Finanzwelt kommt ihnen zu Hilfe und fordert eine unkonventionelle Politik der europäischen Zentralbank, was heißt, diese solle, wie die amerikanische Zentralbank Fed, neue Milliarden Zentralbankgeld dem Bankensektor zur Verfügung stellen.
Ärgerlich dabei ist, dass diese Art Geldpolitik des leichten Geldes allein, d.h. ohne Abstimmung mit einer antizyklisch betriebenen Lohn-, Haushalts- und Steuerpolitik auch nicht viel bessere Ergebnisse bringen kann. Japan befolgte diese Mono-Strategie und ein dicker Teppich des Schweigens umhüllt die letzten wirtschaftlichen Resultate Japans. Trotz zusätzlicher Milliarden Zentralbank-Yen auf den Geldmärkten bzw. in den Taschen der Banken konnte kein anhaltender Investitionsboom ausgelöst werden und die japanische Wirtschaft schrumpfte im zweiten Trimester dieses Jahres um 6,8%. Zur Rechtfertigung des Misserfolges wird vorgebracht, Steuererhöhungen hätten den Konsum und damit die Konjunktur einbrechen lassen. Jedenfalls scheint das Abenomics-Experiment, allein mit einer undifferenziert und unkonditioniert betriebenen Geldpolitik aus der nun zwei Jahrzehnte andauernden Deflation herauskommen zu wollen, seinem Ende entgegen zu gehen.
Selbst der viel gepriesene Aufschwung in den USA muss bei genauer Betrachtung nuancierter gesehen werden. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit von mehr als 10% der aktiven Bevölkerung auf jetzt 6,8% ist nur teilweise richtig. Amerikaner, die wieder in Arbeit kamen, übernahmen oft Tätigkeiten in schlecht bezahlter Teilzeitarbeit. Und mehr als 7,5 Millionen amerikanische Arbeitnehmer sind auf der Suche nach Vollzeitarbeitsplätzen. Schlimmer noch, während die amerikanische Bevölkerung jährlich um mehr als zwei Millionen wächst, sank gleichzeitig die Zahl der Aktiven von 65% auf 62% der Bevölkerung. Die Erklärung hierfür: immer mehr Leute verzichten auf Arbeitssuche, sind aus den Statistiken verschwunden und halten sich mit Zufallsarbeiten oder magerer Sozialhilfe über Wasser.
Nutznießer der freizügigen Geldpolitik der amerikanischen Zentralbank waren auch spekulative Finanzgeschäfte betreibende Banker … Niemals kannten die Börsenmärkte solche Hochs, während gleichzeitig die realen Investitionen als Motoren der Weltwirtschaft am Boden lagen. Niemals auch waren die Reichen so reich, wie Studien von Oxfam und selbst Forbes zeigten. Und niemals war die Verteilungsungleichheit zwischen der Welt des Kapitals und der Welt der Arbeit dermaßen groß …
Sieben Jahre nach dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise führt jedenfalls die mit leidenschaftlichem Eifer durchgesetzte europäische Austeritätspolitik in eine ausweglos erscheinende Sackgasse. Aber auch eine undifferenziert betriebene Politik des leichten Geldes, ohne Regularien und ohne Abstimmung mit anderen wirtschafts- und finanzpolitischen Instrumenten kann keine konjunkturelle Wende bringen.
Da sich die Weltwirtschaft im Gefolge der aktuellen Politik heute auf unbekanntes Terrain zubewegt, ist es höchste Zeit, Platz für ein Umdenken und für eine Umorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu machen. Die politisch und ökonomisch Verantwortlichen können uns die Massenarbeitslosigkeits-Dauerkrise nicht weiter als vorübergehenden Unfall vermitteln. Die von der Politik nicht eingestandene ökonomische und soziale Transformation im Gefolge einer einseitig neoklassisch ausgerichteten Politik dauert nun schon vierzig Jahre an. Dutzende Millionen Menschen, die nach 1974 geboren wurden, erlebten und erleben Arbeitslosigkeit als den ihr Leben begleitenden “Dekor”.
Das von der Regierung geplante Kurieren an Symptomen – hier eine Prämie für die Schaffung von Arbeitsplätzen, dort eine 10%-ige Steuersenkung für die ärmsten Haushalte – kann keine zufriedenstellende Antwort auf wachsende Ungleichheit, auf eine jetzt in Frankreich fünf Millionen Menschen treffende Arbeitslosigkeit und auf die Armut von mehr als 8 Millionen Bürgern sein. Auch Ermahnungen an Deutschland, den Kurs seiner Politik zu ändern, können nicht ausreichen. Wie sollte ausgerechnet Deutschland mit seiner verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse und seiner Reallohnabsenkungen hinnehmenden Lohnpolitik die Eurozone aus der Deflationsspirale herausholen können?
Auf die heutigen gesellschaftlichen, ökologischen, technologischen und ökonomischen Herausforderungen gibt es keine leichten und keine einfachen Antworten, dermaßen anspruchsvoll und groß sind sie geworden. Um sie anzugehen, ist es jedenfalls nicht mehr möglich, sich einer Politik automatischer Steuerung mit Allerweltsrezepten und „magischen“ Ziffern anzuvertrauen, die oft als Referenz vorgebracht werden (aber für anstehende Probleme keinerlei Bedeutung haben). Die Debatte muss eröffnet werden, alle Fragen müssen ohne Tabus auf den Tisch kommen. Wenn ein Land in Deflation und Massenarbeitslosigkeit versinkt, kann es sich nicht den Luxus erlauben, einfach zur Tagesordnung überzugehen.
Seit Beginn der Krise nahmen sich Think-tanks, gesellschaftliche Organisationen und Ökonomen der Probleme an und zeigten Lösungen auf, so zur Staatsverschuldung, zur Geldpolitik, zur europäischen Architektur, zu Steuerparadiesen, zum Problem der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, zum Gesellschaftsmodell. Und jedes Mal gelang es den etablierten ökonomischen Kräften und ihrer Lobby, alle Vorschläge zu ersticken, so dass als Hauptergebnis am Ende überhaupt keine Veränderung herauskam. Die Politik setzte überall Denkverbote durch, will die eingefahrenen Geleise der aktuellen Politik nicht verlassen. Sie will nicht über makroökonomische Interdependenzen zwischen Lohn-, Finanz- und Geldpolitik, über Kontrollen und Regulierungen des Finanzsektors, über fiskalische Redistribution, Verteilungsungleichheiten oder über europäische Verträge offen diskutieren. Doch genau diese Problemfelder unterminieren unsere Gesellschaften!
Im jetzigen Zeitpunkt des offenkundigen Misserfolgs bisheriger Politik muss versucht werden, in den Köpfen verankerte Denkverbote aufzuheben, um sich neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dieser Aufgabe müsste sich die Regierung annehmen anstatt zu versuchen, mit aller Gewalt jede Debatte zu beenden. Denkt die französische Regierung wirklich, sie könne durch willfährige Anpassung an vorgegebene Rezepte das Schlimmste vermeiden? Dieses Schlimmste wird auf die eine oder andere Weise dann eintreten, wenn sich Politiker für Beharren und Defätismus, für eine Politik des „jeder für sich“ statt für das Gemeinwohl entscheiden. Wenn sich Politiker weigern, eine Debatte mit der Gesellschaft zu führen und es für nutzlos halten, gangbare Wege in die Zukunft zu entwerfen, haben sie sich als Politiker aufgegeben.
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