Zwei dicke, schwere Zeitungen füllten am Sonnabend den Briefkasten vor dem Haus. So dick und schwer waren sie, dass ich sie nur mit Mühe herausnehmen konnte, ohne sie zu beschädigen. Und wie gut, dass mir eben dies dennoch gelang. Womöglich wäre die Zeitung sonst gerade an der Stelle eingerissen, die dem geläufigen Wort Schlagzeile eine ganz wörtliche Bedeutung gab.
Nämlich ein Schlag für viele, die, ob studiert oder nicht studiert, ob mit Ausbildung oder ohne Ausbildung, ob bereits im Niedriglohnsektor beschäftigt, sonst schlecht bezahlt oder gleich ganz arbeitslos, händeringend nach einer Möglichkeit suchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder auch nur aufzubessern. In Ostdeutschland ist der Anteil der Menschen an der Bevölkerung, die das betrifft, besonders hoch. Laut dem aktuellsten Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit beträgt die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland 9,4 Prozent. In Westdeutschland sind 5,9 Prozent aller zivilen Erwerbspersonen arbeitslos. Noch höher liegt die Arbeitslosenquote der abhängigen zivilen Erwerbspersonen (voll sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte, Beamte, Arbeitslose). In Ostdeutschland beträgt diese 10,6 Prozent, in Westdeutschland 6,6 Prozent. Noch einmal höher fällt die Arbeitslosenquote aus, wenn man die so genannte Unterbeschäftigung zugrunde legt, also die Personen berücksichtigt, die an entlastenden Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik teilnehmen oder zeitweise arbeitsunfähig erkrankt sind und deshalb nicht als arbeitslos gezählt werden. Die Bundesagentur für Arbeit meint: “Damit wird ein umfassenderes Bild vom Defizit an regulärer Beschäftigung in einer Volkswirtschaft gezeichnet.” In Ostdeutschland beträgt die Quote 12,5 Prozent, in Westdeutschland 7,5 Prozent. Hinzu kommt, dass in Ostdeutschland ein noch höherer Anteil der Arbeitslosen von Hartz IV (SGB II) betroffen ist, als in Westdeutschland. In Ostdeutschland sind es 74 Prozent, in Westdeutschland 66,2 Prozent.
Was dies für Brandenburg bedeutet, ist im “Regionalen Sozialbericht Berlin und Brandenburg 2013″ nachzulesen: “In Brandenburg sind sogar zwei Drittel (68,8%) aller Langzeiterwerbslosen von Armut gefährdet…Seit 1996 hat sich die Armutsgefährdungsquote der Langzeiterwerbslosen in Brandenburg praktisch verdoppelt (1996: 33,1%; 2012: 68,8%). Damit konnten die Brandenburger Langzeiterwerbslosen an der allgemeinen Einkommensentwicklung in den neuen Bundesländern nicht teilhaben.”
Wenn das keine “Manövriermasse” für Arbeitgeber ist, was dann? Und als ein wahrer Meister des Manövrierens hat sich jetzt die nach eigenen Angaben mit 646.270 Exemplaren “auflagenstärkste Wochenzeitung im Land Brandenburg” erwiesen. Auf einem roten Stoppschild, das direkt oben auf der Titelseite, rechts neben dem Namen der Zeitung prangt, heißt es: “Deine Chance! 300 Minijobs zu vergeben! Mehr dazu auf Seite ??” Na, wieviele LeserInnen daraufhin wohl erwartungsvoll den “BlickPunkt” durchgeblättert haben, den sie sonst eventuell aufgrund seines hohen Werbeanteils und nach meinem Dafürhalten wenig ergiebigen inhaltlichen Gehalts gar nicht erst aufgeschlagen hätten? Endlich, da ist sie, meine Chance, werden sich viele unmittelbar gedacht haben. Und dann noch so vertraut: “Deine Chance!”
Geht´s noch zynischer? Aber klar! Im “BlickPunkt” jedenfalls. Denn wenn man sich erst einmal durch die diversen, für diese “Wochenzeitung” sicherlich äußerst lukrativen Anzeigen-Prospekte durchgewurstelt hat, stößt man auf ein noch größeres Stoppschild, in dem es heißt:
Die darin erwähnte Bezahlung auf der “Grundlage Mindestlohn für Zeitungszusteller” ist insofern der blanke Hohn, als dass hier mit dem Wort Mindestlohn eine vernünftige Bezahlung suggeriert wird. Abgesehen davon aber, dass nicht einmal der jetzt von der Bundesregierung beschlossene Mindestlohn von 8,50 Euro Existenz sichernd ist, darf der “Mindestlohn” für Zeitungszusteller dank der sozialdemokratischen Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, und ihrer großkoalitionären MitstreiterInnen auch 2015 noch 25 Prozent unter diesen nicht Existenz sichernden Mindestlohn von 8,50 Euro gedrückt werden. Und auch 2016 darf er immer noch um 15 Prozent darunter liegen. Bis die Zeitungszusteller dann im Jahr 2017 8,50 Euro bekommen sollen. Mir ist jedenfalls keine andere “Grundlage Mindestlohn für Zeitungszusteller” bekannt. Wenn es eine gäbe, hätten Verlag und Vertrieb doch auch sicherlich damit geworben! Der frühere Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitik beim Bundesvorstand des Deutschen
Gewerkschaftsbundes (DGB) in Berlin und heutige hessische SPD-Bundestagsabgeordnete Hans- Joachim Schabedoth meint dennoch, dass Andrea Nahles für den Mindestlohn ein Denkmal verdient hätte (siehe dazu hier).
Vielleicht hätte den an der Anzeige Interessierten schon sogleich eine Warnung sein sollen, dass der “BlickPunkt” seine Leserschaft im Allgemeinen zu siezen scheint. Heißt es doch unter dem Titel: “Ihre Zeitung zum Wochenende”. Für das in der Anzeige gewählte Duzen könnte sich indessen das im Sprachratgeber des Duden wie folgt bewertete als zutreffend erweisen: “Von wirklich schlechten Manieren zeugt es allerdings, wenn ein Ranghöherer Rangniedrigere ungefragt duzt oder wenn Angehörige bestimmter Berufsgruppen grundsätzlich geduzt werden.”
Zuständig für den Vertrieb des “BlickPunkts” ist die DVB GmbH, die auch auf ihrer Internetseite um ZeitungszustellerInnen wirbt. Voraussetzung: “Keine Angst vor Mäusen” (wie locker und originell!) und: Mindestens dreizehn Jahre alt, zuverlässig und verantwortungsbewusst.” Der ebenda zu lesende Werbeslogan von DVB: “Wir sorgen dafür, dass Sie in Brandenburg ankommen.” Bis zur Lektüre dieser Wochenzeitung hatte ich meine Ankunft hier eigentlich als sehr idyllisch empfunden: Die Menschen, offen und freundlich; die Landschaft wunderschön. Aber dank des “BlickPunkts” und der DVB habe ich nun auch die ersten Schattenseiten Brandenburgs entdecken müssen – was mir die Freude an den Menschen und der Umgebung hier natürlich nicht nehmen kann; im Gegenteil: umso bewundernswerter doch, dass die Menschen sich dennoch ihre Freundlichkeit und Offenheit bewahren. Ich habe übrigens jetzt dreimal schon die in der Anzeige angegebene Nummer minutenlang klingeln lassen (um 10 Uhr 2, 10 Uhr 16 und 10 Uhr 32). Herangegangen ist niemand! Vielleicht sind ja bereits alle Stellen vergeben, oder die Telefon-Leitung und das am anderen Ende sitzende Personal ist so überlastet, dass kein Durchkommen möglich ist.
Mehr Hintergrund zum Mindestlohn/Zeitungszusteller hier.
—
Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung finanziert sich ausschließlich über Abonnements und Spenden. Noch sind diese nicht Existenz sichernd. Guter Journalismus muss bezahlt werden, um zu überleben. Deswegen:
Abonnieren Sie Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung oder spenden Sie bitte an:
Sie können helfen, unseren Leserkreis zu erweitern!
Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.
————————————————————-
Dieser Text ist mir etwas wert
|
|