Konjunktur/Deutschland/Herbstprojektion der Bundesregierung: Gabriel versteht Arbeitsmarkt nicht

Die heute vom Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel vorgestellte Herbstprojektion hält hinsichtlich der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts wenig überraschendes bereit. Wie schon die Wirtschaftsforschungsinstitute in der vergangenen Woche (siehe dazu hier), korrigiert auch das Bundeswirtschaftsministerium seine Wachstumseinschätzung für das laufende Jahr nach unten. War das Ministerium im Frühjahr noch von 1,8 Prozent Wachstum ausgegangen, sind es jetzt nur noch 1,2 Prozent. Anstatt aber das niedrige Wirtschaftswachstum zu problematisieren und mögliche wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, verlässt sich Gabriel auf “die gute Verfassung des Arbeitsmarkts” als “zentrale Triebkraft für die binnenwirtschaftliche Dynamik”. Wie zuletzt schon Andrea Nahles verwechselt Gabriel dabei Ursache und Wirkung. Seine Erläuterungen erklären auch, warum.

So meint Gabriel:

“Die gute Verfassung des Arbeitsmarkts ermöglicht ordentliche Lohnsteigerungen.”

Zu dieser Aussage kann Gabriel nur gelangen, weil er eine steigende Erwerbstätigkeit und einen daraus resultierenden “Beschäftigungsrekord” mit einer “guten Verfassung des Arbeitsmarkts” gleichsetzt. Offensichtlich hat Gabriel verdrängt, dass seit der Agenda 2010, zu deren Befürwortern Gabriel bis heute zählt, eine steigende Beschäftigung gerade nicht mit ordentlichen Lohnsteigerungen einhergeht. Die Agenda 2010 hat es umgekehrt zu Voraussetzung erklärt, dass steigende Beschäftigung mit “Lohnzurückhaltung” erreicht wird. Mit einer hierauf zielenden Gesetzgebung (Hartz IV) haben die Bundesregierungen seitdem einen der größten Niedriglohnsektoren weltweit geschaffen.

Der Bundeswirtschaftsminister sollte zudem um die tiefe Kluft wissen, die zwischen der Zahl der Arbeitslosen (Arbeitsangebot) und der Zahl der offenen Stellen (Arbeitsnachfrage) liegt. Solange die Zahl der Arbeitslosen die Zahl der offenen Stellen millionenfach übersteigt (im September betrug die Differenz 2.289.489), kann sich der Arbeitsmarkt nicht in einer “guten Verfassung” befinden. Auch ist dies keine Basis für “ordentliche Lohnsteigerungen”.

Grundsätzlich gilt dann auch, in Anlehnung an Gabriels Worte: Die binnenwirtschaftliche Dynamik ist die Triebkraft für eine gute Verfassung des Arbeitsmarkts, nicht umgekehrt. Die binnenwirtschaftliche Dynamik sorgt aufgrund ihrer überragenden Bedeutung für das Wirtschaftswachstum dafür, dass die Zahl der offenen Stellen (Arbeitsnachfrage) steigt. Die Zahl der Erwerbslosen (Arbeitsangebot) sinkt, sofern die Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts (Erwerbstätige*Arbeitsproduktivität) höher ausfällt, als die Zuwachsrate des potenziellen Bruttoinlandsprodukts  ([Erwerbstätige+Erwerbslose]*Arbeitsproduktivität) (siehe dazu unsere regelmäßigen Berechnungen zum angemessenen/nicht angemessenen und zum notwendigen Wirtschaftswachstum, zuletzt hier [vollständiger Beitrag im Abonnement]).

Die Hoffnung auf eine angemessene binnenwirtschaftliche Dynamik aber hat Gabriel gerade gedämpft, indem er das Wachstum der Inlandsnachfrage jetzt nur noch bei 1,4 Prozent sieht. Im Frühjahr waren es noch 1,9 Prozent. Gewiss 2013 waren es nur 0,7 Prozent, und 2012 ist die Inlandsnachfrage gar um 0,9 Prozent gesunken. Noch ist ja auch nicht sicher, ob der seit Mai dieses Jahres unterbrochene Aufwärtstrend der deutschen Konjunktur tatsächlich einen Wendepunkt nach unten einleitet (siehe dazu unsere Konjunktureinschätzung hier [vollständiger Beitrag im Abonnement]). Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es jedoch, sich abzeichnenden Gefahren für die Konjunktur rechtzeitig zu begegnen. Hierzu sollten Konjunktureinschätzungen dienen, nicht zum Hin- und Herschieben von Nachkommastellen.

Entscheidend für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist aber nicht nur das rechtzeitige Erkennen des wahrscheinlichen Konjunkturverlaufs, sondern das Verständnis über die dieser Entwicklung zugrundeliegenden ökonomischen Zusammenhänge. Gabriels Erklärungen heute sprechen nicht eben dafür, dass er und sein Ministerium entsprechend problemorientiert arbeiten.

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